100 Jahr



Dizzy ist nicht nur ein Meistermusiker und der König der Trompete, er ist auch ein brillanter Mensch. Er sagt viele Dinge im Spaß, die einen enormen Tiefgang haben. Du kannst eine ganze Menge lernen, indem du ihm zuhörst. Nicht nur wenn er spielt, sondern auch wenn er spricht. Er kann dir viel sagen, wenn du gescheit genug bist, es zu verstehen.

Percy Heath

Am 21. Oktober 1917 kam in Cheraw, South Carolina, John Birks Gillespie zur Welt, eines der größten Genies des 20. Jahrhunderts, ein Solitär als Musiker wie als Komiker. Seinen Spitznamen „Dizzy“ – was „schwindelig“ heißen kann, „duselig“ oder „rammdösig“ – hatte sich Gillespie bereits als Junge erarbeitet. Bis zu seinem Tod trug der Mann den Witz mit Stolz und gab sich auch sonst Mühe, bloß nicht so ernst zu wirken, wie seine Kunst genommen werden muß.

Das führte zu allerhand Mißverständnissen über Dizzys Bedeutung als Musikant. Vielen Jazz-Puristen ist es bis heute nachgerade peinlich, Gillespie als einen Gründervater des Bebop, dieses aufregendsten, revolutionärsten Jazzstils von allen, anzusprechen. Lieber verleumden sie Dizzy als Sidekick im Schatten von Charlie Parker, als ephemeren Faun.

Diese Herabwürdigung hat Gillespie zeit seines Lebens mit dem gewaltigen Humor ertragen, der ihm in die Wiege gelegt ward. (Ich bin übrigens ziemlich sicher, daß Mr. Parker inkompetenten Schnöseln, die seinen verständigen und besten Freund John Birks kleinschwafeln wollen, kommentarlos aufs Schandmaul geklopft hätte.)

Den meisten Leuten, die sich als Connaisseure des Jazz aufführen, obwohl sie bloß Nerds sind, also Fans mit Akzent auf jenem Fanatismus, der im Wort steckt –, diesen eingebildeten Kennern gilt es als Skandal, daß Dizzy in und mit der Musik soviel Schabernack trieb. Diese Sauertöpfe können es im Grunde nicht ertragen, wie ein unfaßbar talentierter Mensch stets nach dem Spaß suchte, der in den Noten steckt, und für einen guten Lacher bereit war, die Komplexität und Sprengkraft des Bop wie einen Bubenstreich erscheinen zu lassen. (Seine Memoiren sind mit der Zeile To Be or not to Bop überschrieben.)

Aber was ist die Kunst, gleich welcher Art, wenn nicht ein Spiel? Wie kann überhaupt irgendwas Kunst sein, das so tut, als wäre es nicht verspielt, sondern nützlich, praktisch, seriös? Das Leben hienieden ist bestimmt kein Spiel, wahrlich kein Vergnügen; und gerade daher haben wir Menschentiere uns Kunst erfunden. Die von Hohenpriestern und Moralaposteln aller Provenienz so gern gerügte „Frivolität“ der Kunst ist ihr wichtigster Vorzug.

Der wahrhaft große Künstler ist nämlich nicht befangen in Trauer übers irdische Jammertal, sondern macht sich über die Groteske namens Existenz lustig, wo er nur kann. Das majestätischste Gemälde der Neuzeit, Michelangelos „Giudizio Universale“ in der Sistina, enthält in seinen infernalischen Abschnitten lauter Karikaturen; die gemeinste zeigt den Maler selbst.

Der geniale Clown Dizzy und das Musikergenie Gillespie sind unlöslich eins gewesen. Der forcierte Unernst seiner Auftritte ist mir immer viel tiefer erschienen, als er auf den ersten Blick, aufs flüchtige Ohr wirkt. Auf astreine Nonsenslyrik folgt bald ein astrales Trompetensolo – wie hier, in einem meiner Lieblingsstücke des Meisters:


Nach der Nachricht seines Todes 1993 habe ich mich in mein Zimmer eingeschlossen und gesoffen und geheult, nur der Kater durfte rein (wollte aber nicht lange bleiben, weil ich immer wieder den epochalen Krach „Things to Come“
hörte). Mit Dizzy ging für mich der ideale Repräsentant einer Kunst, wie sie sein muß: selbstironisch, witzig, fern jeder Wichtigtuerei und rotzfrech, aber – oder gerade deshalb – immer inne, wie wichtig das Handwerk, die Form und die Tradition sind, wie nötig eine gewisse Strenge bei den Regeln des Spiels.

Dieser trübe Januarabend vor fast einem Vierteljahrhundert fiel mir wieder ein, als ich heute nachmittag im Radio einen lieb- und ahnungslos zusammengeklebten Vierminüter zum hundertsten Geburtstag John Birks‘ hörte. Und danach fiel mir ein, daß ich irgendwann einmal einen schönen und schön langen Essay über Dizzy, den genialen Musikerclown, schreiben möchte, über die utopische Fusion von Kunst und Quatsch. Und jetzt, genau ein Jahrhundert, nachdem es mit Dizzy losging, habe ich endlich einen Anfang gemacht, der einen Schluß gar nicht braucht.

Denn Gillespie und sein wohlgefügter Unfug werden bei mir sein, bis ich irgendwann selber aufhöre. Das wurde mir heute nachmittag im Zorn über ein beschissenes Radiofeuilleton bewußt. Und ehe ich zum Jubliläum wieder Rotz weine und keine Katze meinen Jammer aushält, seh ich mir lieber zum x-ten Mal folgendes an, ein Geschenk zweier himmlischer Spaßmacher an eine gottlose Welt – und bin einfach froh, immer noch da sein zu dürfen, um zu sagen, wie unsäglich ich Dizzy Gillespie vermisse:


Samstag, 21. Oktober 2017 23:59
Abteilung: Musicalische Ergetzungen, Zeuge der Geschichte

Ein Kommentar

  1. 1

    Aussehen und Mimik erinnern an Groucho Marx. Zufall?

    Die Erinnerung haben Sie ziemlich exklusiv. – Es kann sein, daß Dizzy sich die Technik seiner Wortspiele auch von Groucho abhörte; vom Marx-Bruder als Inspiration hat Mr. Gillespie allerdings nie gesprochen. Im Aussehen kann ich gar keine Ähnlichkeit erkennen. Und seine komischen Grimassen hat John Birks auf keinen Fall von Groucho gelernt. Der Lehrmeister – das hat Dizzy des öfteren erzählt – war vielmehr der wunderbare Fats Waller. Sehen Sie selbst, z. B. hier:
    https://www.youtube.com/watch?v=UAlkSdrO1DY
    Oder hier:
    https://www.youtube.com/watch?v=PSNPpssruFY
    Tut mir leid, daß ich eine nette Theorie zerstören mußte. KS

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