Deutsche Leibkultur (3): Nachtisch

Deutschland_auf_dem_Grabbeltisch_(c)_Kay_Sokolowsky


Wer das Gewinnen, nein, Siegen so gewohnt ist, daß er bei Fußballturnieren am liebsten „Ssieg!“ schreit (mit einem gepaukten „Rumms-rumms-rummspapapa-rumms“ vorweg), dem fällt das Verlieren verständlicherweise nicht so leicht wie, sagen wir mal, den Anderen, also allen, die nicht wir Deutsche und deshalb allesamt geborene Verlierer sind. „Ssieg!“ ist dem Deutschen in den Charakter gestempelt wie der Geschmack, von dem hier neulich die Rede war, oder das Seelische, um das es vor knapp einer Woche hier
ging.

Wo andere bloß jammern können, da hat der Deutsche Grund zu klagen. Denn weil ihm, dem geborenen Ssieger, Niederlagen gar nicht passieren können, ist er, so er doch verliert, stets Opfer von Schicksal und/oder Verrat. Gleichwie ihm 1918 ein Dolch in den Rücken stach und 1945 ein verrückter Führer ihn, den Deutschen, in den Untergang verleitete, hat bei der Halbfinalpleite gegen den Franzos am 7. Juli 2016 nicht etwa Schweinsteiger seine Hand im Spiel gehabt, sondern – dies wurde von mir bereits am 4. Juli prophezeit – der welsche Halunke Rizzoli. Und zwar im Verbund mit seinem bigotten Landsmann und Kollegen Collina, diesem Typen, der vor jeder Live-Übertragung der EM 2016 durch Paris geradelt ist und für „Respect“ geworben hat im Schatten des Eitel-, pardon: Eiffelturms. Was ist denn das für ein Respekt, wenn der amtierende Globalchampion („Die Nummer eins der Welt sind wir!“) sich pfeifen lassen muß von einem Typen, der beim WM-Finale 2014 Manuel Neuer für eine klare Tätlichkeit gegen Higuain nur deshalb nicht des Platzes verwies, weil jener tückische Typ, Rizzoli, uns Deutsche in Sicherheit wiegen und zwei Jahre später um so fieser foppen wollte? Und weshalb eigentlich ist ein Südländer Obmann der Euro-Schiedsrichter? Warum nicht gleich ein Israeli? – Das wird man ja noch fragen dürfen als Fan der Mannschaft, die Null-Zwei verlor, obwohl sie bierglasklar „die bessere“ (J.iLöw) war.

In sämtlichen deutschen Online-Foren, ob bei Zeit.de, Spiegel online oder Herrenmensch.org wird jedenfalls ohne falsche, „politisch korrekte“ Rücksicht der Faden aufgenommen, den der Spinner Waldemar Hartmann nach dem Spiel in Marseille bei „Markus Lanz“ hingeworfen hat:

Du kannst [den Elfmeter] geben. Aber ich würde ihn in der 44. Minute eines EM-Halbfinals nicht geben. Punkt. […] Ich habe mich schon gefragt, was in die [Verantwortlichen für die Auswahl des Schiedsrichters] gefahren ist […] Das macht bei der Uefa Collina, der teilt die ein. Wir haben die Italiener rausgehauen, und er teilt Rizzoli ein.

Und warum? Damit die Italiener nachträglich das Viertelfinale gewinnen? So was kann ja echt nur den Spaghettis einfallen; das ist fast so lächerlich wie deren Überzeugung, sie hätten den Faschismus erfunden und die Deutschen ihn bloß kopiert! Aber erst die Deutschen haben überhaupt kapiert, was ein ordentlicher Faschismus ist! Wie zum Beispiel die Tweets belegen, die Bernhard Torsch in einem Posting für sein Weblog „Der Lindwurm“ gesammelt hat. (Doch Obacht – Sie sollten schon imstande sein, einen Vierzentnerknödel zu fressen, um bei diesen Kurznachrichten aus der deutschen Seele sich nicht die Seele aus dem Leib zu kotzen.)

Zunächst wollte ich an dieser Stelle eine lange Sammlung all der vaterländischen Kommentare veranstalten, die sich mit Rizzoli und der Verschwörung wider die deutsche Supertruppe befassen, aber mittlerweile denke ich, daß sich der Zorn der größten Sportsfreunde aller Zeiten von selber versteht. Darum belasse ich es bei einem Beispiel, das ziemlich ideal fürs Ganze, Integrierte, wahnwahrhaft Deutsche steht (gefunden bei Zeit.de):

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Denn wenn wir Deutsche was nicht abkönnen – neben gutem Essen oder gutem Verlieren – dann ist es zweifellos das Imitieren hübscher Einfälle. Deutsche bleiben da lieber beim „Ssieg!“ und machen sich selbst was vor. Sonst würden sie ja ihre Seele einbüßen (oder ihre ungeteilte Begeisterung für die Pizza Hong Kong City) und damit den: „Ssieg!“

Aber ich will nicht unfair sein. Es gab neben dem selbstverliebten Geschwafel von J. Löw („Wir hatten ne unheimlich gute Körpersprache, ne machtvolle Körpersprache“), den Verschwörungstheorien der deutschen Sportsfreunde und dem ahnungslosen Gefasel von aberhundert eingebetteten Sportjournalisten über den „unverdienten“ Sieg Frankreichs auch den ebenso nüchternen wie sehr verständigen und unbedingt lesenswerten Kommentar des FAZ-Journalisten Michael Horeni über die seltsame Autoglorifizierung des Bundestrainers und die nicht wirklich sportliche Haltung vieler seiner Schützlinge. Oder des Spiegel online-Mitarbeiters Marcus Krämer kluge und sachgerechte Analyse der Pfiffe bzw. Nichtpfiffe von Nicola Rízzoli.

Der sportlichste, zivilisierteste Moment dieses von beiden Parteien nicht besonders gut gespielten Halbfinals jedoch fand etliche Minuten nach dem Abpfiff in der Kabine der DFB-Auswahl statt, und seine beiden Protagonisten haben eine Hautfarbe, die Protonazis wie der Störchin und ihren Followern als Indiz für Zivilisationsferne dient. (Wahrscheinlich ist das Video von Collina und seinen rachsüchtigen Mafiafreunden inszeniert worden. Ich werde die Foren von Spiegel online und Zeit.de auf entsprechende Spekulationen im Blick behalten und bestimmt welche finden. Könnte jetzt schon vier Zentner Knödel erbrechen.)

Vielleicht wird das Filmchen in 20, 30, 100 Jahren (unter hoffentlich gereifteren Vertretern der Spezies) als Beleg dafür dienen, daß es neben lauter Unholden, die sich so widerlich selbstgerecht und haßerfüllt und pissig wie die ächten Deutschen nach einem verdient verlorenen Fußballspiel verhalten haben, auch Menschen gibt, sogar deutsche, wie den großartigen Fußballspieler Jerome Boateng, die es einfach nur schön und tröstlich gefunden haben, daß andere Menschen, wie der großartige Fußballspieler Paul Pogba, sie zu respektieren wissen und es sagen, von Bruder zu Bruder, via Instagram und YouTube hinein in die Welt.

5 Kommentare

  1. 1

    „Sport ist Vorbereitung zum Krieg.“ Peter Ustinov

    Ausnahme: Taschenbillard. KS

  2. 2

    Aber das YouTube-Filmchen beweist es doch ganz und gar bierglasklar: Es war nicht nur welsche Hinterlist, die Deutschland zu Fall brachte, zu allem anderen Übel existierte offensichtlich auch noch eine hinterhältige Neger-Verschwörung gegen den verdienten deutschen SSieg!
    Schlechter Scherz bzw. deutscher Dolchstoß-Dumpfsinn beiseite: So viele Worte hättest du gar nicht machen müssen über die erwartbaren Emanationen besagten Dumpfsinns. Das hübsche Ausverkaufs-Bildchen eingangs sagt ja eigentlich schon alles. Und es macht sogar ein bißchen Hoffnung. Mindestens soviel wie die undeutschen Kommentare der beiden vaterlandslosen Gesellen Krämer & Horeni.

    Ich wollte gar nicht so viele Worte machen, aber ich wäre anderenfalls an ihnen erstickt. KS

  3. 3

    Der ganze Tonfall der Nachberichterstattung im deutschen Fernsehen war unerträglich. Selbst wenn der Schiedsrichter mal nicht kritisiert und ausnahmsweise nicht behauptet wurde, die deutsche wäre die bessere Mannschaft gewesen, klang das mit. So habe ich mehrere „Analysen“ des herrlichen 2:0 gesehen, die völlig ohne Erwähnung der französischen Spieler auskamen: Da führte der Fehler von Kimmich zum Pass, die mißglückte Abwehr durch Neuer zur Vorlage und das Zuweitvommannstehen Schweinsteigers zur Schußgelegenheit – und dabei kein einziges Wort von dem herrlichen Trick Pogbas oder der Genialität, mit der Griezmann den Ball mit der Sohle drückt, um Neuer zu tunneln. Nein, daß jemand anders „uns“ schlagen kann, kommt ja überhaupt nicht in die Tüte; wenn schon, waren wir das auch selber. (Oder natürlich die italienische Schiedsrichter-Mafia.)

    Den Punkt habe ich leider vernachlässigt; vielen Dank für die Ergänzung! KS

  4. 4

    Panzergranatengrader Abstoß in die untere rechte Ecke! Ekel-Elfmeter gegen den ewigen Dunkeldeutschen („der Deutsche“), dessen verbale Erniedrigung des Erbfeindes den inhärenten Genozidzwang demaskiert? Waldemars Phantomschmerz nach Schnäuzer-Rasur?
    Nur Pogbas Bruder gut? Schluchz …
    Respekt für diese stets andere Sichtweise, die ich immer mal wieder lesen muß.
    PS. Wunderbar effizient, wie die Seleção Portuguesa die zeitweise haushoch überlegen spielenden (und damit an das vorherige Spiel gegen die Germanen erinnernden) Bleus gestutzt hat!

    Nö, ein Guter ist nicht nur Pogbas Bruder; das habe ich auch nirgends behauptet. Zum Glück gibt es sehr viele Deutsche, die denselben Ekel wie ich vorm schlechten Verlieren und dröhnenden Ssieggeschrei haben. Bitte auf die Adjektive in meinen Polemiken achten! Den Respekt nehme ich freilich dankend entgegen; ist ja nichts Selbstverständliches. KS

  5. 5

    Das deutsche Wesen soll im Sonderpostenmarkt genesen. Oder war’s verwesen?

    Verwesen, wenn’s nach mir geht. Übrigens war’s kein Sonderpostenmarkt, sondern ein Woolworth. KS

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