Im Glanze dieses Glückes (25 Jahre danach)

Einheizflagge_(c)_Kay_SokolowskyMeine Mutter, die in den 50ern aus Erfurt in den Westen türmte, hat sich über den Fall des antifaschistischen Schutzwalls sehr gefreut. Das durfte sie auch, denn sie ist meine Mutter und ihre Familie fehlte ihr sehr. Ich habe mich nicht gefreut, nicht einmal für meine Mutter, doch zum Glück hat sie das nie gemerkt. Ich habe vor meinem Fernsehkasten gehockt, zwischen den Sondersendungen von ARD und ZDF hin- und hergeschaltet und zum ersten Mal in meinem Leben – ich war 26 Jahre alt – keine Lust mehr auf die Zukunft gehabt. Denn die Zukunft, die mir bevorstand, würde gewiß nicht die sein, die ich wollte, die eines globalen Sozialismus. Der Zug war gegen die Wand gefahren, und durch das große Loch, das er beim Crash gerissen hatte, strömten Menschen, die als einzigen Begriff für ihre Stimmungslage nur das Wort „Wahnsinn“ kannten.

Wie Wahnsinnige kamen sie mir auch vor, und ich hätte sie alle schütteln und anschreien mögen, aber weil man die Leute, die im Fernsehkasten gezeigt werden, nicht schütteln und anschreien kann, lernte ich in jenen Tagen auch, was Ohnmacht bedeutet. Mir war klar, daß all diese Nationalbesoffenen und Kadewe-Entdeckungsfahrer auf einen wie mich gerade noch gewartet hatten. Also blieb ich lieber in Hamburg vor meinem Fernsehkasten hocken, statt in Berlin die Massen zu agitieren. Obwohl die Zukunft mir vergällt war – 27 wollte ich schon werden und eben nicht als der erste Geöffnete-Mauer-Tote in die Geschichte eingehen. Außerdem war ich neugierig, ob all das, was ich mir ausmalte, tatsächlich geschehen würde. Um dann, bei allem Entsetzen, wenigstens die Befriedigung empfinden zu können, es immer schon gewußt zu haben.

Das war äußerst bescheuert, denke ich heute. Überhaupt kommt mir der Bursche, der ich vor zweieinhalb Jahrzehnten gewesen bin, partiell sehr dämlich vor, wehleidig und dünkelhaft. Er hätte mich allerdings auch nicht gemocht, mich und mein seit ’89 stark gewachsenes Bedürfnis, lieber nicht recht zu behalten, wenn es um die Prophezeiung von Katastrophen geht. Mit solchen Voraussagen richtig zu liegen, verschafft nämlich keine Genugtuung. Desaster sind keine Freudenspender. Und ich hatte leider mit allem recht, was ich mir vorstellte angesichts dieser Wiedervereinigung von Wahnsinnigen, die möglichst in Einzelzellen oder wenigstens in zwei scharf bewachte Staaten weggeschlossen gehörten. Der Chauvinismus, Rassismus, Militarismus, die Anmaßung, das Kulturgeschwätz, die Selbstgerechtigkeit – diese Explosion von Deutschtum und Niedertracht nach der Implosion der DDR hat mich wirklich nicht überrascht. Nur das Tempo, in dem dieser einzigartige Menschenschlag sich von der Scham befreit hat, die er über seine einzigartigen Verbrechen sowieso nie fühlte: Das hat meine dunkelsten Ahnungen überstiegen.

Wenn sie wenigstens ein paar Tage lang den Rand gehalten hätten! Wenn ich nicht in meinem Fernsehkasten hätte beobachten müssen, wie die Mitglieder des Bundestags sofort das verdorbenste Lied der Erde grölten, nachdem Schabowski seinen welthistorischen Lapsus begangen hatte. Wenn diese Deutschen nicht im Nu die Deutschen hätten heraushängen lassen – ich hätte mich eventuell doch mit meiner Mutter freuen können. Einen Abend lang. Möglicherweise.

Zuerst veröffentlicht im November 2009 in Jungle World


Samstag, 8. November 2014 21:31
Abteilung: Director's Cut, Kaputtalismus, Man schreit deutsh

2 Kommentare

  1. 1

    Moin, Sokolowsky! Zum Thema 25 Jahre Mauerdingsbums fällt mir ein: das ist ‚ n bißchen so, wie wenn der Papst zu Besuch kommt, es verhagelt einem auf allen Kanälen komplett das schöne Fernsehprogramm.
    Außerdem kann ich es immer noch nicht verstehen, daß man heutzutage von der SBZ als „Mitteldeutschland“ spricht. Wo liegt dann eigentlich Ostdeutschland?
    Jahrzehntelang wächst man damit auf, daß die DDR der Osten ist, und – schwupps – auf einmal nur noch die Mitte? In der Schule hat man mir das anders beigebracht.
    Hessen ist bitteschön Mitteldeutschland.
    Aber nach ein paar Jahren der Wiedervereinigung dachte ich mir: Lebensraum zu kaufen ist immer noch besser, als ihn mit Bomben und Granaten zu erobern.

    Moin, Lüdke – und danke für den Kommentar! Mitteldeutschland ist übrigens immer genau da, wo die SPD nach ihren Wählern sucht. Und keinen findet. KS

  2. 2

    Erschütternde Rechthaberei, aber gräme Er sich nicht zu sehr. Es gibt ja Trost:
    Dieser „einzigartige Menschenschlag“ (gibt es sowas also doch) von in Einzelzellen aufzubewahrenden Wahnsinnigen, die das verdorbenste Lied der Welt ihr eigen nennen und die kein schlechtes Gewissen ob der Verbrechen ihrer Mütter, Großmütter und Urgroßmütter nebst Anhang haben wollen, sie werden alle sterben! Irgendwann. Möglicherweise.

    „Möglicherweise“? Will Er mir die Laune versauen? KS

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