Eure Rede aber sei nein, nein

Stimmzettel für das Tsipras-Referendum

Stimmzettel für das Tsipras-Referendum

Kai Pichmann, deriseit einigen Wochen mit ebenso klugen wie angenehm zu lesenden Kommentaren dieses Blog bereichert, schrieb mir zu Beginn der Woche aus dem Auge des Hurrikans, der wahrscheinlich die Europäische Union zerschmettern wird, diese interessanten Zeilen:

Ich bin übrigens immer noch in Athen. Hier wehen inzwischen keine Tränengasschwaden mehr durch die Straßen, wie ich es von früheren Aufenthalten her kenne, und es werden auch keine Bankfilialen-Schaufenster mehr eingeworfen von wütenden jungen Anarchisten. Die Banken sind ja seit eben geschlossen, und die Anarchisten sind wahrscheinlich alle grad im Urlaub oder einfach furchtbar gelangweilt von den Sorgen der kleinen Leute um ihre kargen Euro-Ersparnisse. Und so lümmelt die örtliche Polizei vor ihren blauen Bussen herum, spielt mit ihren Smartphones und langweilt sich auch fast zu Tode. Die kleinen Leute langweilen sich nicht, die vertreiben sich die Zeit mit genervtem Schlangestehn vor den Geldautomaten und heben an Euros ab, was sie haben kriegen können und (derzeit noch) kriegen dürfen.

Und obwohl dieses schöne Land seit fast 20 Jahren so was wie meine zweite Heimat ist und ich mich vor Ort ein wenig auskenne, hab ich inzwischen so gut wie keine Ahnung mehr, was ich den kleinen Leuten hier wünschen sollte; abgesehen von einem menschenwürdigen Auskommen, aber das versteht sich ja von selbst. Wie das allerdings in der konkreten Verfahrenheit der Situation zu erreichen wäre, ist mir unklarer denn je. Dem alerten Herrn Tsipras trau ich – Volksentscheid hin oder her – nicht über den Weg, der schäkert mir zu viel mit der Größten Kanzlerin aller Zeiten herum und kriegt außerdem ganz offensichtlich bald ein parlamentarisches Doppelkinn – sehr verdächtig!

Und die griechischen Kommunisten haben in ihrer jüngsten Politbüro-Verlautbarung unter anderem folgendes zu Papier gebracht: „Es zeigt sich, daß SYRIZA heute dem volksfeindlichen System die besten Dienste erweist (…), damit das Volk weder heute noch morgen darüber nachzudenken wagen kann, daß eine Zukunft außerhalb der heutigen Mauern der Barbarei möglich ist.“ Was die Systemkonformität von SYRIZA und die Barbarei besagten Systems angeht, haben die alten Genossen von der KKE sicher recht. Aber ist denn mit derlei trockenblumiger Parteitagsdiktion – Sie sollten mal den Rest von diesem Pamphlet sehen, da wimmelt es nur so von Volksfeinden, es kann einen wahrlich grausen! – heutzutage noch ein Töpfchen zu gewinnen, in dem was Frisches keimen könnte? Was denken Sie eigentlich über das ganze neugriechische Dilemma? Das würde mich interessieren, wenn‘s Ihre Zeit erlaubt. KP

Lieber Kai Pichmann, ich beobachte die Vorgänge in und um Griechenland ähnlich ratlos wie Sie. Daß Sie auf den Straßen von Athen vor allem Resignation und Mattigkeit bemerken, paßt zwar nicht zu dem, was die Qualitätsmedien uns weismachen. Aber ich nehme an, daß Sie der Wahrheit erheblich näher stehen als ziemlich alle Korrespondenten, die sowieso bloß erzählen, was der Intendant oder der Verleger erwarten, und meistens gar nicht vor Ort sind: Der Griechenland-Basher des ARD-Hörfunks etwa hockt im Studio Istanbul.

Wenn auf Menschen, die bereits am Boden liegen, immer weiter eingedroschen wird, wenn an Zuständen, die unerträglich sind, sich nichts ändern darf und wenn die schwache Hoffnung, das eigene Geschick wieder selbst bestimmen zu können, durch Megatonnen von Lügen, Diskriminierungen und Bosheiten zermalmt wird: Bleiben vielleicht bloß Verzweiflung und Müdigkeit übrig. Was ich an den Griechen sehr bewundere: Sie sind trotz allen Demütigungen immer noch nicht bereit, sich den Neufaschisten auszuliefern. Die Ungarn waren da weniger vorsichtig.

Ich habe kein Rezept im Ärmel, nach dem Griechenland zu retten wäre. Ichiweiß nur, wie es nicht geht. Alle wissen, daß es so nicht geht; selbst Schäuble und seine Speichellecker in der Euro-Gruppe wissen es. Und schweigen tot, auch vor sich selbst, was immer ihnen an Desaster-Diagrammen und schrecklichen Statistiken serviert wird. Denn sie sind einer Ideologie verhaftet, deren bannende Kraft alles übersteigt, was seit Überwindung des Nationalsozialismus an Blödmacherei ausgeheckt ward. Und wie alle Ideologen bzw. von der Ideologie Assimilierten scheren sich Kommissionen und Fonds und Zentralbanken und Leitmedien um Menschen und Menschenleben den Dreck, für den sie die Verlierer der Krise sowieso halten. Griechenland ist die Bettelkolonie der EU geworden, und weil die Einrichtung von Kolonien ohne Rassismus nicht zu schaffen ist, sind die Medien der Kolonialherren, unsere Medien, so voll mit hämischen und herablassenden Kommentaren über die Griechen und ihre Gesellschaft.

Ich habe kein Rezept für die Rettung Griechenlands, denn es gibt da kein richtiges außer dem einen, das der ganzen Welt gut täte: die Abschaffung des Kapitalismus. Innerhalb dieses Narrensystems können Krisen nicht anders als durch Gewalt gelöst werden. Und was „die Institutionen“, also die Handlanger des Kapitals, mit Griechenland veranstalten, ist blanke Gewalt. Rainer Trampert schrieb zu Beginn des Elends in Konkret, es gäbe für die Griechen nur einen Ausweg aus der Klemme – sie müßten fünf Jahre lang aufhören zu leben. Es wäre in der Tat ideal für die Marktdemokraten, würden diese verdammten Griechen endlich von der Erdkugel verschwinden. Die Kommentare der Mietmäuler und der maßgebenden Politiker sowie die Pöbeleien in den Online-Foren erweisen klar: Die meisten Deutschen können die Griechen nicht als Menschen sehen, sondern bloß als eine Last, die etwas Besseres als den Tod nirgendwo finden darf. Jedenfalls nicht von „unserem“ Geld, „unseren“ Steuern, „unserer“ Arbeit.

Das laufende Referendum wird entweder die Katastrophe verlängern oder eine neue auslösen – die Verachtung der Besitzenden für die Habenichtse wird es nicht ändern. Es wird leider auch nicht zu einer Demokratisierung der EU führen. Und hier komme ich zu dem Punkt, der mir in der Angelegenheit die meisten Sorgen bereitet, zu der unverhüllten Demokratiefeindlichkeit der „Euro-Rettung“ und ihrer Apologeten, zu der offenen Sympathie für autoritäre Lösungen und faschistische Diktion. Da schreibt zum Beispiel am 1. Juli nach den unfaßbar selbstgerechten Auftritten Merkels, Schäubles und Gabriels vor dem Bundestag in einem dieser unfaßbar albernen „Krisen-Ticker“ einer unserer unfaßbar dämlichen Online-Zeitungen, hier: Spiegel online, eine unfaßbare Null namens Bernd Kramer:

Merkel, Schäuble, Gabriel: Die wichtigsten Reden im Bundestag sind gehalten.

Wichtig ist nämlich bloß die Herrschaft – das Gesinde, die Opposition, findet für Figuren wie Kramer schon gar nicht mehr statt. Und am selben Abend höre ich einen Moderator des Deutschlandfunks in die übliche Quatschrunde aus Chauvinisten und Spardiktatoren fragen:

Kann die Krise ganz Europa infizieren?

In solchen Metaphern, in dieser Verachtung für demokratische Prinzipien steckt bereits der halbe Hitler. Und wahrscheinlich die Zukunft Europas. Dazu würde ich, wenn man mich fragte, allerdings auch „Oxi“ sagen. Aber mich fragt – außer Ihnen, lieber Kai Pichmann – ja keiner.

PS. Und als dieser Blogpost schon fast sendefertig ist, läuft mir bei Zeit online noch der Putschisten-Versteher und Waffenfreund Steffen Dobbert über den Weg, und das bedeutet, wie immer, daß man aufpassen muß, nicht auf einer Spur aus Schleim- und Scheißgerede auszurutschen. Dobbert, der keine Peinlichkeit ausläßt, um sich als nächster Regierungssprecher zu empfehlen, vergleicht erst mal Tsipras mit Hitler und notiert anschließend über Schäuble:

Menschen, die ihn gut kennen, nennen ihn einen „großen Europäer“. Man kann ihm also glauben, wenn er sagt und schreibt: „Wir wollen kein deutsches Europa“.

Menschen, die mich gut kennen, nennen mich einen „großen Freund der Presse“. Man kann mir also glauben, wenn ich sage und schreibe: „Ich halte Steffen Dobbert für ein Muster an Unbestechlichkeit.“

Abb.: Wikimedia commons


Sonntag, 5. Juli 2015 16:09
Abteilung: Kaputtalismus, Man schreit deutsh, Qualitätsjournalismus

Ein Kommentar

  1. 1

    Ja, er ist wahrlich ein großer Europäer, der Herr Schäuble. Ähnlich wie ein anderer großer Europäer, der einst Folgendes zu Papier brachte: „Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, wie dies aus Gründen der wirtschaftlichen Stärkung des europäischen Kontinents unbedingt erforderlich ist, so dürfen wir aus verständlichen Gründen dies nicht als eine ‚deutsche‘ Großraumwirtschaft öffentlich deklarieren. Wir müssen grundsätzlich immer nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geographischen Lage.“ Das könnte so auch im aktuellen Wirtschaftsteil von DIE WELT stehen, oder? Tut’s aber nicht. Gestanden hat’s im Mai 1940 in einer Denkschrift des alten Parteigenossen Daitz, seinerzeit unter anderem Chef der „Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft“ und Oberbereichsleiter der NSDAP. In der aktuellen Ausgabe von Die Welt, genauer: in deren Online-Wirtschaftsteil, überschrieb stattdessen jüngst der zuständige Bereichs-Oberschriftleiter Exner – noch ein großer Europäer – seinen Artikel zum Rücktritt des griechischen Finanzministers Varoufakis: „Endlich verläßt der große Brandstifter die Bühne“. Das „Leider hat man ihn nicht mehr rechtzeitig aufhängen können“, hat sich der Herr Exner wohl gerade noch verkniffen; leicht gefallen ist’s ihm sicher nicht. Schade für ihn, dass der Stürmer schon seit ein paar Dekaden pleite ist, denn dort hätte er sich nicht so zurückhalten müssen. Nun, wie’s aussieht, verlaufen die Fronten inzwischen wieder so übersichtlich wie zu Zeiten der Wehrmachtsberichte: Hier die großen (deutschen) Europäer, da die großen (ganz nach Gusto griechischen oder russischen oder jüdischen oder muslimischen) Brandstifter. Und wer da als Feind ins Fadenkreuz zu nehmen ist, begreift auch noch der allerdümmste BildWeltSpiegel-Dreckblattleser.
    „Das, was wir alle Tage hören in Rundfunk und Fernsehen, ist für mich allein faszinierend durch die Verwebung von Lüge und Wahrheit. Die Lüge ist gigantisch. Und leider scheint sie zur Zeit allmächtig siegreich zu sein. Triumphal grinst sie einen tagtäglich an und rät: Sieh ein, die Aufklärung ist gescheitert, die Ideale sind hinüber, Karl Marx ist tot!“, schrieb die Lyrikerin Eva Strittmatter Ende August 1989 angesichts der absehbaren Überwältigung der DDR durch die BRD. Ein Vierteljahrhundert später, nach etlichen anderen absehbaren Überwältigungen und angesichts der griechischen Katastrophe (die ja in Wirklichkeit vor allem die Folge einer deutschen ist) ist die Lüge übers Gigantische schon lange hinaus und mästet sich fröhlich weiter an der kolossalen Dummheit, die sie selbst immer wieder aufs Neue hervorbringt. Faszinierend find ich das nun allerdings gar nicht, eher zum Erbrechen.
    Jedenfalls haben Sie Recht: Solange das derzeit in aller Herren und ihrer Sklaven Länder so gut wie konkurrenzlos herrschende Verbrechen gegen die Menschheit in Form des kapitalverwertenden „Narrensystems“ nicht abgeschafft ist, ist Griechenland nicht zu retten und der Rest der Welt auch nicht. Noch nicht einmal Deutschland. Um letzteres wär’s allerdings nicht so furchtbar schade, wie ich in letzter Zeit immer häufiger finde. KP
    PS. Eben grad lese ich ganz oben in der Stürmer online-Kloake (oder war’s die von Spiegel online?) die Überschrift „Tsipras macht plötzlich auf Staatsmann“. Da kann man doch gar nicht so viel frühstücken, wie man kotzen möchte, oder? Gleich drunter steht da übrigens „In den Banken wird das Bargeld knapp – doch Premier Tsipras steht auf dem Höhepunkt seiner Macht.“ Daß den Banken was knapp werden und ein unbotmäßiger Regierungschef Macht haben könnte, macht ihnen anscheinend entsetzliche Angst, den dreckpfotigen kleinen Medienhürchen und ihren Zuhältern.
    PPS. Nur zur Sicherheit, daß das hier auch richtig ankommt: Als ich mich so sehr über die Spiegel online-Überschrift mit dem „Herrn Tsipras, der plötzlich auf Staatsmann macht“ ärgerte, hab ich mich natürlich nicht darüber geärgert, dass der Herr Tsipras staatsmännisches Format zeigte, sondern darüber, dass ihm die Spiegel-Schmierfinken mit dieser Formulierung unterstellten, dass er bis dato ein solches Format nie besessen haben kann.

    Lieber Kai Pichmann, seien Sie bedankt für diesen langen, klugen und angemessen wütenden Kommentar! – Ich hatte ihn tagelang auf Eis gelegt, weil ich ihn eigentlich in einem Blogpost zitieren wollte. An diesem Posting werde ich vermutlich noch einige Zeit sitzen. Wenn’s überhaupt je fertig wird. In meinem Log-Eintrag von heute habe ich die Gründe dafür genannt. Ich hoffe, daß Sie mir den etwas diktatorischen Umgang mit Ihrem schönen Beitrag verzeihen. KS

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