Schwammintelligenz (2): Meinung und Mob

Die Mehrheit stellen in jedem Kollektiv die Arschlöcher.
Hermann L. Gremliza, Konkret 4/2013

Es ist nichts Besonderes, eine Meinung zu haben. Jeder Mensch hat eine, manchmal sogar eine eigene. Leider neigen Menschen dazu, ihre Meinung für etwas Letztgültiges zu halten. Dabei ignorieren sie, daß unter dem Druck der äußeren Umstände nichts sich schneller ändert als die Meinung. Karl Marx hat das als erster erkannt und prägend benannt: „Das Sein bestimmt das Bewußtsein.“ So wandelt sich der Maoist auf der Suche nach einem Auskommen zum Chefredakteur der Welt und der Rechtsanwalt, dem antizionistische linke Meuchelmörder als Mandanten ausbleiben, zum Advokaten judenhassender rechter Totschläger.

Bevor das Internet Karriere machte, war die Veröffentlichung einer Meinung Wenigen vorbehalten. So schimmerte um den Leitartikler, ganz gleich, ob man ihn verehrte oder verachtete, der Nimbus von Auserwähltheit, erglänzte die Meinung, die er zwischen Frühkonferenz und Druckabgabe aus sich preßte, im Schein von Bedeutung. Intellektuelle Brillanz störte dabei eher; der Leser wird nicht gern überfordert und möchte das Gefühl nicht missen, es sowieso besser zu wissen als der Autor. Je schiefer die Metapher, je trivialer die Reflexion, je opportunistischer die Moral, desto wohler fühlte das Publikum sich mit dem Leitartikel. Der heimliche Traum aller treuen Abonnenten war es von jeher, die Stelle des Vorbeters einzunehmen und die Gemeinde „Ja“ und „amen“ sagen zu hören, wenn sie losplärrten: „Rem publicam hab ich stets im Sinn. Man weiss es ja, dass ich ein codex bin. / Alt und jung ruft mir zum Preise, ich bin Saardams größtes Licht.“ Um sich so „klug und weise“ zu fühlen wie der Bürgermeister in Lortzings „Zar und Zimmermann“, setzte der Leser gelegentlich einen Brief auf; aber was der Durchschnittsdepp ergoß, schaffte es so gut wie nie in die kostbaren Spalten.

Seit jeder jederzeit seinen Senf abdrücken darf, nämlich in den Kommentarformularen der News-Portale, ist es zwar mit der Aura von Erlesenheit vorbei, welche die publizierte Meinung einst umwob, ganz gleich, wie bescheuert sie sich äußerte. Aber das hat der typische
Online-Kommentator noch nicht begriffen. Er bläst sich auf, als hinge von seiner Ansicht das Schicksal mindestens der Welt ab, und kriegt es nie mit, wenn einer der raren klugen Foristen ihm die heiße Luft rausläßt. Statt dessen freut der Trottel sich über die vielen anderen Dumpfmeister, die es halten wie er selbst und vor lauter Halbbildung noch den größten Unfug für voll nehmen, den sie irgendwo aufgeschnappt haben, und ihn ungescheut in den digitalen Flattersatz plappern.

Sie offenbaren dabei ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihrer schönen Mutter Sprache sowie zu Gedanken, die den Namen tatsächlich verdient haben. Daß zum Schreiben mehr gehört als der Besitz einer Tastatur, daß Denken erst beginnt, wo es sich in Frage stellt, daß, drittens, die Angst, sich vor sich selbst zu blamieren, schon kennen sollte, wer den Talmimut der ano- bzw. pseudonymen Meinungsbekundung reklamiert –: ist den gemeinen Online-Schwaflern so egal wie alles, was ihren Kopf dazu anhalten könnte, ihn ernsthaft zu benutzen. Gewiß ist das Meinunghabendürfen ein Menschenrecht. Das Schweigen allerdings auch. Auf ein Wort, das man in die Welt setzt, sollten hundert Sätze kommen, die im Papierkorb landen: Würden alle Menschen diese Regel beherzigen, gäbe es keinen Journalismus mehr, doch Anlaß zur Hoffnung, daß die Dummheit verstummt und die digitale Demokratisierung des Meinungs-
markts einen Beitrag zur intellektuellen Veredelung des Menschen-
geschlechts leistet. Vorher freilich marschieren Kamele durch ein Nadelöhr und schreibt Sascha Lobo ein Buch, das man mir schenken kann.

So lange die Wichtigtuer und die Windbeutel, die Wahnsinnigen und die Weltformelfinder das Web mit ihren Ansichten verstopfen und so lange es sich nicht herumgesprochen hat, daß die meisten Menschen ihre Meinung gern behalten sollen, und zwar für sich – so lange auch wird‘s nichts mit der Schwarmintelligenz, sondern bleibt es bei der Schwammintelligenz. Wenn hundert Idioten zusammenkommen, kann daraus nichts Schlaues erwachsen, weder in der physischen Welt noch im Social network. Steigt ihre Zahl in vier- bis sechsstellige Bereiche, wird daraus sofort ein Mob. Elke Wittich referiert sehr lesenswert in Jungle World 17/2013, wie das Gesindel sich auf Twitter und Reddit rasend schnell formierte, als die Polizei nach den Attentätern von Boston zu fahnden begann, wie dieses Heer von Schwachköpfen sich gegenseitig darin überbot, Gerüchte zu verbreiten, Rufmord zu betreiben und Spuren zu finden, die in eben jenes Nichts führten, das sie statt eines Verstandes haben.

Was also tun, um der schönen Utopie von der via Internet potenzierten Aufklärung und Wissensvermehrung aufzuhelfen? Man muß die Trottel loswerden. Und wie besiegt man sie? Indem man sie studiert und beschreibt und zugleich niemals die eigene, zutiefst menschliche Anfälligkeit fürs Dummschwätzen vergißt. Denn Sun Tse bereits sagte: „Kenne den Feind und dich selbst, und du wirst in hunderten Schlachten kein Risiko eingehen.“ Und: „Wenn du Armeen besiegen, Städte einnehmen oder bestimmte Personen beseitigen willst, so mußt du die Namen des Feldherrn, der Stabsoffiziere, Amtsdiener, Torhüter und der Leibwache genau kennen.“ Denn erst dann lassen sich passende Worte der Verachtung finden, die – man wird ja noch träumen dürfen – den Klotzköpfen den Hals so eng werden läßt, daß kein Ton mehr herausrutschen kann. Darum soll in der nächsten Folge meiner Netzkulturkritik die Armee der Nullchecker und Vollpfosten nach Gattungen sortiert werden.

Die Sun-Tse-Zitate folgen der von Samuel B. Griffith 1963 veranstalteten Ausgabe von
Die Kunst des Krieges. Auf Deutsch erschienen 2006 bei Taschen.

Photo/Vignette: Wikimedia commons/Unbekannter Photograph (Bundesarchiv)


Donnerstag, 2. Mai 2013 14:15
Abteilung: Schwammintelligenz, Undichte Denker

4 Kommentare

  1. 1

    „Wo ein liebend Herz sich äußert, ist man gern dabei …“

    Wahrscheinlich hat mich deshalb niemand zur Bibelarbeit auf dem Kirchentag eingeladen. KS

  2. 2

    Mit der Vervielfachung des Meinungsaustauschs steigt doch auch die Lerngeschwindigkeit. Da wo ich diskutiere, hat sich die Qualität des Diskurses im Laufe der Jahre durchaus verbessert. Immer gleich alle zum Schweigen bringen wollen … ts ts. Statt revolutionär geduldig zu sein und Lernfähigkeit zumindest zu erhoffen. Ich wette, dazu gibt es auch ein altes chinesisches Zitat, aber ich bin zu alt, danach zu suchen.

    Die Lerngeschwindigkeit steigern? Was soll das bringen außer noch mehr unverdautes Wissen in unsortierten Schädeln? – Das eigene Denken immer unter Verdacht haben, korrumpiert zu sein: Darauf kommt es an. Und um diese Selbstkritik einzuüben, hilft es durchaus, die Klappe zu halten. Gilt selbstredend auch für mich. Ruhe jetzt, Sokolowsky! KS

  3. 3

    Schwarmintelligenz ist ein Phänomen, das man aus der Bienenwelt kennt, in der sie auch seit Jahrmillionen erfolgreich funktioniert. Schwarmintelligenz in der Menschenwelt war in der Vergangenheit eher nicht mit Erfolg gekrönt und war eher rückwirkend. Anscheinend scheint uns unser individuelles Verhalten im Weg hin zu einer effizienten Gesellschaft zu stehen und ich denke, daß wir uns genau diese Individualität zu Nutze machen sollten. Denn auch wenn die Bienen erfolgreich sind, so muß ihr Kollektivverhalten nicht zwangsweise bei uns umsetzbar sein.
    Die Bienen und ihre Stärken

  4. 4

    Sibylle Berg hat gerade durch ihre Kolumne auf SPON gar nicht mal so ungeschickt solche Kommentare provoziert, die – unfreiwillig? – Ihre These bestätigen. Es ist fast schon ein bißchen erschreckend zu lesen, daß schon nach kürzester Zeit sich goebbelssche Diktion Bahn bricht und Literaturkritiker mit „Parasiten“ vergleicht …:
    http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/kolumne-von-sibylle-berg-ueber-das-ende-der-literaturkritik-a-917615.html

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