Die Spezies hat‘s verkackt (7)

Es gibt eine Notiz von Canetti: „Sich ausdenken,
was Tiere an einem zu loben fänden.“
Es ist eine ungeheure Vorstellung, läßt man sich
auch nur wenige Sekunden auf sie ein.

Jürgen Roth u. Thomas Roth: Kritik der Vögel


Nicht vor der Vielfalt der Nachrichten resigniere, nein, kapituliere ich immer öfter. Sondern vor der täglichen Gigatonne närrischer „News“, vor diesem Gebirge aus Promischrott und Politmüll, das alles in den Schatten stellt, was tatsächlich ins Licht gehörte. Mein Posting über die drohende Auslöschung der Insekten hat kaum angedeutet, wie grotesk, wie irrwitzig die „Top-Themen“ der Qual.medien mir erscheinen, gemessen am Weltuntergang, dessen Teilnehmer, nicht Propheten, wir inzwischen sind.

Angesichts einer Presse und eines Publikums, die den größten Teil ihrer Zeit mit sensationellen Nichtigkeiten vergeuden, während das bißchen Zeit davonrennt, in dem noch etwas bewahrt werden könnte vom kosmischen Wunder, das unsere Biosphäre, also das Leben an sich, darstellt –, angesichts einer Menschheit, die in der eigenen Scheiße erstickt und trotzdem immer mehr Scheiße produziert, nicht zum Zyniker und Misanthropen zu werden, fällt sehr schwer. Doch zum Haß auf die eigene Gattung fehlt mir die Bigotterie, zur Hoffnung, ein Killervirus oder dergleichen könnte unserer Art den Garaus machen, bevor wir die ganze Welt veröden, mangelt es mir an Hoffnungslosigkeit. Trotz allem.

Also lese und schreibe ich weiterhin auf, was mich derart entsetzt, daß ich‘s am liebsten nicht wüßte: Weil ich immer noch glaube, mit meinem Entsetzen nicht allein zu sein, noch immer an das Menschliche im Menschen glaube und daran appellieren will, obwohl so wenige zuhören und solchen Geschichten überhaupt zuhören mögen. Und wenn man am Ende nur zu sich selbst redet, hat eins, immerhin, die eigene Stimme bewahrt. (Ich bitte um Entschuldigung für das Pathos. Doch wann, wenn nicht beim Sterben der Erde, ist Pathos erlaubt? Besser: geboten?)

***

Die Clicks für apokalyptische Nachrichten fallen nur ein bißchen höher aus als die Anzeigenerlöse neben Öko-Horrorstorys. Darum lassen Redaktionen solche Geschichten gern ausfallen; das ist abermals die Weisheit des Marktes. Daher habe ich folgende Meldung, die nahtlos an die vom Insektensterben anschließt, nicht bei Spiegel online, Zeit.de, FAZ.net usw. gelesen, sondern auf der Website des NABU. Wir beobachten die apokalyptischen Reiter im Schweinsgalopp:

Deutschland hat in nur zwölf Jahren rund 12,7 Millionen Vogelbrutpaare verloren – das entspricht einem Minus von 15 Prozent. […]
Die Auswertung beruht auf den Vogelbestandsdaten, die die Bundesregierung 2013 an die EU gemeldet hat. Bislang war jedoch nur die Zu- oder Abnahme auf Artenebene im Gespräch, nicht was die Ergebnisse für die Gesamtzahl bedeuten.
NABU.de, 19.10.2017

Die Zahlen des Schreckens im einzelnen:

Rund 20 Prozent der verlorengegangenen Vögel stellt allein der Star, frisch gekürter Vogel des Jahres 2018. Mit fast 2,6 Millionen Brutpaaren weniger ist diese Art besonders betroffen. Die häufigen Arten Haussperling, Wintergoldhähnchen und Buchfink folgen auf den nächsten Plätzen. Neben dem Star finden sich mit Feldlerche, Feldsperling und Goldammer drei weitere Vögel der Agrarlandschaft unter den zahlenmäßig größten Verlierern.

„Verlierer“ ist gut. Als würde, unterm Strich, irgendwer, irgendeine Art hier gewinnen! Was aber die Vernichtung der Vögel mit dem Aussterben der Insekten zu tun hat, bringt die – m. E. viel zu sachliche – Meldung des Naturschutzbundes sachlich auf den Punkt:

„Sowohl bei den seltenen als auch bei den häufigen Arten sind die Vögel der Agrarlandschaft am stärksten betroffen. In der Entwicklung unserer landwirtschaftlich genutzten Flächen ist auch der mutmaßliche Grund für diesen massiven Bestandseinbruch zu suchen“, sagt NABU-Vogelexperte Lars Lachmann.
Im betroffenen Zeitraum hat der Anteil an artenreichen Wiesen und Weiden oder Brachflächen drastisch abgenommen, wohingegen der Anbau von Mais und Raps stark zugenommen hat. […]
Da stark anzunehmen ist, daß die intensive Landwirtschaft der maßgebliche Treiber für diesen massiven Insektenrückgang ist, besteht hier auch der größte Handlungsbedarf. Insbesondere der Einsatz hochwirksamer Insektizide wie Neonicotinoide muß verboten werden. „Daß der Insektenrückgang besonders in dem Zeitraum eingesetzt hat, in welchem auch diese Pestizide erstmalig auf den Markt kamen, ist sicherlich kein Zufall […]“, sagt Till-David Schade, NABU-Referent für Biologische Vielfalt.

Für die Naturschützer gibt es nur eine Konsequenz, die politisch zu ziehen sei; und es findet sich in der Tat keine andere, jedenfalls nicht im waltenden Wahnsystem:

Der NABU fordert die Koalitionsparteien einer neuen Bundesregierung daher dringend dazu auf, die Notbremse zu ziehen, und eine grundlegende Reform der Agrarförderung auf EU-Ebene durchzusetzen. Öffentliche Gelder sollen nicht mehr mit der Gießkanne verteilt werden, sondern aus einem Naturschutzfonds an Landwirte für konkrete öffentliche Naturschutzleistungen gezahlt werden.

Aber das wäre zu vernünftig bzw. nicht marktkonform. Eine Forderung wie diese müßte sich an denkende und fühlende Wesen richten, nicht an die Zombies, die den Willen des Kapitals exekutieren, d. h., nicht an die politischen Repräsentanten der Bourgeoisie. Ziemlich synchron mit den fürchterlichen Nachrichten aus der Welt der sterbenden Kleintiere war über die „Sondierungsgespräche“ der kommenden neoliberalen Koalition dies hier zu lesen:

Die Landwirtschaftspolitik dürfte vor allem zwischen Grünen einerseits und FDP und Union andererseits zu Zerwürfnissen führen. Landwirtschaftsminister Christian Schmidt warnte davor, einseitig auf ökologische Landwirtschaft zu setzen. Der CSU-Politiker ist überzeugt, „daß die konventionelle Landwirtschaft, so wie wir sie betreiben, so wie sie sich immer auch verbessert und entwickelt, daß sie Grundlage auch eines erheblichen Teils unserer Wirtschaft ist.“
Deutschlandfunk, 18.10.2017

Kann man wohl sagen. Schmidts Komplizin Julia Klöckner (CDU) kämpft gleichfalls lieber für die Agrarbarone, die ihre Partei großzügig sponsern, als für das Überleben des Planeten:

„Die CDU bekennt sich zur heimischen Landwirtschaft, wir dürfen die ökologische nicht gegen die konventionelle ausspielen – auch was die Auflagen für die Produktion betrifft“, so Klöckner weiter. Sonst würden uns andere Länder im Wettbewerb überholen.
Wallstreet online, 23.10.2017

Und das geht gar nicht. Bevor so was passiert, bevor Deutschland im kaputtalistischen „Wettbewerb“ verliert, und sei es um den führenden Platz in der Welthitliste der Umweltdrecksäue, lassen Androiden wie Klöckner (die ihre anderthalb Gedanken geborgt hat) und Schmidt lieber die Welt verrecken. Eine Welt, von der formierte Hirne wie diese nie auch nur den Ansatz einer Vorstellung hatten. Darum nennt man Typen wie sie Vertreter des Volks, nehme ich an.

***

Es ist natürlich kein Vergnügen, sich mit der Vernichtung der lebendigen Natur zu befassen. Doch was garantiert passieren wird, wenn wir es nicht tun, dürfte erst recht kein Spaß sein. In einer großartigen Brandrede für „Counterpunch“ schreibt Robert Hunziker:

First, global warming and now massive insect decline at a heart-stopping rate of decline. Is human society, en masse, committing suicide? The answer could be yes, humankind is committing harakari in the wide-open spaces for all to see, but nobody has noticed. […]
Not only that, flower-rich grasslands, the natural habitat for insects, have declined by 97% since early-mid 20th century whilst industrial pesticides literally cover the world. […]
The shocking and appalling loss of insect life is a serious wake up call, bells clanging in the public square: Humanity is self-destructing!
„Hidden Danger of Ecological Collapse“, 23.10.2017

***

Da ist ein Gedicht von Gottfried Keller, nicht sein gelungenstes, doch erfüllt von einem edlen Gedanken, von tiefer Liebe zur Natur und ihrer Schönheit. Arno Schmidt, der alte Bärenbeißer, hat das Poem gern und gerührt zitiert. Wir rasen nun einer Zeit entgegen, in der kein Kind mehr begreifen kann, wovon Keller sang. Die Vorstellung solcher kommenden Tage raubt mir alle Hoffnung. Die Lektüre des Gedichts bewahrt mir den Rest meiner Hoffnung. Trotz allem, trotz der Trauer um ein unwiederbringliches Mirakel, von der diese Verse inspiriert sind:

Die kleine Passion

Der sonnige Duft, Septemberluft,
sie wehten ein Mücklein mir aufs Buch.
Das suchte sich die Ruhegruft
und fern vom Wald sein Leichentuch.

Vier Flügelein von Seiden fein
trug‘s auf dem Rücken zart,
drin man im Regenbogenschein
spielendes Licht gewahrt!

Hellgrün das schlanke Leibchen war,
hellgrün der Füßchen dreifach Paar,
und auf dem Köpfchen wundersam
saß ein Federbüschchen stramm;
die Äuglein wie ein goldnes Erz
glänzten mir in das tiefste Herz.

Dies zierliche und manierliche Wesen
hatt‘ sich zu Gruft und Leichentuch
das glänzende Papier erlesen,
darin ich las, ein dichterliches Buch;
so ließ den Band ich aufgeschlagen
und sah erstaunt dem Sterben zu,
wie langsam, langsam ohne Klagen
das Tierlein kam zu seiner Ruh.

Drei Tage ging es müd und matt
umher auf dem Papiere;
die Flügelein von Seide fein,
sie glänzten alle viere.

Am vierten Tage stand es still
gerade auf dem Wörtlein „will“!
Gar tapfer stand‘s auf selbem Raum,
hob je ein Füßchen wie im Traum;
am fünften Tage legt‘ es sich,
doch noch am sechsten regt‘ es sich;
am siebten endlich siegt‘ der Tod,
da war zu Ende seine Not.

Nun ruht im Buch sein leicht Gebein,
mög‘ uns sein Frieden eigen sein!

Photo: „Direktsaat Probleme004“,
by Volker Prasuhn [CC BY-SA 3.0],
via Wikimedia Commons


Dienstag, 24. Oktober 2017 22:37
Abteilung: Die Spezies hat‘s verkackt, Kaputtalismus

3 Kommentare

  1. 1

    Oh, danke. Vielleicht muß man wirklich Gedichte rezitieren in Anbetracht der Lage. Ich stieß am Tag der apokalyptischen Nachricht vom Insekten-Massenmord ausgerechnet auf das folgende, vom wahrscheinlich humansten und sanftesten der englischen Romantiker, John Clare (der schon vor zweihundert Jahren sensibelst auf Naturzerstörung reagierte, allerdings nicht hier):

    INSECTS.

    These tiny loiterers on the barley’s beard,
    And happy units of a numerous herd
    Of playfellows, the laughing Summer brings,
    Mocking the sunshine on their glittering wings,
    How merrily they creep, and run, and fly!
    No kin they bear to labour’s drudgery,
    Smoothing the velvet of the pale hedge-rose;
    And where they fly for dinner no one knows—
    The dew-drops feed them not—they love the shine
    Of noon, whose suns may bring them golden wine.
    All day they’re playing in their Sunday dress—
    When night reposes, for they can do no less;
    Then, to the heath-bell’s purple hood they fly,
    And like to princes in their slumbers lie,
    Secure from rain, and dropping dews, and all,
    In silken beds and roomy painted hall.
    So merrily they spend their summer-day,
    Now in the corn-fields, now the new-mown hay.
    One almost fancies that such happy things,
    With coloured hoods and richly burnished wings,
    Are fairy folk, in splendid masquerade
    Disguised, as if of mortal folk afraid,
    Keeping their joyous pranks a mystery still,
    Lest glaring day should do their secrets ill.

    Am genauesten und knappsten hat es aber natürlich William Blake gewusst:

    Kill not the moth nor butterfly,
    For the last Judgment draweth nigh.


    Na danke, Peter Remane. Sie haben mich mit diesen Zitaten flennen lassen wie einen Siphon.
    Bzw.: Danke! KS

  2. 2

    Den meisten Menschen ist absolut nicht bewußt, was da abläuft und noch weniger das Wissen um die Irreversibilität der Ereignisse. Viel spannender ist doch die Frage, ob Sarah wieder mit Pietro Lombardi zusammen kommt und wann der Knallkopp Ross Antony oder die Zillertaler Zitzenzuzzler ihre neue CD herausbringen.
    Der Text von Dir zeigt auf, wo um uns herum der Point of no return bereits überschritten ist.
    Ergänzend dazu möchte ich auf einen brillanten Aufsatz zum Thema Klimawandel aufmerksam machen:
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-planet-schlaegt-zurueck
    „Ich verspreche Ihnen, daß es schlimmer ist, als Sie denken. Wenn Ihre Angst vor dem Klimawandel von der Sorge um steigende Meeresspiegel bestimmt wird, kratzen Sie gerade an der Oberfläche dessen, was an schrecklichen Dingen bereits im Leben eines heutigen Teenagers möglich ist.“

    Der Aufsatz von David Wallace-Wells im „Freitag“ ist in der Tat grandios, ein geradezu biblisches Stück. Danke!, daß Sie mich und die „Abfall“-Leser darauf aufmerksam machen. Ich habe lange nicht mehr etwas so Starkes, Mutiges gelesen.
    Sollte die Menschheit in irgendwelchen künstlichen Habitaten fortbestehen, werden die Generationen, die darin heranwachsen, solche Essays wie die von Wallace-Wells aufheben und ihren Eltern ins Gesicht schmeißen.
    Wir wissen, was passieren, was die kommenden Generationen knechten wird, und wir unternehmen: nichts. Die Menschen, die nach uns kommen. werden auf unsere Gräber pissen. Sie werden sich dafür schämen, von uns abzustammen. – Sofern noch Menschen sein sollten, die so was können. Ich bin in diesem Punkt ebenso unsicher wie Wallace-Wells. KS

  3. 3

    Das ist wirklich gruselig. Trotzdem danke! Ebenso schlimm und völlig unverständlich ist, daß diese wichtigen Nachrichten es nicht in unsere Qualitätsmedien geschafft haben, außer auf „Freitag“. Ab und zu gibt es auf arte ja kritische Sendungen, aber wer sieht das schon? Das gehört auf alle Kanäle, zur besten Sendezeit, und auf alle Titelseiten. Man sollte den Bundestag stürmen, den Text und Fotos auf eine Riesenleinwand projizieren und alle Abgeordneten zwingen, hinzusehen.
    Die beiden Gedichte sind wunderschön. Sie treiben auch mir die Tränen in die Augen. Und KS, dein Zorn tut mir gut! „Die nach uns kommen, werden auf unsere Gräber pissen.“ Manchmal tröstet mich der Gedanke, daß die Menschen es nicht anders verdient haben, geschieht ihnen recht und so, aber die Verantwortlichen wird es zuletzt treffen, sie leben hoch und trocken. Auch der Gedanke, daß die Natur sich rächt, ist irgendwie tröstlich, daß sie stärker ist als diese Ameisen, die sich Menschen nennen, daß sie ewig ist. Aber es ist einfach zum Heulen.

    Ja, das ist es. Zum Sprachloswerden ist es. Ich versuch’s trotzdem weiter. Noch habe ich ja Worte und einen Rest Hoffnung, mit den Worten etwas bewirken zu können. Ganz schön blauäugig, ich weiß. KS

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