Sonntag, 2. Juni 2013 22:37
Gelegentlich hat es den Anschein, als gäbe es nur mehr zwei Sorten von Kindern: Solche, die in Not verwahrlosen, und jene, die in Liebe überwacht werden. Während die einen keine Regeln mehr lernen außer der obersten der Warenwelt – wer nichts hat, bekommt auch nichts –, ist im Leben der anderen alles geregelt. Keinen Schritt können sie tun, der nicht vorgeplant, kommentiert, photographiert würde. Beim Besuch eines Jahrmarkts im reichsten Bezirk der reichsten Stadt Europas wird das zuckerwattierte Elend der rundum behüteten Kinder offenbar. Am Autoscooter drängeln sich ihre Eltern und Großeltern, um nur ja keinen Juchz- oder Wehblök der goldenen Kälber zu verpassen. Daß der Rummelplatz für Kinder über zehn Jahre ein Reservat sein müßte, wo niemand ihnen reinquatscht, ignorieren die Alten komplett.
—Das Taschengeld zweckfrei auf den Kopf hauen für Süßigkeiten, Schießstand, Losbude, Kettenkarussell und natürlich den chaotischen Autoscooter, bis es dem Kind selbst zuviel wird, bis es den Betrug erkennt, der hinter den Sensationen der Kirmes steckt, bis ihm buchstäblich schlecht wird … Es war für den Präpubertierenden einst das größte Glück und die bitterste Desillusionierung. Anfänglich das mühsam zusammengeklaubte Klimpergeld verwaltend wie ein Pfeffersack, zum Schluß wie ein Nabob verjubelnd, von fern den Lärm der Lautsprechermusik und der kreischenden Altersgenossen wie eine Verheißung erlauschend, mittendrin vor Krach komplett den Verstand verlierend und wieder von fern die Geräusche des Jahrmarkts wie Hohnlaute hörend: Das ist nicht die schlechteste Lehre gewesen über die Hohlheit des Konsums und die Kürze erkauften Glücks. Die spätestkapitalistische Bourgeoisie allerdings möchte den Erfolg der Nachkunft mit solcher Vehemenz erzwingen, daß sie der Brut alles, was den Zieleinlauf gefährden könnte, vom Leib hält, besonders das Risiko, am Sinn jenes Erfolgs zu zweifeln.
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