Auf dem Gänsemarkt, nachts um halbelf
Warum die Freie und Handelsstadt Hamburg 1881 von Fritz Schaper eine Statue Gotthold Ephraim Lessings anfertigen ließ, ist mir lange ein Rätsel gewesen. Lessing steht für alles, was ein Hamburger Pfeffersack haßt: Humor, Herzenstakt, humanistische Bildung. Er mochte die kleinen Leute, die Verachteten und Verstoßenen, sie waren ihm sogar – man lese die Minna von Barnhelm! – viel lieber als die Herrschaften mit den dicken Taschen und Backen. An den Herrgott, wie so ein Handelsmann ihn sich vorstellt, hat er nie glauben mögen, dazu war ihm der Schöpfer viel zu lieb. Wie sehr er auf ein Jenseits ohne mitgeführte Privilegien und Vorurteile hoffte, das steht groß und erhaben in Nathan der Weise.
Noch mehr jedoch als den Vater im Himmel verehrte Lessing seine schöne Mutter Sprache, und er hat sich für das, was er ihr verdankte, in vielen vorbildlichen Sentenzen als braver Sohn erwiesen. So was zum Beispiel wird ein gewöhnlicher Geldgeier im Leben nicht formulieren können, egal wieviel er es sich kosten ließe: „Reiz ist Schönheit in Bewegung“. Denn für den Geldgeier ist nicht der Reiz schön, sondern allein dessen Befriedigung, und deswegen kann er nicht aufhören, nach Befriedigung zu jagen – im Handel, beim Kujonieren der Lohnsklaven, im Edelbordell, beim Steuerbetrug, in der Handelskammer. Und wird die Schönheit doch nie finden. Denn die bewegt sich fort, ganz reizend, ist nie zu besitzen. Kein Wunder, daß die allerreichsten Männer immer mit Frauen verheiratet sind, deren erotische Attraktion weit unter dem Sex-Appeal der Autos liegt, in denen die Nabobs von einer Schufterei zur nächsten eilen.
Ich wohne in Nienstedten, Hamburg, wo Menschen unterhalb der Millionen-Euro-Jahreseinkommensgrenze gar keine sind, weniger wert als Kanalratten. Das ist nicht übertrieben: Zum Beispiel Familie Kotz [Name kaum geändert; K. S.] von gegenüber antwortet beharrlich nie, wenn meine Frau oder ich en passant einen guten Tag wünschen. Sie gucken allenfalls beleidigt. Als müßten wir uns für den Gruß entschuldigen. So asozial macht nur Reichtum.
Seit vier Jahren mustere ich aus geringer Entfernung die Adligen des Geldes. Ich schaue sie an, wenn sie ihre verhärmten Gattinen spazierenführen. Ich beobachte ihre blökenden Blagen und deren Visagen. Wer Rottweiler mag, der wird sich bei solchen Ansichten wohlfühlen. Schönheit ist hier, in Nienstedten, einem der reichsten Bezirke der Welt, eher selten. Sogar die Katzen wirken mehr verblasen als hübsch.
Die schönen Menschen des Viertels sind, da möchte ich wetten, nicht von hier, sondern vom Escort-Service. Vermutlich wurden die ansehnlichen Kinder dieser impotenten, verkniffenen, totäugigen Couponschneider allesamt eingekauft. Zinsen von der Samenbank. Superreiche sind viel zu verdorben, um schöne Erben zeugen zu können. Eine steile These, zugegeben. Aber kennen Sie irgendein Supermodel, irgendeinen Filmstar, der bzw. das aus einem Multimillionärsviertel stammt? Eben.
Vielleicht wollten sich die Pfeffersäcke der Stadt Hamburg rächen, als sie im späten 19. Jahrhundert Fritz Schaper einige tausend Reichsmark rüberwachsen ließen, damit er ein erhabenes und haltbares Denkmal von Lessing anfertigt. Wissend, daß von dem, was sie tun, vom Scheffeln und Kujonieren, nichts sie selbst überleben würde als der Kontoauszug und gekaufte Nekrologe, wollten sie den Dreck, der ihnen anhaftet, vergolden lassen durch einen Helden, der zeitlebens solchen Schmutz an sich nicht duldete. Der seinen Kopf dazu benutzte, die Menschheit zu läutern statt auszuplündern. Also stellten sie ihn auf einen Sockel, den sie anpissen konnten, wenn grad keiner hinsieht, und rissen an sich, was von diesem edlen Manne zurückstrahlt auf die Erbärmlichkeit ihrer Existenz.
Im höheren, die Generationen übergreifenden Sinn, haben die Herren Pfeffersäcke noch Übleres bewirkt. Sie setzten Lessing auf ein Monument, von dem er nimmer sich wegrühren kann und alles angucken und schlucken muß, was ihre Klasse veranstaltet. Die oligarchischen Erben können ihn sogar öffentlich verhöhnen, seine – von Fritz Schaper durchaus schön getroffene – Idealität blamieren. Vielleicht errichtet der Bourgeois deshalb Denkmäler sogar für Leute, die ihm mal die Leviten gelesen haben. Er stellt den Bronzeguß auf einen belebten Platz und gibt ihn frei zur Erniedrigung.
Und irgendwann erscheint der Autofabrikant. Stellt seine Ausstellungs-
zelte auf. Denkt sich rein nichts. Was soll der auch denken? Vielleicht stört dieses Monument ein wenig bei der Ausleuchtung der Ware … Aber: Mit dem patinierten Denkmal davor kommen die hochglanzlackierten Karren im Zelt noch moderner daher. Also wird nicht darum gebeten, den alten Schrott zu entsorgen.
Hätte man es doch nur verlangt! Dann müßte Lessing jetzt nicht auf seinem Stuhl sitzen und bei Tag und Nacht unverwandt ansehen, was ihn überragt, ihn und sein Genie und sein Vermächtnis: Skoda. Es scheint, als sei er in Ehrfurcht erstarrt vor dem, was ihm das Wasser nicht reichen dürfte, jedenfalls nicht in einer Welt, die nach humanistischen Maßgaben eingerichtet wäre. Ein Vermächtnis hat er nicht mehr. Vom Komtur bleibt nichts als die Kontur – das wußte schon Don Giovanni, der Superheld der geilen, getriebenen Großbourgeoisie. Aus der Linken fällt das Manuskript. Es kann den Anti-Goeze oder die Ring-Parabel enthalten, egal. Das ist nichts, verglichen mit Preislisten von Skoda, und Lessings Weisheit ein Dreck neben dem Glück, ein Auto von Skoda zu besitzen.
Die Kapitalisten, die ihn gießen ließen für die Ewigkeit, schmolzen ihn zugleich ein in ihre Philosophie: Alles käuflich, alles zu vermarkten. Deshalb stellten sie das Monument auf einen Marktplatz. Lessing besaß, wie alle großen Aufklärer, einen ausgeprägten Sinn für Humor und Satire. Vielleicht also würde er zu dieser Demütigung beifällig nicken. Wäre nur der Hals nicht so steif. Möglicherweise würde er, der begeisterte Theatermann, sich für einen schönen Effekt coram publico vom Podest werfen. Wären bloß die Beine nicht so eisenschwer.
Aber eines werden sie Lessing nie nehmen, auch wenn aus der nervigen Hand das Manuskript stürzt – die Sprache und das, was er aus ihr zu formen vermochte: „Die Menge auf etwas aufmerksam machen heißt: dem gesunden Menschen-
verstand auf die Spur zu helfen.“ Um die Verkom-
menheit des Kaputtalismus zu kapieren, muß man dieses Gänsemarkt-Ensemble von Lessing-Statue und Skoda-Werbeshow wirklich nicht lange angucken.
Doch wer guckt denn noch hin? Während ich mit dem Smartphone knipse, bin ich – 22.15 Uhr, mitten in einer Millionenstadt – sehr allein. Zumindest das habe ich mit Lessing gemein. Ach, auch dies: Wir haben beide kein Auto.