Somewhere under the rainbow

Für meine Otterin

In diesem Sommer, der seinen Namen nicht verdient, jedenfalls nicht hier oben auf 10° Länge/53° Breite –, in diesem elend verregneten, matschigen, farbarmen Sommer, der nur Fäulnis und Moder verbreitet und allein den Nacktschnecken, diesen Spottgeburten aus Matsch und Scheiße, behagt –, in diesem Sommer also gab es bisher nichts, was mir ein Gefühl von Sommerfrische eingab.

Doch heute abend, gegen 20 Uhr, bei der Jagd auf Pulmonata im Kleingarten, erschien dies hier am östlichen Himmel in makelloser Schönheit, und wie zum Trost für die vielen Tage ohne Sommers Glanz und Pracht sogar gleich zweifach (und natürlich hatte ich wieder bloß mein Smartphone und keine ordentliche Kamera dabei, doch die Erscheinung war majestätisch genug sogar für mindere Technik):

Regenbogen_12-07-16_(c)_Kay_Sokolowsky


Obwohl ich an Götter nicht glaube und mit jedem Jahr blinder werde fürs Blendende – das Mirakel eines Regenbogens verzaubert mich weiterhin; und läßt mich jedesmal aufs Neue verstehen, was Menschen an einen Schöpfer, ein allmächtiges Wesen hinter dem Spektralhalbkreis glauben läßt; und erinnert mich an die Angst und die Hoffnung, die Gott für mich bedeutete, als ich ganz und gar Hoffnung und Angst war, also als Kind.

Niemand hat die Ehrfurcht und die Beglückung angesichts eines Regenbogens gültiger, ergreifender in deutsche Sprache gefaßt als Herr Goethe aus Frankfurt am Main, und bevor ich mich in Exkursen über den Himmel und seine Majestät verliere, zitiere ich lieber, was – wie ich finde – jeder Mensch kennen sollte, der vor der Natur und ihren Kunststücken noch zu staunen und, bei aller nötigen Skepsis wider die Religion, sich der Bewunderung hinzugeben vermag und nun nach den Worten sucht, die dem Schauer beim Schauen einer dispersionsbedingten Himmelserscheinung gerecht werden. Hier sind sie:

Vignette_Regenbogen_01_(c)_Kay_Sokolowsky

Monate lang beglückten uns reine ätherische Morgen, wo der Himmel sich in seiner ganzen Pracht wies, indem er die Erde mit überflüssigem Tau getränkt hatte; und damit dieses Schauspiel nicht zu einfach werde, türmten sich oft Wolken über die entfernten Berge, bald in dieser, bald in jener Gegend. Sie standen Tage, ja Wochen lang, ohne den reinen Himmel zu trüben, und selbst die vorübergehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das Grün, das schon wieder im Sonnenschein glänzte, ehe es noch abtrocknen konnte. Der doppelte Regenbogen, zweifarbige Säume eines dunkelgrauen, beinah schwarzen himmlischen Bandstreifens waren herrlicher, farbiger, entschiedener, aber auch flüchtiger, als ich sie irgend beobachtet.
Dichtung und Wahrheit (1814)

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Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
Faust, Zweiter Teil (1831)

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So freut die Erde sich am Himmelsbogen,
Von farbigen Juwelen aufgebaut,
Der, wenn er schon vor unsern Augen schwindet,
Den Frieden sichert, den er angekündet.
Im Namen der Bürgerschaft von Karlsbad (1810)

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In dem Kreise meteorischer Erscheinungen mußte der seltnere, unter gleichen Bedingungen immer wiederkehrende Regenbogen die Aufmerksamkeit der Naturmenschen besonders an sich ziehen. Die Frage, woher irgendein solches Ereignis entspringe, ist dem kindlichen Geiste wie dem ausgebildeten natürlich. Jener löst das Rätsel bequem durch ein phantastisches, höchstens poetisches Symbolisieren; und so verwandelten die Griechen den Regenbogen in ein liebliches Mädchen, eine Tochter des Thaumas (des Erstaunens); beides mit Recht: denn wir werden bei diesem Anblick das Erhabene auf eine erfreuliche Weise gewahr. Und so ward sie diesem Gestalt liebenden Volke ein Individuum, Iris, ein Friedensbote, ein Götterbote überhaupt; andern, weniger Form bedürfenden Nationen, ein Friedenszeichen.
Materialien zur Geschichte der Farbenlehre (1810)

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Ihr Götter die mit flammender Gewalt
Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt
Und gnädigernst den lang erflehten Regen
Mit Donnerstimmen und mit Windesbrausen
In wilden Strömen auf die Erde schüttet;
Doch bald der Menschen grausendes Erwarten
In Segen auflöst und das bange Staunen
In Freudeblick und lauten Dank verwandelt,
Wenn in den Tropfen frischerquickter Blätter
Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt,
Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand
Den grauen Flor der letzten Wolken trennt […].
Iphigenie auf Tauris (1787)


[Zit. n. J. W. v. Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe.]


Dienstag, 12. Juli 2016 23:59
Abteilung: Ironie off, Parzelle 73, Selbstbespiegelung, Sommerfrische

11 Kommentare

  1. 1

    Du unverbesserlicher Romantiker!

    Durchschaut. KS

  2. 2

    Oh, der Eintrag ist ja noch viel schöner geworden, seit ich das letzte Mal reingeschaut habe. Ich muß mich auch zur Romantik bekennen, aber wenn schon Regenbogen, dann auch Wordsworth vs. Jandl:
    https://ubusound.memoryoftheworld.org/jandl_ernst/bist_eulen/jandl-ernst_bist-eulen_15_my_heart_leaps_up_oberflaechenuebersetzung.mp3

    Danke für das Kompliment – und noch mehr Dank für die „Oberflächenübersetzung“! Jandl war schon ein begnadeter Entertainer und eine herrliche Nervensäge. KS

  3. 3

    Lieber Kay Sokolowsky, ich traf neulich meine liebe Ex-„Schwiegermutter“, die mit Kupferkabeln experimentiert, um ihren lieben Pflanzen die Schnecken vom Stiel zu halten. Auf Kupfer haben die nämlich überhaupt keinen Bock!
    Aber Obacht: Einen einfachen Kabeldurchmesser können die ähnlich der berühmten Rasierklinge spielend überwinden (allerdings OHNE das Kabel zu berühren). Also doppelt legen. Vielleicht hilft Ihnen ja dieser Tip.
    Da nicht für…

    Lieber Karsten Wollny: Kannte ich schon, haben wir probiert. Hilft auch. ABER nur an den eingehegten Stellen. Der, na ja, Erfindungsreichtum dieser Mistviecher und zumal ihr Freßdrang ist freilich jeder freundlichen Abwehr überlegen. Nacktschnecken haben, in ihrer Hartnäckigkeit, alles Blühende zu zerstören, etwas verstörend Menschliches. Und lassen sich in toto auch von Kupfer nicht aufhalten. Bierfallen sind da schon effektiver (dazu demnächst mehr in diesem Blog). Danke für den Tip, trotzdem! KS

  4. 4

    Was den Tadel für den gerade laufenden Sommer angeht, muß ich mich outen: Auf – um Worte der wundervollen Emily Dickinson abzuwandeln – des Sonnenlichts grellen Lärm kann ich ganz gut verzichten. Der in Vorjahren gebeutelte Dachzimmerbewohner liebt die Gedämpftheit, welche Tage wie diese oftmals ausstrahlen: gerade vorhin noch das Geklimper der Tropfen eines sachten Regens in der Dachrinne, auch Symphonien von Grautönen in immer wechselnden Himmeln … Ich möchte den diesjährigen Sommer für seine – in meinen Augen – anmutige Zurückhaltung umarmen. Und falls er mal wieder auftaucht, werde ich das auch tun. – Trotzdem gut, daß es bei Ihnen nicht so ist: Denn immerhin haben wir Ihrer Mißstimmung über die jahreszeitliche Unordnung fabelhafte Formulierungen zu verdanken, von denen mir besonders das Behagen der Nacktschnecke und die Angst und die Hoffnung des Kindes gefallen.

    Ahnen Sie eigentlich, wie sehr es mich freut, einen Leser zu haben, der Emily Dickinson schätzt? (Übrigens die Lieblingspoetin des großen Dichters Stephen King.) Danke, danke für Ihren Kommentar! – Meine Präferenz für den HEISSEN Sommer hat übrigens mit meiner nichtsoguten Konstitution als Kleinkind zu tun: Der Kinderarzt empfahl, mich möglichst oft in die Sonne zu legen. Das hat sich dann wohl eingebrannt. KS

  5. advocatus gastropodae
    Freitag, 15. Juli 2016 6:38
    5

    Ha! Da haben wir’s ja bestens und am konkreten Beispiel illustriert, was die Zwiespältigkeit in der Romantik ausmacht: Mit wogendem Busen und feuchtem Aug‘ zum Himmel aufblicken, vage Göttliches erahnend, und dann quasi im selben Atemzug unschuldige Gottesgeschöpfe mit schwerstem Gerät (Kupferkabel) daran hindern, sich an ein paar Blättchen gütlich zu tun! Überhaupt nehmen hier die Anfeindungen gegen die Gattung der Gastropodae in letzter Zeit überhand. Und das, obwohl die gewaltigste Spottgeburt aus Matsch und Scheiße resp. (viel) Dreck und (wenig) Feuer ja wohl immer noch Homo sapiens heißt. Auch wenn der in der maßlosen Selbstüberschätzung der eigenen Gattung dazu neigt, wesentlich harmlosere oder wesentlich weisere Wesenheiten wie z.B. den Herrn Schneck oder den Herrn Mephisto (Faust, Teil 1, Kapitel 19) als Spottgeburten abzutun.
    Die faszinierenden Bauchfüßer jedenfalls hatten, Teufel auch!, längst zahllose Himmelsbögen und duftig kühle Schauer erfühlt, bevor der Aas- und Abfallfresser Mensch damit anfing, seine vegetarischen Sättigungsbeilagen zu züchten. Und deshalb serviere ich hier nun keinen schnöden Salat, sondern das wacklige Poem, das ich mir vor einiger Zeit als Kommentar zu den schneckenschreckenden Kommentarkommentaren in deiner vorletzten „Nachricht von Parzelle 73“ ausdachte. Und eigentlich auf meiner Festplatte begraben wollte. Aber nun grab ich es doch wieder aus, da es so aussieht, als ob hier niemand sonst eine Lanze brechen möchte für die wehrlosen Tierchen. Bitte schön:

    Passio Gastropodae
    oder
    Der Schneck im Schreck

    Am jungen Grün kaut froh der Schneck.
    Da naht ein Gärtner, zerrt ihn weg.
    Weiß glüht im Abendrot des‘ Wut:
    Nicht fressen soll, wer Schaden tut!

    Es windet sich der Gastropod
    In arger Pein und Leibesnot
    Als grober Griff vom Blatt ihn pflückt
    Sein lichtes Sein ins Düstre rückt.

    Zusammen mit den andern Schnecken
    Ein Opfer namenloser Schrecken,
    Itzt arretiert in rost’gem Eimer
    Steht’s ungut um den armen Schleimer.

    Das Schicksal, das er dulden muß:
    Wird’s bloß Exil? Gar Schnexitus?
    Nun ist’s in Gärtners Hand gegeben
    Den Tod zu bringen. Oder Leben*.

    *Also, lieber Kay: Was machst du eigentlich mit den armen Schleimern? Exilieren? Oder doch, wie ich inzwischen fürchte: ganz und gar unromantisch und gnadenlos – exekutieren?

    Lieber Kai – erst mal vielen Dank für das wirklich hübsche Gedicht! Vielleicht hast Du Dein Talent an ein falsches Objekt vergeudet, aber … Aber ich bin gewiß befangen, was diese Drecksviecher betrifft. Ich überlege mittlerweile ernsthaft, Dir ein paar Pfund unserer Gartenschnecken einzusammeln und zuzuschicken. Zusammen mit einem fetten Salatkopf, damit sie noch schön saftig sind, wenn sie bei Dir ankommen.
    Und, nein! – ich „exekutiere“ die Kriecher nicht. Ich mach sie einfach alle. („Ist in Gärtners Hand gegeben“, wie Du treffend dichtest; äüßerst treffend.) KS

  6. 6

    Ihnen hat es sich eingebrannt, mir – immerhin – leuchtet es jetzt ein. Von der Vorliebe Kings für ED habe ich nichts gewußt, danke für den Hinweis! Vielleicht ja ein Anlaß, mich, wie mir schon seit einer Weile im Kopf rumschwirrt, endlich mal wieder mit diesem großen Meister zu beschäftigen. Habe mir auch schon zwei Werke ausgeguckt (eins zum Wiederentdecken, eins, das lange an mir vorüberging, zum Neulesen).
    Nie habe ich verstanden, wie King selbst, in der ersten Phase seiner Laufbahn, als er aber durchaus schon sehr berühmt war, seine Werke sah – es gab da doch dieses damals oft gehörte, abfällige Zitat, in dem er sein Schaffen mit irgendwas Fastfoodmäßigem verglich? Da ist er zum Glück inzwischen längst viel selbstbewußter. Für eine Sache allerdings müßte ich ihn tadeln, aber das führt hier jetzt doch zu weit. Um nun jedenfalls diese Abschweifung an ihrem Ende zu fassen, sie zu krümmen und um – tja – den Bogen wieder zu schließen, hier einige Zeilen der von uns erwähnten Dame:

    Nach Unwetter – der Regenbogen –
    die Sonne – spät am Tag –
    träg zogen Elefantenwolken –
    den Horizont hinab –

    „Elefantenwolken“ … Das ist die Sorte Metapher, bei der ich ein paar Sekunden zu atmen aufhöre.
    Nun wüßte ich aber sehr gern, wofür Sie, lieber Dirk Eberhard, Mr. King zu tadeln haben (ich hätte da auch was, aber Sie waren zuerst da)? Schreiben Sie mir und den Lesern dieses Blogs das mal auf? Würde mich freuen, wirklich.
    Mich hat Ihr Hinweis auf Dickinson auch deshalb wundersam berührt, weil ich gerade dabei war, einen dicken Roman von Stephen King aufzufressen, atemlos und gierig wie fast alles, was der Maitre mir serviert. Und, ungelogen, nur ein paar Stunden, bevor Sie Ihren Kommentar einsandten, las ich in dem Schmöker das hier:

    „Schon in Ordnung, Edgar“, sagte sie. „Auch auf mich wirken Gedichte manchmal so. Ehrliche Gefühle sind nichts, wofür man sich schämen müßte. Männer heucheln keinen Anfall.“
    „Auch simulieren sie keinen Krampf“, ergänzte ich. Meine Stimme schien jemand anders zu gehören.
    Sie lächelte strahlend. „Der Mann kennt seine Dickinson, Wireman!“

    Das Buch hat auf Deutsch den empörend verfehlten Titel „Wahn“ (engl.: „Duma Key“) und mich so tief ergriffen wie eigentlich gar nichts, was in Leipzig Deutsche Bücherpreise abräumt. Es wird mich noch lange, lange in meine Träume begleiten, auch in die guten. – Ein Autor, der sich nicht wünscht, SO was selber mal hinzukriegen, versteht definitiv nichts von Poesie. KS

  7. 7

    Ich glaube es Ihnen gern, das mit dem dichterischen Zusammentreffen. Denn bei allem Danebengehen, Schieflaufen und Verpassen, bei allem Gerumpel, Gewackel und Gewürge gibt es doch ab und an eben auch solche Resonanzen, und diese Gleich- und Ähnlichklänge sind für die, die sie wahrnehmen wollen, dann womöglich auch eine Art von Poesie?
    Auf jeden Fall habe ich nun durch Sie, werter Herr Sokolowsky, eine weitere Empfehlung, und bei derart dicken Büchern bildet sich somit ja schon fast ein kleiner Dunkler Turm … – So, jetzt aber zum Allerherrlichsten, zum Rüffeln. Vorausschicken möchte ich, daß ich mich mit meiner Andeutung zunächst auf vor längerer Weile Hängengebliebenes bezog, und das gewissenhafte Recherchieren, das hätte ich mir am liebsten auch ganz erspart, und zwar nicht nur aufgrund der wunderschönsten Faulheit, sondern außerdem, um den Schwung des angenehmen Gesprächs nicht so zu hemmen. Ein bißchen im Internetz gespickt habe ich dann aber doch, und unser Autor hat, in jüngerer Zeit, seine Anschauungen zu dem, was ich hier meine, bereits relativiert, so daß ich meine Kritik sicher schon etwas zurücknehmen kann: “King believes ‚in evil‘ as well, but has spent years trying to determine if evil is inside humans or if ‚there is a force in the world that really wants to destroy us, from the inside out, individually and collectively.’” –
    Ich erinnere mich, wie diese Entdeckung eines Glaubens Kings an ‚das Böse‘ als eigenständige (personale) Erscheinung, die ich vor Jahren einige Male aufschnappte, zumal damals noch weniger durch Zweifel und Aufklärungsbemühungen abgefedert, mich schon ein klein wenig enttäuscht hat. Ich fühlte mich etwas an den Teufelsglauben unseres oft so garstigen Altpapsts B. erinnert, nebst allem weiteren Vernunftwidrigen, das sich aus solchen Anschauungen so häufig ergibt.
    Sollte ein Mensch, der mit dieser Intelligenz und bestimmt auch mit großer Erkenntnismöglichkeit und -kraft ausgestattet ist, nicht etwas tauglichere Ideen über die Welt und den Menschen besitzen?, sagte ich mir. Denn solche Gedanken und Haltungen sind doch Feinde der Aufklärung und jedes wirklichen Fortschritts, oder? Eine Erklärungsmöglichkeit wäre vielleicht die, daß ein solcher Glaube dabei helfen mag – oder dieser es erst ermöglicht? -, einen dermaßen virtuos gewaltigen Wirbel aus fürchterlischönen Welten zu erschaffen und in Gang zu halten. Ich aber frage Euch: Beginnen die wirklich tollen Geschichten nicht erst da, wo man die feine, die wesentliche, die erhabene Aufgabe angeht, das Dunkel dieser Dinge nach und nach aufzuhellen, dort nämlich, wo die Angst und der schreckliche Irrsinn irrationaler Ideologien – u.a. eben auch über ‚das Böse‘ – bezwungen sind? Und nun gehet bitteschön hin in Frieden … Doch wie gesagt, man will da gar nicht so streng sein, heute (2014) jedenfalls sagt King: “The older I get, the less I think there’s some sort of outside devilish influence; it comes from people.” Dieser letzte Nachsatz wäre übrigens eine herrliche Überschrift für viele Abhandlungen zum Thema. – So, und jetzt bin ich natürlich auch neugierig darauf, was Sie, lieber KS, am Meister denn evtl. noch auszusetzen hätten.

    Wow! Was für ein toller, kluger Text, lieber Dirk Eberhard! Ich sag dazu nicht viel. Ich muß ihn erst mal begreifen, von wegen: toll, klug! – Und bzw. aber: Ich werde mich noch ausführlich äußern. Aber erst mal muß ich diese wunderbare Eruption verarbeiten. Danke dafür!
    Was den (inzwischen erschütterten) Glauben Kings an das urtümlich Böse betrifft – nun: Ich kann mir keinen Horrorstory-Autor vorstellen, der diesen Glauben nicht teilt. Jedenfalls keinen guten. Ich bin ziemlich sicher, daß gerade dieser dunkle, irrationale Aspekt in Kings Schaffen seine Erzählungen so unwiderstehlich, „authentisch“ wirken läßt. Und ich glaube außerdem, daß es keinen Autor dieser Art Literatur gibt, der seine Leser – egal wie sie ideologisch ticken – so gewandt auf seine Seite zieht wie King. Das ist, vielleicht, seine größte Kunst. Ihr Einwand ist einer gegen das Genre an sich; und er muß unbedingt erhoben werden. Aber er zerbröselt auch ziemlich schnell unter der Wucht und Macht der besseren Texte von Mr. King, finde ich.
    In einem Punkt aber muß ich Ihnen heftig widersprechen. Nicht das „Rüffeln“ ist „das Allerherrlichste“. Sondern das Loben. Ich weiß das, weil ich ein alter Miesepeter bin. KS

  8. 8

    Ein wirklich schöner Kommentar, Dirk Eberhard, herzlichen Dank!
    Wo fängt man denn mit der King-Lektüre an? Ich muß gestehen, daß ich erst ein einziges Buch von ihm gelesen habe: das über den Zeitreisenden, der versucht, die Ermordung Kennedys zu verhindern. Was mir daran gut gefallen hat, war der greifbare Widerstand der Vergangenheit gegen ihre Veränderung, der durchaus etwas Finsteres an sich hat, wohl weil die zu verändernde Vergangenheit eben finster ist. Allerdings hatte ich Schwierigkeiten mit der Prämisse, daß vor dem Kennedy-Attentat die Welt noch heil gewesen wäre. (Obwohl eine erneute Lektüre evtl. ergeben würde, daß der Autor diesen naiven Grundgedanken selber untergräbt.)
    Für tiefgründige Gedanken über die Natur des Bösen ist es mir jetzt zu spät, aber ich glaube, dazu habe ich auch noch was zu sagen, wenn ich wacher bin.
    Und: dankbar für gute King-Einstiegstips wäre ich auf jeden Fall.

    In „Der Anschlag“ wird das Unheile der frühen 60er durchaus thematisiert – besonders der Apartheid-Rassismus in den Südstaaten, aber auch die fürchterliche Prüderie in den USA. – Zu den Einstiegstipps: Mein All-time-favorite ist „ES“, dicht gefolgt von „Brennen muß Salem“, „Wahn“, „Die Arena“ und „Needful Things“. Und wenn Sie Hunde nicht leiden können, sollten Sie „Cujo“ auf keinen Fall verpassen. KS

  9. 9

    Stimmt natürlich, was den „Anschlag“ und die Thematisierung der Probleme angeht. Bei mir war irgendwie der Grundgedanke des Imbißbetreibers vom Anfang hängengeblieben, daß vor dem Anschlag heile Welt gewesen wäre.
    Vielen Dank für die Lektüretips! Ich mag Hunde, also werde ich vielleicht nicht mit „Cujo“ anfangen …

    Schöner wäre nur noch die Auskunft: „Ich mag Clowns, also werde ich ‚Es‘ erst mal nicht lesen …“ KS

  10. 10

    Vielen Dank für die freundlichen Worte an Thomas Küster und KS zu meiner evtl. doch etwas zu uferlosen Einlassung. – Interessant die Empfehlungen, „Brennen muß Salem“ z. B. ist genau das Buch, das mir eine Weile schon zum Wiederlesen durch den Kopf geht – eins der wenigen, die ich als Jugendlicher wirklich verschlungen habe. Und auch „Es“ würde auf meiner Liste ziemlich weit oben stehen. Sehr schön auch „Die Leiche“, eigentlich fast ein Roman, geführt aber als Teil der Reihe von Erzählungen „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ (ich zitiere aus dem Gedächtnis und hoffe, es stimmt einigermaßen). Es ist die Geschichte, die als Vorlage für den als gelungenste King-Umsetzung geltenden Film „Stand by me“ diente. – Und es stimmt natürlich: Viel schöner als Bekritteln ist Loben.

    Sie haben ein tadelloses Gedächtnis. Und Ihre Einlassung war keineswegs uferlos. KS

  11. 11

    „Stand By Me“ ist wirklich ein ganz wunderbarer Film, und die Novelle ist schon, seit ich den Film gesehen habe (im Kino, als er neu war, wie entsetzlich lang ist das eigentlich her?), auf meiner Leseliste. Aber ich habe eine große Schwäche bezüglich Literaturverfilmungen: Wenn ich den Film schon kenne, kriege ich fast nie den Hintern hoch, das Buch noch zu lesen.
    Haha, Kay Sokolowsky, nein, Clowns mag ich nicht (wer tut das schon?), aber so für sich klingt mein Satz mit „Cujo“ und den Hunden wirklich lustig. Man könnte ein Spiel daraus machen: „Magst du Schnecken? Dann solltest du Sokolowskys Blog erstmal nicht lesen …“

    Als wär das ein neues Spiel – das Feuilleton funktioniert doch seit seiner Erfindung genau so. KS

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