Bored beyond belief (5): Am Zebrastreifen
An ihrem Kinderrad sind Stützreifen befestigt, dabei sieht die Kleine aus wie eine Achtjährige. Mit dem Helm auf dem blonden Kopf wirkt sie noch größer. Ein Blick auf die Mutter verrät, woher das kommt – Erbmasse die
Fülle. Das Mädchen möchte über den Zebrastreifen preschen, wird jedoch von der Vorgesetzten zurückbefohlen. Das Kind zieht einen Flunsch, denn weit und breit ist kein Auto zu sehen. Mutti guckt stur nach links und nach rechts, marschiert mit langen Schritten los und ruft: „Jezz!“
Das Mädchen kräht: „Vo‘hin waa‘s auch frei …“ Seine Stimme ist viel jünger als sein Körper: Höchstens sechs Jahre hat dieses Kind bislang hinter sich gebracht – das erklärt die Stützräder. Aber sechs Jahre sind bereits eine Welt entfernt von der Zeit, als Mamas zugleich Gottes Wort war. Es ist weiterhin Gesetz, das schon. Aber die hochgeschossene Kleine beginnt, die geltende Rechtsprechung in Frage zu stellen. Den Flunsch behält sie daher im Gesicht, als sie sich betont langsam in Bewegung setzt. Auf halbem Weg über den Zebrastreifen jedoch hat sie schon wieder vergessen, daß Mama spinnt, und freut sich, schneller radeln zu können, als die Mutter läuft.
Kein Wunder, daß Kinder in diesem Alter umgehend kaserniert werden (man nennt es auch „Einschulung“). Sie fangen an, die Erde als Ort zu begreifen, wo es mehr Regeln als Vernunft gibt, und das können sie nicht begreifen. Damit sie diese Urform von Subversion ganz schnell wieder beenden und die Idee der Autorität bloß nicht anzweifeln, werden sie in Klassenzimmer gestopft und gedrillt, die Regeln für das Vernünftige zu halten. Die Stützreifen mögen demnächst vom Fahrrad abmontiert werden. Im Gehirn allerdings schraubt man sie sogleich wieder an.
Wo sie natürlich nichts zu suchen haben. Deshalb kommt es in jedem Kinderleben zu einem Unfall, von dem sich bis zu seinem Tod kein Mensch mehr erholt. Statt das Gebot als etwas Gebotenes, etwas, das einen Sinn hat, zu verstehen, wird es nur in seiner Negation, als Verbot, wahrgenommen. Was immer den Anschein von Autorität hat – der Lehrer, der Polizist, der Pastor, der Chef, das Verkehrsschild, die Fahne, der Riesenapparat namens Staat –, erhält ihn sich allein durch die Angst der autoritären Objekte. Nur manchmal gehen ihnen die Augen auf und über, und der erste rebellische Gedanke, den sie je hatten, klopft wieder im Kopf: Vorhin war‘s frei. Doch das dauert nur ein paar Sekunden, dann geht‘s zurück in die Tretmühle.
Etwas später überholen mich zwei Mädchen, das eine etwa zehn, das andere zwölf oder dreizehn Jahre alt, Schwestern vermutlich. Kaum ist das Pärchen an mir vorbei, rotzt die Größere mit Aplomb auf den Weg. Und weil Zwang den Charakter macht, denke ich sofort: Saugör.