Timmi und die Arkonigel (7)

Was bisher geschah.

Die Igelin legt sich ins Gras und ruht aus vom Jagen und Fressen. Sie hört den Nachtwind in den Blättern schnüffeln und schnieft leise mit. Dann verzieht sie die Schnauze, weil in der Manteuffelstraße irgendein Idiot versucht, mit seinem Auto die Schallmauer zu durchbrechen. Marion kann Autos nicht leiden. Wie alle vernünftigen Igel schaut sie mindestens dreimal nach links und viermal nach rechts, bevor sie eine Straße überquert. – Ihr wißt ja, warum trotzdem immer wieder Igel zwischen Reifengummi und Asphalt geraten. Wenn ihr es vergessen haben solltet, blättert bitte zurück zum Anfang des ersten Kapitels und stört nicht die anderen, die im Gegensatz zu euch aufgepaßt haben und wissen wollen, was als nächstes geschieht. Danke!

   Es wird kühler, und die alte Buche, unter der Marion liegt, entspannt sich mit einem Knacken. Da ertönt aus der Tiefe, weit unten von der Elbe, ein gewaltiger Laut. Er klingt, als riefe das größte Tier der Welt nach seinen Freunden und als wüßte es schon beim Rufen, daß niemand ihm antworten wird. Marion hat diesen Ton schon oft gehört, und wie jedes Mal wird ihr seltsam zumute, während das ungeheure „Booo-uuuh“ in ihren Öhrchen vibriert. Wenn Igel weinen könnten, würde sie es jetzt tun. Statt dessen beißt sie die Zähne fest zusammen und stellt die harten Haare halb auf. Sie hat tatsächlich ein bezauberndes Stachelkleid, da kann man Timmi nicht widersprechen.

   Eines Tages, denkt Marion, wird sie zum Fluß hinunterlaufen und sich das Riesentier ansehen. Und wenn es aus dem Wasser auftaucht und seine Einsamkeit hinausbrüllt, wird sie zurückrufen, so kräftig sie kann. Sie zweifelt nicht daran, daß der Gigant sich ihr zuwenden und sie anlächeln wird.

   Aber der Weg zur Elbe hinab ist lang, über alles Igelmaß lang. Selbst Dagmar, die Singdrosseldame, Marions beste Freundin, ist noch nie dort gewesen. Und Dagmar kann fliegen! Doch die Drosselin ist letztes Jahr im Hirschpark, auf halbem Weg zum Fluß, von ein paar Amselkerlen übel zugerichtet worden und seitdem meidet sie die Gegend. Ihr könnt euch denken, daß Marions schlechte Meinung über Männchen von dieser Geschichte alles andere als erschüttert wurde.

   Immerhin konnte Dagmar ihrer Freundin eine Ahnung davon geben, was diese „Elbe“ ist: „Stell dir die größte Pfütze aller Zeiten vor. Nein, Pfütze ist falsch. Moment. Du hast doch schon mal gesehen, wie bei Regen das Wasser durch den Rinnstein strömt? Hast du nicht?“ Dagmar seufzte etwas übertrieben. „Was hast du eigentlich schon gesehen außer Regenwürmern, du Dummerchen?! Na, ach … Nimm den Kopf wieder aus dem Fell, Kleine, ich hab‘s nicht so gemeint, entschuldige bitte, du kennst doch mein Temperament …“

   Beim nächsten Versuch bemühte Dagmar sich um mehr Geduld. „Die Elbe“, sagte sie, „das ist ein unglaublich langer, breiter, tiefer Graben. Der ist bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Aber das Wasser steht nicht wie in einer Pfütze. Deshalb war mein Vergleich vorhin etwas, hm, unglücklich.“ Die Drosselin klapperte mit dem Schnabel, um zu zeigen, wie sehr sie sich genierte. „All das Wasser in diesem Graben fließt. Darum heißt es Fluß. Es fließt sogar sehr schnell, und ohne Unterbrechung rauscht frisches Wasser hinterher. Was? Wie bitte? Nein, ich weiß nicht, woher es kommt. Nein, was mit all dem Wasser passiert, das weiß ich auch nicht. Meine Güte – Marion! Was denkst du, wer ich bin? Eine Ente? Ich bin eine Sing-dros-sel!“ Dagmar pfiff wie ein Teekessel auf dem Herd und redete sehr schnell weiter: „Normalerweise müßtest du dich mit Wasser viel besser auskennen als ich. Warum? Weil du eine dumme kleine Gans bist, darum! Ach … Verflixt … Du mußt dich nicht einigeln, ich wollte ja nicht …“

   Wenn ihr mich fragt, ist es ein kleines Wunder, daß Marion die Drosselin für ihre beste Freundin hält. Möglich, daß Dagmar sie an Alice Schwarzer erinnert, eine Person, die Marion mit Abstand für das klügste Frauchen des Planeten hält.

   Der Riese in der Elbe ruft noch einmal nach seinen verschollenen Freunden. Wieder wird es eng in Marions Brust. Aus dem Garten,
in dem Timmi wohnt, duftet es nach Salbei und Thymian. Und nach Timmi. Manchmal röhrt ein Auto um die Ecke, doch sonst herrscht Ruhe. Die Rabauken des Viertels scheinen alle in die Ferien gefahren zu sein. Jedenfalls hat Marion heute weder den sauren Geruch eines Hundes noch die süßliche Spur einer Katze wahrgenommen.

   Wann, wenn nicht heute, wäre Gelegenheit, die lange Wanderung hinunter zum Fluß anzutreten? Aber nicht allein. Die Igelin braucht jemand, der sie begleitet. Der wacht, wenn sie schläft. Ein bißchen stärker und fieser als sie darf er auch gern sein. Marion benötigt für ihr großes Abenteuer Unterstützung. Sie braucht Timmi.

   Obwohl sie insgesamt eine schlechte Meinung über Männchen hat, macht Marion in seinem Fall eine Ausnahme. Nicht weil er so nett und höflich ist. Ja klar, das ist er. Nicht weil er köstliche Regenwurmfrikadellen zubereitet. Jaja, die sind wirklich lecker. Marion kennt sich mit Männchen aus, und sie weiß, daß die guten Manieren und die Kochkünste bloß Tarnung eines von Grund auf verdorbenen Charakters sind. Sie fällt auch nicht auf Timmis ständiges Gesäusel über den Mond und die Lichter der Nacht herein. „Um ein Mädchen rumzukriegen“, hat Dagmar ihr mal anvertraut, „quatscht ein Junge die Sterne vom Himmel herunter.“

   Andererseits … Andererseits kribbelt es in Marions Bauchpelz, als würde sie durch hohe Grashalme laufen, wenn Timmi sie verstohlen anstarrt und den Wuchs ihrer Stacheln bestaunt. Sie wird nie vergessen, wie Timmi sie zum Kadaver einer Feldmaus geführt und ihr bei den Eingeweiden den Vortritt gelassen hat. Einmal spürte er im Abfall eine fast volle Katzenfutterdose auf – und überließ jeden Bissen Marion. So glücklich wie in jener Nacht war die Igelin nicht, seit die MENSCHEN sie aus dem Keller in die Freiheit geschubst hatten. Marion hat das noch keinem erzählt, nicht mal Dagmar. Timmi sowieso nicht.

   Und auch dies ist ihr Geheimnis: Sie atmet schneller und ihre Öhrchen glühen, sobald sie in Timmis Augen sieht. Die schimmern, findet Marion, wie schwarze Scherben, und in ihnen spiegelt sich etwas, das die Igelin sehr gut von sich selber kennt. Sie hört manchmal sogar auf zu atmen, wenn Timmi ihr vorausläuft. Wenn sie die weichen Speckrollen seines Bauchs auf und ab wackeln sieht. Da möchte sie am liebsten auf den Rücken fallen und mit den Pfoten wackeln. Aber bestimmt nicht vor Lachen. Kein Gedanke!

   Wieder ruft das Riesentier, aber aus einer Ferne, die Marion sich überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Ein Regenwurm guckt aus der Erde und sucht den Grund des Grummelns. Die Igelin sieht den glitschigen Kopf. Sie ahnt, was darin vorgeht, und sie möchte wieder weinen. Aber weinen, wie gesagt, können Igel leider nicht.

Wird fortgesetzt.


Samstag, 11. August 2012 19:20
Abteilung: Erzählungen, Timmi und die Arkonigel

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