Epiphanie

Gustav Holst, Olaf Stapledon, Stanley Kubrick, aber besonders dem SDO-Team
im Nasa Goddard Space Flight Center gewidmet


Vor fünf Jahren, am 11. Februar 2010, startete das Solar Dynamics Observatory (SDO)
in einen geostationären Orbit knapp 36.000 Kilometer über Südkalifornien. Seither beobachtet die Sonde eine unnahbare Gottheit, die von den Menschen unter vielen Namen angebetet wurde (und seit neuerer Zeit in, natürlich: Kalifornien, in einigen Bergwäldern, wieder wird): Ra, Huitzilopochtli, Lugh, Mitra, Utu, Helios, Sol … Unsere Heimatsonne. Der brave Forschungsrobot sandte bislang 200 Millionen gestochen scharfe, weit über den Frequenzbereich menschlicher Augen hinausreichende Bilder heim. Daraus entstanden Zeitrafferfilme, deren spektakulärste und atemverschlagendste die Nasa nun zu einem Jubiläums-Clip montiert hat.

Verdunkeln Sie den Raum. Schalten Sie die Telephone stumm. Drehen Sie die Computerlautsprecher auf; der hymnische Score (der sehr nach Jerry Goldsmith klingt) ist es wert. Klicken Sie auf „Play“ und „Full screen“. Entspannen – und den Blick bitte nicht abwenden:

Wenn Sie jetzt weiterlesen, haben Sie den Film wahrscheinlich bis zum letzten Take und Takt gesehen, und falls es etwas dauerte, bis Sie wieder in meine Art Notizbuch zurückkehrten, dann vermutlich, weil Sie wie ich die Nässe aus den Augen wischen mußten. Gestern versprach ich Ihnen, Bekenntnis abzulegen. Hier kommt es.

Mir hat das Konzept „Gott“, diese größte und blutigste Illusion unserer Spezies, noch nie so eingeleuchtet, in Wortes Sinn, wie bei Ansicht dieser Sequenzen. Da brodelt, funkelt, strahlt, strudelt, brennt und blendet nicht Allmacht, aber etwas, das ihr ziemlich nah kommt, und gibt eine Ahnung davon, was wahre Macht bedeutet, echte Majestät, totale Souveränität. Es liegt nah, sich angesichts dieser unfaßbaren Verschwendung, dieser maßlosen Prasserei, dieser entfesselten Energien sehr klein zu fühlen, sogar nichtig. Besser wäre es jedoch, bei diesem Anblick zu erkennen, was nicht so wichtig, sondern jämmerlich, dilettantisch, eine üble Travestie und böse Farce ist: die Machtspiele unserer Spezies.

Sol ist nicht zu kaufen, Sol verschenkt, was es hat. Sol braucht keine Ausbeutung, Sol verzehrt sich selbst. Sol ist keine Ware, Sol ist Wahrheit. Die globalisierte, vom Kapital total verwaltete Welt wäre bloß ein verpuffender Krümel in den Plasmafontänen der Sonne: Wie winzig wirkt schon Merkur vor diesem Ozean der Flammen, den der Planet in immerhin 56 Millionen Kilometer Sicherheitsabstand überquert! Das Toben und Lohen der Konvektionszone, die unablässige Form-, Struktur- und Gestaltenänderung der Photosphäre, die feenhaften Phänomene, die zarten Geisterschleier, die magnetischen Triumphbögen der Korona – was für ein Bazillendreck sind daneben Nationalstaatsgrenzen, Aktienholdings, Milliardenvermögen, diese naturfremden, auf nichts als Selbsttäuschung und Verblendung basierenden Abstraktionen der Macht!

Jeder Mensch, der einen Funken ästhetischen Empfindens, eine Nuance metaphysischen Interesses, einen Schimmer von Naturwissenschaft hat, wird die Erhabenheit der SDO-Bilder, ihr zutiefst Erschütterndes, Ergreifendes, Erhebendes ekstatisch in sich nachbeben fühlen und so wenig wie ich den mystischen Schauer leugnen können. Hier ist, wie gesagt: Wahrheit. Größe. Schönheit. Und ein Grund, auf die Spezies, die ihr Talent sonst an jede denkbare Teufelei verschwendet, endlich mal wieder stolz zu sein. Auf ihre Neugier, ihre Klugheit, ihr technisches Geschick und ihre Fähigkeit, Unvorstellbares vorstellbar zu machen.

Könnte doch jeder Mensch auf der Erde den Viereinhalbminutenfilm der Nasa sehen! Ich bin sicher, daß bei Atheisten wie Agnostikern, Fundamentalisten wie Laien einiges stimuliert würde, vor allem Nachdenklichkeit. Denn einem authentischen Gott, der sich selbst ein Universum ist, das er fortwährend, jeden Nanomoment, jedes Jahr, jedes Äon, umgestaltet, der sich selbst verschlingt, um bis in die jenseitigen Regionen der Galaxis von seiner Existenz zu künden, und der ohne Absicht, beiläufig, ja, unbewußt (so wie unsereins beim Niesen Blütenpollen auf fruchtbare Erde bläst), unser Sein überhaupt erst ermöglicht.

Wir gehören zum Familienkreis dieses Gottes, das sollten wir nicht vergessen. Die schweren Elemente in unseren Körpern wurden einst in den Schmelzöfen älterer Sonnen ausgebacken. Unsere Materie ist die der Sterne, ohne unsere Begeisterung hätte diese berauschend schöne Gottheit keinen Spiegel, der ihre Herrlichkeit nicht allein verdoppelt, sondern vervielfacht, nämlich um die Kubikzahl Intelligenz.

***

Oder steckt diese Potenz längst in den zahllosen mathematischen Gleichungen, die Sol Sekunde für Sekunde löst, in den fraktalen Gigantenmustern, die zwanzig Gasriesen vom Saturn-Typ (Ringe inkl.) Platz böten, in den betörend filigranen, korallen- oder wolken- oder stromschnellen- oder baumartigen Ausformungen seines fast ewigen Gewebes –?

Wie es der Zufall will (an den ich nicht so recht glaube und seit gestern noch weniger), habe ich vor einigen Tagen begonnen, Kim Stanley Robinsons wuchtigen Science-Fiction-Roman 2312 zu lesen. Diese erstaunlich optimistische Utopie, die in ihrem Plädoyer für einen Highest-Tech- plus KI-Sozialismus stark und wohltuend an den singulären Iain Banks erinnert, startet mit einer gewaltigen Szene: Menschen in Schutzanzügen erwarten auf der Planetenoberfläche, fern der Sicherheitsräume, das Ende der 78 Erdtage langen Merkurnacht. Zweifellos hat Robinson folgende Sätze unter dem Eindruck der ersten veröffentlichten SDO-Clips verfaßt:

Im Ultraviolettbereich sieht [der Sonnenaufgang] aus wie ein anhaltendes, immer heißer werdendes blaues Fauchen. Blendet man die Scheibe der Photosphäre aus, tritt das phantastische Wirbeln der Korona deutlich hervor, all die magnetisch geladenen Lichtbögen und Entladungen, die Massen brennenden Wasserstoffs, die in die Nacht hinausgeschleudert werden.

Andererseits kann man auch die Korona abdunkeln und nur die Photosphäre der Sonne betrachten. Man kann sie sogar vergrößern, bis man in der wabernden Glut die Gipfel der Tausenden von Konvektionszellen erkennt, jede einzelne eine feurig tosende Gewitterwolke. Zusammen verbrennen sie fünf Millionen Tonnen Wasserstoff pro Sekunde (…). All diese langen Flammenspitzen umtanzen in kreisförmigen Mustern die kleinen schwarzen Pfützen, bei denen es sich um Sonnenflecken handelt – bewegliche Strudel im Feuersturm. In Massen strömen die Flammenspitzen zusammen, wie Seetang, der von den Meeresströmungen aufgehäuft wird. Es gibt nicht-biologische Erklärungen für diese verschlungenen Bewegungsprozesse – aber trotzdem sieht es lebendig aus, sehr viel lebendiger als manches, was wirklich lebt. (…) Der Stern läßt einem die Ohren klingen, er spricht zu einem.

Ein Ahnherr Kim S. Robinsons, der einzigartige Olaf Stapledon, hätte sich übrigens bei der Begutachtung der SDO-Filme vollauf bestätigt gefühlt. Für ihn stand bereits vor achtzig Jahren außer Frage, daß die Sterne ein hochentwickeltes Bewußtsein besitzen. In seinem Opus magnum Der Sternenschöpfer schreibt er:

Es ist verständlicher, wenn man die Sterne als lebendige Organismen ansieht; jedoch als Organismen, die in physiologischer und psychologischer Hinsicht einer völlig anderen Gattung angehören. Die Außen- und Mittelschichten eines reifen Sterns scheinen aus einem von glühenden Gasströmen gebildeten Gewebe zu bestehen. Diese Schichten leben und erhalten das stellare Bewußtsein, indem sie einen Teil der gewaltigen Energieflut auffangen, die aus dem zusammengepreßten und überaus aktiven Sterneninneren hervorbricht. (…) Die äußeren Schichten, einschließlich der Korona, sprechen auf die außerordentlich schwachen Reize der näheren und ferneren kosmischen Umgebung an, angefangen vom Licht benachbarter Sterne über kosmische Strahlen und Meteore bis zu den gezeitenartigen Einflüssen anderer Planeten und Sterne. (…) Hier half eine Reihe seltener gasförmiger Sinnesorgane, die sich im Hinblick auf Ausgeprägtheit und Zweckbestimmung sehr unterschieden und die die Information an die entsprechenden ‚Gehirnschichten‘ weiterleiteten.

Vergleichen Sie mal die SDO-Abbildungen der magnetischen Sonnenströme mit Aufnahmen neuroelektrischer Aktivität: Die Ähnlichkeit ist frappierend und, wie ich finde, von beinah religiösem Trost. Das Universum erstreckt sich nicht nur um, sondern auch in uns. Es wäre bei aller Riesenhaftigkeit nichts, würden wir es nicht ansehen und zu begreifen versuchen und uns in seiner Endlosigkeit wiederfinden.

***

Weil Sie bis hierher so wacker durchgehalten haben, sollen Sie mit einem zweiten Jubelfilm der Nasa belohnt werden: Hier werden fünf Jahre Sonnenleben auf zweieinhalb Minuten gerafft; es ist die größte Lightshow, die höchste Entfaltung kinetischer Magie, die Menschenaugen je erblickt haben. Die Musik dazu klingt wie von Philip Glass und paßt ganz hervorragend zu diesem myriadenfachen Flackern, Funkeln und Flittern:

Ich weiß immer noch nicht, ob es einen Gott, einen bewußten Schöpfer des Kosmos gibt. Ich weiß aber seit gestern abend, wie er aussehen könnte, wollte er sich zeigen. (Man nennt das übrigens Epiphanie.)

Sie lasen soeben die zweite Auflage dieser im Nu vergriffenen Bekenntnisschrift. Der Autor hat sie um einige Flüchtigkeitsfehler reduziert und um mehrere,
hoffentlich wertvolle, Ergänzungen und Stilanpassungen bereichert, ähm, verlängert.


Freitag, 13. Februar 2015 18:58
Abteilung: Discovery Channel, Ironie off, Moving Movies, Selbstbespiegelung

3 Kommentare

  1. 1

    Das Warten auf Ihr Bekenntnis hat sich absolut gelohnt. Jetzt wird ein zweites Mal das Licht gelöscht und das Telefon auf stumm geschaltet und sich nach langer Zeit noch mal Kubricks 2001 angesehen. TH

    Ich danke sehr für Ihre große Geduld und Ihr schönes, wohltuendes Kompliment! – Dieser Hymnus ging mir nicht leicht von der Hand, denn, konfrontiert mit solchen Bildern, verging mir die Sprache, und ich fand die Wörter nicht, diesen Blick in die Unendlichkeit nur annähernd zu beschreiben. – Inzwischen steht eine gründlich redigierte, hoffentlich nicht zu sehr verzierte Neufassung im Weblog. Wenn Sie noch mal reinschauen mögen.
    Daß Sie sofort an „2001“ gedacht haben, teilen Sie ebenfalls mit mir, wie sympathisch! Dann dürfte Sie freuen, was morgen im „Abfall“ liegen wird: Fragmente betr. die Prophetie und die Technomystik in „2001“.
    Einstweilen ein zweites Mal meinen angetanen Dank und gute Nacht (versäumen Sie nicht den Sonnenaufgang)! KS

  2. 2

    Wie hat Ihnen, lieber Herr S., denn Interstellar gefallen? Ich verspürte da Ähnliches wie beim Schauen der beiden Aufnahmen soeben. Gibt auch eine schöne Prise Techno-Optimismus (Nasa als im Untergrund operierende Institution für eine hoffnungsvolle Zukunft!) und tröstliches Es-gibt-keine-Zufälle-/Es-wird-sich-kosmisch-schon-alles-richten-Flair.
    Nolan reichert hier 2001 mit, wie böse Zungen sagen, „Schmalz“ an: In meiner Welt heißt das aber, nun ja, Gefühl (was das über eben jene bösen Zungen aussagt, die Kubrick Kälte unterstellen!).
    DA

    Spott, Herr A., und Schande über mich – aber ich habe „Interstellar“ verpaßt. Ich gelobe jedoch, die DVD zu erwerben, sobald sie im Handel ist. Dann sprechen wir uns wieder. – Einstweilen besten Dank für Ihre nachdrückliche Empfehlung! KS

  3. 3

    Ich find‘ die Musik überflüssig; besonders beim ersten Video. Das ist wie eie Portion süße Sahne auf ein Stück Sahnetorte.

    Wie? Das macht man nicht? (Wischt sich Sahne vom Kinn.) KS

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