Zeuge der Geschichte (5)

Als ich vom Tod Henning Voscheraus las, war ich wieder einmal froh, niemanden näher zu kennen , der in der „HafenCity“* wohnt oder dort leben möchte oder mit Leuten befreundet ist, die da hausen.

Kurz darauf hat mir Voscherau, über den ich zeit seines Lebens nie lachen konnte, den Lacher des Tages beschert, nämlich mit dieser Schlagzeile auf der Website der „dümmsten Zeitung Europas“ (Hermann L. Gremliza über die Hamburger Morgenpost):

MOPO_Visionaer_24-08-16

Aufmacher bei Mopo.de, 24.8.16

Mit den Visionen hätte Voscherau, um seinen alten Mentor H. Schmidt zu paraphrasieren, allerdings gelegentlich zum Arzt gehen sollen. Aber nun ist zu spät.

* „Zehn unterschiedliche Quartiere bilden zusammen die HafenCity. Jedes Einzelne zeichnet sich durch ein unverwechselbares Profil aus und ergänzt so die Hamburger Innenstadt um neue Qualitäten“, heißt es in der Eigenwerbung der HafenCity Hamburg GmbH. „Qualitäten“ gefällt mir besonders gut, „unverwechselbar“ kommt gleich danach. – Ich weiß nicht genau, warum mir das jetzt einfällt, aber … Von Dashiell Hammett habe ich vor langer Zeit gelernt, daß es Sätze gibt, in denen mehr Lügen als Wörter stecken.

9 Kommentare

  1. 1

    „Trauer um einen Millionär“ sollte es wohl heißen.

    Aber das ist doch dasselbe! KS

  2. 2

    Der Herr Voscherau war ungefähr so sehr ein Visionär wie sein Herr Lehrer Schmidt ein Demokrat gewesen ist. In den Kategorien „Unerhört nichtig“ und „Bored beyond belief“ ist ersterer jedenfalls bestens aufgehoben. Aber den bürgermeisternden Immobilienanwalt aka „Vater der Hafencity“ auch noch in die „Zeugen der Geschichte“ einordnen? Also das beißt sich, finde ich. In den „Kaputtalismus“ wiederum hätte er prima reingepasst!
    Und überhaupt: warum hast du hier nicht lieber ein paar Worte über einen anderen jüngst verstorbenen Hamburger verloren, der beweist, daß diese von Bauherren vom Schlage Voscheraus so unverwechselbar verhunzte Stadt durchaus auch das Potential hat, echte Zeugen der Geschichte hervorzubringen?
    Ich meine Hermann Kant. Der Mann hatte nämlich wirklich seine Bauherren-Vision, oder: Er hatte eine Idee davon, wie ein besseres Deutschland zu bauen wäre, und das ganz ohne Immobilienanwälte. Was natürlich nicht die Art von Vision ist, die der „Hamburger Morgenpost“ eine posthume Riesentrauerschlagzeile wert war, versteht sich. Ein Redakteur der ebenfalls nicht sonderlich belichteten Berliner Schwester des hanseatischen Blödblättchens hackte nach dem Ableben Kants stattdessen Folgendes in die Tastatur: „Zudem betätigte er sich als Spitzel, unter anderem überwachte er den Literaturnobelpreisträger Günter Grass.“ Das tat der offensichtlich unheilbar kontrollsüchtige Kant also noch 1999 – fragt sich, für wen. Für den Verfassungsschutz vielleicht? Und wessen Schrifttum hat er wohl noch so überwacht? Das von Elke Heidenreich? Oder gar das von Hellmuth Karasek? Falls dem so war, dann muss der Überwacher dabei unendlich gelitten haben.
    Die Vorstellung jedenfalls, wie der Kant dem Grass in einem unbeobachteten Moment eine Wanze unter die Blechtrommel klebt oder bei Nacht und Nebel in Grassens Dichterklause einsteigt, um dessen noch nicht veröffentlichtes Plattfisch-Manuskript abzulichten, zwecks Vorlage bei den zuständigen Genossen der Staatssicherheit, Zentrale Arbeitsgruppe Nobelpreisverdächtige Hochliteratur/Hysterische Hinke-Lyrik beim Klassenfeind: Diese Vorstellung bescherte wiederum mir meinen lautesten Lacher des Tages, wenn nicht des Monats.
    Ganz ernsthaft: Ich kann mich nicht erinnern, daß ich den Voscherau jemals hab reden hören, kann mir jedoch ganz gut vorstellen, daß er so einiges redete, was in Mr. Hammetts Deutungsmuster ganz bestimmter Sätze passen könnte. Den Hermann Kant dagegen, den hab ich schon einiges reden hören und noch mehr hab ich – meistens mit Vergnügen und immer mit Gewinn an Wissen – von ihm gelesen. Weshalb ich auch weiß, daß er vielleicht nicht immer richtig lag, wenn’s ihm um die Durchsetzung seiner Sache ging, aber in seinen Büchern steckten bzw. stecken so einige Wahrheiten. Von denen vermutlich kaum eine je den Weg in irgendeine Morgenpost finden wird resp. in den „Medienapparat der westlichen Welt“, wie ihn Hermann Kant vor zehn Jahren in einem KONKRET-Gespräch mit Hermann L. Gremliza vergleichsweise freundlich bezeichnete. Damals hätte er ja sogar noch von „Lügenpresse“ reden können. Tat er aber nicht, denn er hatte außer seiner Sache und seiner Sprache auch noch seinen Anstand. Und da meine ich jetzt natürlich nicht die preußische Variante.

    Der Admin dankt für den schönen Nachruf auf Hermann Kant und läßt vom Blogger ausrichten, daß mit „Zeuge der Geschichte“ immer nur der hier gemeint ist: KS

  3. 3

    An den Admin: Den Nachruf hab ich sehr gern angefertigt und mit großem Vergnügen!
    An den Blogger: Ich will dich hier keinesfalls kategorisieren, denn so was kann ja immer rasant ins Auge gehn. Dennoch, und das mein ich als Kompliment: Dann habt ihr wohl was gemeinsam, Hermann Kant und du. Wenn ich’s mir recht überlege, sogar mehr als bloß die Zeitzeugenschaft. Denn Zeugen der Geschichte sind wir ja eigentlich alle. Insofern wir uns die Mühe machen, unsere Augen und Ohren offenzuhalten. Wobei dieser (oder: dieses? – ich hab echt keine Ahnung!) Blog gelegentlich doch sehr nützlich ist.

    „Dieses“ ist richtig. Das Blog muß (aber nicht nur) auf deutsch neutral sein. Wegen der Worte, aus denen das Kunstwort „Weblog“ zusammengefügt ward: „World Wide Web“ und „Logbook“. Beides Dinge, die auch auf deutsch („Weltweites Gespinn“ bzw. „Tagebuch“) nicht männlich noch weiblich nuanciert sind. Der „Abfall“ ist also DAS Blog. – Fürs Kompliment danke ich herzlich und erquickt. KS

  4. 4

    Aber, Herr Sokolowsky, was soll denn DAS „Gespinn“ sein? Handelt es sich nicht viel eher um DIE weltweiten Weben? (Wobei Sie natürlich mit DEM weltweitem rumGespinne recht hätten, aber ich glaube, das haben Sie hier ausnahmsweise mal nicht gemeint.) Was im Englischen sächlich ist, muss es nicht im Deutschen sein – finde ich.
    Es gibt noch viele Leute, die auch DER Blog sagen, was meines Erachtens dem Gleichklang mit dem „Block“ geschuldet ist.
    Ich habe das Gefühl, die Sache ist im Volksmund (nach dem sich jeder Linguist der Zukunft zu richten hat) noch unentschieden.
    Man kann die sprachliche Regel nicht immer gegen das Empfinden der Sprecher aufstellen.
    Aber vielleicht irre ich hier auch sehr.

    Ja, tun Sie. Aber echt sehr. Doch ich werde mich nicht wiederholen (diesmal).
    Falls Sie, lieber Karsten Wollny, es angenehmer finden, „der“ Blog statt „das“ Blog zu sagen – meine Güte, BITTE! Ich jedenfalls werde niemals „der Logbuch“ schreiben bzw. „der Blog“. KS

  5. 5

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    bei Wikipedia steht, daß sowohl die Artikel „der“ wie auch „das“ in Bezug auf „Blog“ gilden.
    Danach hätten dann die Herren Sokolowsky und Wollny beide Recht.
    Mit frdl. Grüßen, Daniel Lüdke

    Das steht fast identisch bei „Duden online“. So lange jedoch weder Wikipedia noch Duden eine plausible Begründung liefern, warum sie wortgeschlechtlich so herumeiern, das heißt, bevor sie zugeben, es eigentlich auch nicht genau zu wissen, scheint mir meine Lösung, dank Argument, ziemlich unantastbar. KS

  6. 6

    Voscherau war Notar. Man müßte mal die Grundbücher* der Hafencity einsehen, dann würde man wissen, bei wie vielen Grundstücksgeschäften seine Kanzlei dabei war. In Blankenese und Harvestehude war er jedenfalls gut im Geschäft.
    * Ein sog. „berechtigtes Interesse“ ist leider Voraussetzung für die Einsicht ins GB. Das haben idR nur Käufer/Banken.

    An der Unabhängigkeit und Überparteilichkeit des Notars Voscherau habe ich keinen Zweifel! Jedenfalls, was sein Verhältnis zur Sozialdemokratie betrifft. Aber die ist ja schon viel länger tot als er. KS

  7. 7

    Zu Voscherau kann ich nichts sagen, weil ich noch nie in meinem Leben genötigt war, mich mit Hamburger Lokalpolitik zu befassen. Auf Umwegen geriet ich aber gerade auf den Voscherau-Nachruf Jan Feddersens; und da ich weiß, daß Sie, lieber Kay Sokolowsky, den Kinder-FAZ-Kindergärtner für besondere Aufgaben ebenso schätzen wie ich, sei zu Ihrer Erheiterung der erste Absatz des (im übrigen, wenig überraschender Weise, völlig nichtssagenden) Artikels zitiert:
    „Wer in Hamburg Bürgermeister, also auch Chef eines Bundeslandes werden will, sollte über exzellente Verwaltungskenntnisse verfügen, darf aber nicht wie ein Beamtenschwengel aussehen oder bei öffentlichen Auftritten auch nur daran erinnern, eigentlich ein gehoben gebildeter Ärmelschoner zu sein. Henning Voscherau, Sohn eines Schauspielers und der hanseatischen Bühnenkultur verbunden, hatte diese Aura verinnerlicht.“
    Eine Aura verinnerlichen – das muß man erstmal hinkriegen. Schon ein kleiner Teufelskerl, dieser Voscherau! Was für eine Aura er eigentlich denn nun verinnerlicht hatte, fragen Sie aber bitte den Feddersen und nicht mich. Aber höchstwahrscheinlich weiß er das selber auch nicht.

    Ach ja, der Feddersen … Um auch mal was zu zitieren, aber etwas Wertvolles, nämlich aus Gisbert Haefs‘ großartigem Schmöker „Hannibal“: „Ich habe in meinem Leben schon viele eitle Schwätzer kennengelernt, aber der hier übertrifft alles.“ – Paßt auch prima zu Voscherau, fällt mir gerade auf. Und so schließt sich der Kreis. KS

  8. 8

    Schon Mark Twain hat sich über das wortgeschlechtliche Herumgeeiere in der deutschen Sprache amüsiert.
    Warum sollte ein Junge ein Geschlecht haben, ein Mädchen aber nicht?
    Ihr Argument ist bestimmt plausibel. Unantastbar ist es nicht.
    Dem Linguisten Anatol Stefanowitsch zufolge („Alle Sprachgewalt geht vom Volke aus“ – oder so ähnlich) beschreibt der Duden auch nur (wenn er es richtig macht) anstatt zu reglementieren.
    Es wird sich am Ende zeigen, welches Geschlecht sich für „Blog“ wirklich durchsetzt.
    Auch wenn ich mich an „das“ Blog gewöhne: „Der Block“ ist so fest im Empfinden verankert und klingt immer mit, dass „das Blog“ noch lange seine Schwierigkeiten haben wird.
    Eine andere Frage wäre mir, ob Daniel Lüdkes „gilden“ wirklich gilt bzw. gelten kann.

    Ich bin ein großer Freund der kreativen Schriftsprache und ein altgedienter „Duden“-Skeptiker – hier hab ich mal darüber geschrieben. Bei den Genera bin ich nicht so großzügig, da wünsche ich mir schon Sprachgefühl. Aber finden Sie das mal im „Duden“!
    Lüdkes „gilden“ gildet auf jeden Fall innerhalb der Grenzen der Freien und Hanselstadt Hamburg. KS

  9. 9

    Vielleicht könnte man sich darauf einigen, daß man weder „der“ noch „das“, sondern „die“ Blog sagt. Für die Frauenbewegung wird doch heutzutage immer noch viel zu wenig getan!
    Mit freundlichem Gruß,
    Daniel Lüdke

    Wenn schon „die“ Blog, dann bitte auch „der“ Bloggerin. KS

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