Archiv für die Abteilung 'Erzählungen'

Indian Summer, c/o Hamburg (2): Trugbild

Mittwoch, 24. Oktober 2012 23:14

Was bisher geschah.

Je näher das Rotkehlchen dem Ahorn kam, desto mehr staunte es über die Pracht und den Glanz des mächtigen Baums. Es hörte den Wind durchs gelbrote Laub rauschen und brausen und bildete sich ein, das seien die Verdauungs-
geräusche des gewaltigen Artgenossen. Weil die Manteuffelstraße menschenleer und der Omnibus, der Robins Neugier geweckt hatte, längst durchs Tor der Militärakademie verschwunden war, gab es für den Vogel nur eine Erklärung: Der Ahorn hatte alle Fußgänger und Autos, die hier sonst unterwegs waren, verschlungen. Mit Maden und Larven würde der Gigant sich kaum satt essen können. Robin empfand bei dieser Erkenntnis solchen Stolz auf den Ahorn, auf sich selbst und auf seine Gattung im allgemeinen, daß er am liebsten gesungen hätte. Aber dafür fehlte ihm beim Torkeln durch die quirlige Luft leider der Atem. Es wurde Zeit zu landen.

Robin umkreiste den Ahorn einmal und noch einmal und hoffte, daß der Baum ihm irgendwas sagen würde. Erst als das Rotkehlchen die letzte Kraft aus den Flügelchen schwinden fühlte, hörte es im Geraschel und Geprassel der Blätter diese Worte: „Schlauköpfchen, willst du‘s kuschelig haben? Schau, schau, hier ist‘s traulich zum Sitzen, ziemlich lauschig auch, rasch, husch rein!“ Kaum zwei Sekunden später klammerten Robins grashalmdünne Krallen sich an eine der astdicken Federn seines neuen besten Freundes, und weil der Vogel so erschöpft war, konnte er „Danke“ nur denken, nicht sagen.

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Indian Summer, c/o Hamburg (1): Erscheinung

Mittwoch, 24. Oktober 2012 0:54

Für Frau Freitag

Kurz nach zwei machte sich Robin, das Rotkehlchen, das eigentlich Lothar hieß, auf den Weg zur Militärakademie. Der Wind blies nicht mehr so stark wie am Vormittag, und endlich schien wieder die Sonne. Zwar sind Rotkehlchen wetterfester als sie aussehen. Doch bei Böen und Schauern haben sie lieber Gebüsch um sich herum, statt durch die Gegend zu flattern. Wenn man bloß so viel wie ein Brief mit Marke wiegt – und das bestenfalls nach dem Mittagessen –, dann wird fliegen in schwerem Wetter zu einer riskanten Angelegenheit. Sogar ein Abenteurer wie Robin hob unter solchen Bedingungen nur in Notfällen ab.

Er legte mehrere Pausen auf Dachrinnen, Schornsteinen, Astspitzen ein, plusterte das Gefieder auf und ließ sich von der Herbstluft fönen. Robin war vom Regen der vergangenen Tage klamm bis auf die Haut, und das gefiel ihm nicht besonders. Außerdem mußte er überlegen, ob er wirklich zur Militärakademie wollte. Er wurde das Gefühl nicht los, daß ihn dort eine gewaltige Blamage erwartete. Und so was brauchte er jetzt gar nicht. Die Suche nach Futter und einem trockenen Plätzchen kostete derzeit schon genug Kraft und Nerven.

Seine Taubenkumpel hatten tags zuvor sehr geheimnisvoll getan: „So was hast du noch nie gesehen“, hatte der General gesagt. Auf Robins Erwiderung, er habe alles schon mindestens zweimal gesehen, hatte der General mit dem Schnabel geklappert – Tauben lachen so – und sein Adjutant, der Oberst, gegurrt: „Wollen wir wetten? Wenn du verlierst, mußt du für uns eine Woche lang Körner suchen. Und wenn wir verlieren – was garantiert nicht passiert – beschützen wir dich eine Woche lang vor Robert, der Rabenkrähe.“ Und Robin, der der Meinung war, es heiße „nachdenken“, weil man das Denken danach tut, hatte sofort eingeschlagen.

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Timmi und die Arkonigel (7)

Samstag, 11. August 2012 19:20

Was bisher geschah.

Die Igelin legt sich ins Gras und ruht aus vom Jagen und Fressen. Sie hört den Nachtwind in den Blättern schnüffeln und schnieft leise mit. Dann verzieht sie die Schnauze, weil in der Manteuffelstraße irgendein Idiot versucht, mit seinem Auto die Schallmauer zu durchbrechen. Marion kann Autos nicht leiden. Wie alle vernünftigen Igel schaut sie mindestens dreimal nach links und viermal nach rechts, bevor sie eine Straße überquert. – Ihr wißt ja, warum trotzdem immer wieder Igel zwischen Reifengummi und Asphalt geraten. Wenn ihr es vergessen haben solltet, blättert bitte zurück zum Anfang des ersten Kapitels und stört nicht die anderen, die im Gegensatz zu euch aufgepaßt haben und wissen wollen, was als nächstes geschieht. Danke!

   Es wird kühler, und die alte Buche, unter der Marion liegt, entspannt sich mit einem Knacken. Da ertönt aus der Tiefe, weit unten von der Elbe, ein gewaltiger Laut. Er klingt, als riefe das größte Tier der Welt nach seinen Freunden und als wüßte es schon beim Rufen, daß niemand ihm antworten wird. Marion hat diesen Ton schon oft gehört, und wie jedes Mal wird ihr seltsam zumute, während das ungeheure „Booo-uuuh“ in ihren Öhrchen vibriert. Wenn Igel weinen könnten, würde sie es jetzt tun. Statt dessen beißt sie die Zähne fest zusammen und stellt die harten Haare halb auf. Sie hat tatsächlich ein bezauberndes Stachelkleid, da kann man Timmi nicht widersprechen.

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Timmi und die Arkonigel (6)

Dienstag, 31. Juli 2012 21:45

Was bisher geschah.

Etwa zur selben Zeit tut ein anderer Igel, genauer gesagt: eine Igelin, das, was Igel in der Abendstunde normaler-
weise tun. Sie schnuppert mit ihrer hübschen Nase, die sich
wie ein Finger biegt und streckt, nach Leckereien und läßt sich nichts entgehen, was zu einem gesunden Frühstück gehört. Sie beginnt mit drei makellos mehligen Motten-
maden, findet anschließend eine Kreuzspinne, deren acht Beine angenehm den Gaumen kitzeln, und spürt etwas später eine Dämmerungsparty von Ohrwürmern auf, der sie ein grausiges Ende bereitet.

   Ohrwürmer sind bekannt dafür, ständig Partys zu feiern. Und selbst-
verständlich können Igel einer solchen Ansammlung von Naschzeug nicht widerstehen. Die Ohrwürmer wären also gut beraten, beim Feiern zurückhaltender zu sein, möchte man meinen. Sie sehen das freilich anders. Gerade weil der Tod ihnen jederzeit auflauert, möchten sie wenigstens in netter Gesellschaft sein, wenn‘s passiert.

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Timmi und die Arkonigel (5)

Mittwoch, 11. Juli 2012 21:00

Was bisher geschah.

Zweites Kapitel
In dem Marion sich sorgt, Robert einen Rat und Eddie Sprachunterricht erteilt

Timmi zuckt im Schlaf und plustert die Fellstacheln auf. Er grunzt und schnaubt, dann wälzt er den Wanst so heftig herum, daß es im Laubhaufen raschelt wie eine Windbö. Vielleicht träumt der Igel etwas Aufregendes? Von Weltraumraketen, die einen Schweif aus Atomfeuer hinter sich herziehen, und von Monddünen, die im Sternenlicht glitzern? Möglich. Es kann jedoch genauso gut sein, daß er eine nicht so gesunde Kellerassel gefressen und deshalb Bauchschmerzen hat. Wir werden es nie erfahren. Weil Igel hauptsächlich im Dunkel leben, können sie zwischen Traum und Wirklichkeit noch schlechter unterscheiden als Menschen. Wenn man sie fragt, was sie neulich geträumt haben, dann antworten sie meistens: „Wie bitte? Geträumt?“

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Timmi und die Arkonigel (4)

Montag, 2. Juli 2012 14:22

Was bisher geschah.

Zum Glück war die Wunschfee noch nicht erwacht. Hätte sie mitgekriegt, was Timmi begehrte, und ihn auf den Mond gezaubert, es wäre dem Igel schlecht ergangen. Denn dort oben braucht man besondere Kleidung – einen sogenannten Raumanzug –, um atmen zu können und nicht zu erfrieren und um sich auf den spitzen Kratersteinen keine Schrammen in die Pfoten zu laufen. Diese Grundkenntnisse eines Weltraumreisenden fehlten Timmi noch. Major Rhodan und seine Mann-
schaft saßen ja in der „Stardust“-Rakete und fragten sich, was soeben mit ihnen passiert war. Hätte Timmi weiterblättern und von dem ersten Ausflug der Astronauten in die Mondwüsten lesen können, wäre er viel schlauer gewesen.

   Der Amselmann pfiff jetzt ein furchtbar kompliziertes Thema aus „Aaron und Moses“. Das war über die technische Meisterschaft hinaus um so erstaunlicher, weil der Vogel diese Oper von Arnold Schönberg gar nicht kannte. Timmi versagte dem Amselmann allerdings die Bewun-
derung. Er knurrte statt dessen ein schlimmes Wort, das ich nicht weitersagen darf, weil ich mir sonst Ärger mit euren Eltern einhandle. Timmi schmerzten die Öhrchen von den Zwölftönen, und weil es rasch heller wurde, immer mehr auch die Äuglein. Für einen Moment gab er dem grell gellenden Vogel in seiner Eiche die Schuld daran, daß die Sonne aufging. „Wie soll sie gemütlich liegenbleiben“, dachte der Igel, „wenn dieser Schreihals dermaßen rumkrakeelt?“ Dann merkte Timmi, daß er Quatsch zusammendachte, und kümmerte sich um die Dinge, die rasch getan werden mußten.

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Director’s Cut (3): Mein schönstes Endspiel

Sonntag, 1. Juli 2012 19:00

Die Serie „Director‘s Cut“ versammelt Texte von mir, die bereits vor Jahren, aber nie in ihrer ursprünglichen Form erschienen sind. Hier sind sie endlich so zu lesen, wie sie mal gedacht waren, bereichert um Szenen oder Exkurse, die einst an den Grenzen des Layouts scheiterten, beschnitten um Sätze und Formulierungen, die dem Autor heute eher peinlich sind. Für jede Neupublikation gibt es einen Grund – heute ist es das Endspiel um die Europameisterschaft 2012.

 

DER BESSRE GEWANN!
WM-FINALE 1986 – EINE EPOPÖE

  

ERSTER GESANG
Singe den Sieg, o Göttin, der
argentinischen Stiere,

Stimme uns ein mit Lauten der
Freude auf das Versagen,
Kläglich, verdient und allen
willkommen, die Schande der
deutschen
Truppgurken, wie sie sich zutrug
im Endspiel der Weltmeister-
schaft im
Jahre Acht-Sechs zu Mexiko-Stadt,
der sonnenerhitzten
Herrlichen Perle des Hochlands!
Und singe, o Göttin, vor allen
Lob dem begnadetsten Spieler, so
jemals gelebt und getreten
Und wie der Sturmwind getragen
den Ball übers Feld, ach, Diego,
Strammester, ach, aller Strammen, Gewitztester, ach, der Gewitzten,
Ach, Maradóna! Nicht wen‘ger denn drei teutonische Klötze
Band jenen Tages, es war Ende Juni, Dein magischer Fuß, Dein
Unwiderstehlicher Antritt, und ihre Namen verwehte,
Bliese hinweg der Wind der Geschichte, wären sie nicht durch
Dich für immer verewigt: Matthäus und Förster und Jakobs.

Wohl – ein Tor, Maradóna, war Dir nicht vergönnt in dem Glanz des
Estadio Aztéca vor einhundertzehntausend Menschen, frenetisch
Alles bejubelnd, was Du nur tatest, und wie erst ein Goal von
Dir, ach, Diego! Dumm aber, taub und wahrscheinlich auch blind sind
Jene, die meinen, Du habest rein gar nichts gerissen an diesem
Tage. Vergessen, verleumdet haben die dreisten Idioten
Dein berückendes Zuspiel, den tödlichen Paß auf, Moment, auf
J. Burruchága, acht Minuten vor Abpiff, der Schuß und
Drei-Zwei! Der Titel! Die Krone der Welt! Doch Einhalt, o Göttin,
Sprich Deiner Laute und meiner! Uns fehlet die Stimme des Mannes,
Welcher vom Klappstuhl, geklemmt zwischen Mikro und Ohrknopf,
erbebend
Aussprach die Schmach der germanischen Elf. Wir rufen Rolf Kramer.

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Timmi und die Arkonigel (3)

Dienstag, 26. Juni 2012 18:01

Was bisher geschah.

Die Neugier ließ Timmis Stacheln geradezu bibbern. Deshalb war er gar nicht beleidigt, als Konrad – dem gute Manieren, wie gesagt, abgingen – ein „Tschü“ pfiff, die Nagezähne in den Stinkekäse bohrte und mit seinem Festmahl davon-
tippelte. Timmi sagte, kaum höflicher: „Man sieht sich.“ Er sah dem Mäuserich aber nicht mal hinterher, und er hörte auch nicht das Schmatzen und die Laute des Behagens, die bald darauf aus der Matschecke bei der Regentonne ertönten.

   Timmi wollte nichts dringlicher, als mit der Lektüre zu beginnen. Nun fragt ihr euch sicherlich, wie Igel es fertigbringen, in der Dunkelheit zu lesen. Für euch ist das kein Problem: Ihr habt eine Nachttischleuchte und für ganz spät, wenn Mama einen Gutenachtkuß auf die Backe gedrückt und das Licht gelöscht hat, eine Taschenlampe. Aber so ein Igel besitzt ja nicht mal eine Steckdose! Dazu müßt ihr wissen, daß die kleinen Schnief-
nasen im dunkeln viel besser sehen können als wir. Das ist auch gut so, denn im hellen tun ihnen die Augen weh wie unsereins bei Neuschnee in der Antarktis. Und weil es für Igel keine Sonnenbrillen gibt, wachen sie am liebsten bei Nacht und schlafen am Tag.

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