Der Trost der Worte


Es wird dem geschätzten Publikum gewiß nicht entgangen sein, daß ich mich seit Monaten nicht mehr bemühe, meiner Weblog-Revue der Grundgesetzleugner neue Exponate zuzuführen. Das hat einen simplen Grund: Ich sammle weiter, hebe mir die Veröffentlichung jedoch für einen anderen Ort auf. Die Verachtung von zumal Artikel eins der Verfassung ist mittlerweile der Konsens, auf den sich Qual.medien, Politik und mitlaufende Mehrheit geeinigt haben. Die Flut aus Menschenhaß, die sich aktuell über die sogenannten „Impfverweigerer“ ergießt, ist das einzige greifbare Resultat einer seit 20 Monaten völlig verfehlten Voodoo-Politik. Der soziale, rechtliche, psychische und physische Schaden, den nicht das Virus, sondern die „Maßnahmen“ und die sie begleitende Propaganda angerichtet haben, ist so immens wie die Ignoranz der Propagandisten und ihrer Gläubigen. Wer beim Studium der Tagespresse nicht selber merkt, wie vergiftet und verhetzt die Gesellschaft mittlerweile ist, der hat den Kopf dort stecken, wo die Sonne nie scheint.

Vorgestern zum Beispiel erzählte mir das Radio, gegen den Fußballtrainer Markus Anfang bestehe ein „ungeheuerlicher Verdacht“. Doch dann ging es nicht um Mord, Vergewaltigung oder Fahrerflucht mit Todesfolge, sondern um ein bloßes Gerücht: Anfang soll einen gefälschten Impfausweis benutzt haben (was er vehement bestreitet). „Ungeheuerlich“ sind Journalisten, die solches Vokabular für solche Nicht-Nachrichten verwenden, „ungeheuerlich“ ist ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der dergleichen versendet, und nicht geheuer ist mir, wie leicht und schnell sich in der „neuen Normalität“ die Rhetorik der Hetze als guter Ton durchgesetzt hat.

Eine Viertelstunde NDR Info reicht aus, um sich den Rest des Tages vor den Wörtern selbst zu ekeln, denn fast jedes Wort, das man da hören muß, ist von Selbstgerechtigkeit, Halbwissen, Stumpfsinn und Hysterie affiziert, nein: verdreckt. (Markus Anfang hat aus Angst vorm social-&-quality-media-lynchmob inzwischen seinen Posten zur Verfügung gestellt, bleibt aber bei seiner Darstellung. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen eines Anfangsverdachts. – Gegen Olaf Schlz wird in Sachen CumEx und Warburg-Bank weiterhin nicht ermittelt.)

Freilich sind nicht die Wörter schuld, wenn Schwachköpfe sie mißbrauchen, und am Ende bleibt unsereins nur die Aufgabe, die Schönheit einer Sprache, die den meisten Journalisten so fremd ist wie eigenständiges Denken, zu restaurieren und reklamieren. Denn schön ist dieses Deutsch, ganz gleich wieviel Mühe sich die meisten Deutschsprechenden geben, es zu schänden und häßlich klingen zu lassen.

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Nicht alle Journalisten halten sich an den Branchenkodex. Einige wenige legen durchaus Wert darauf, die Wörter statt wie Wegwerfwaren wie Preziosen zu behandeln. Einer, der seiner Mutter Sprache besonders viel Ehre gemacht hat, war auch mal Journalist, doch bloß in Teilzeit, und eigentlich war er im besten Sinn ein Entertainer des gesprochenen Worts, ein großer Gestalter der improvisierten Erzählung, ein Genie der plastischen Ad-hoc-Beschreibung und ein Maestro der verbalen Musikalität.

Günther Koch, dessen freundliches Gesicht diesen Blogpost illustriert, hat viele Jahre lang für das Radio live von den Schauplätzen der Fußballbundesliga berichtet; aber „berichtet“ ist ein viel zu karger Begriff für das, was er da betrieb. Kochs staunenswert schneller, vor Ideen und Witz glitzernder, sich nie an einer Phrase oder Gedankenlosigkeit stauender, vor Leidenschaft und zwiefacher Spielfreude brodelnder Redefluß hat die Dynamik und das Drama der Matches auf eine Weise ins Wort übersetzt, die in ihren größten Momenten durchaus Sprachkunst genannt werden darf.

Der kundigste Bewunderer der One-man-show Günther Koch ist seit vielen Jahren mein werter Kollege und Herzensbuddy Jürgen „Doc“ Roth. Selbst ein vorzüglicher Wörterschmied sowie Kenner des Fußballsports, hat Roth den singulären Beiträgen Kochs zur Radiosprachkunst bereits 1997 mit der CD „Wir rufen Günther Koch“ ein würdiges Denkmal gesetzt; 1998 folgte mit „Wir hören Günther Koch“ eine weitere Huldigung. Die vergangenen Jahre hat Roth vor allem damit verbracht, eine wuchtige Biographie des Live-Reportagen-Meisters zu recherchieren und zu verfassen. Denn morgen, am 22. November, wird Günther Koch 80 Jahre alt, und da ist es Zeit für einen Salut und für die Bilanz eines hochinteressanten Lebens.

Gleichsam als Begleitprodukt des Buchs (das unter dem abgründigen Titel Wir melden uns vom Abgrund im Verlag Antje Kunstmann erscheinen ist) hat Jürgen Roth im Auftrag des DLF das Radio-Feature „Wir rufen Nürnberg – Auf den Spuren der Reporterlegende Günther Koch“ geschaffen. Weil ich die Ehre hatte, das Stück vorab zu hören, weiß ich, daß Roth hier ein genuines Exemplar Rundfunkkunst gelungen ist, welches dem Phänomen Koch hervorragend gerecht wird und auch für Leute, die mit Fußball eher nichts anfangen können, ein ästhetischer Genuß ist, sofern sie offene Ohren haben. Der DLF faßt in seiner Programmvorschau den Inhalt so treffend zusammen, daß ich mit Vergnügen und ohne Auslassung zitiere:

Nur wenige Fußballreporter sind so oft und so inständig mit Lob bedacht worden wie er. Für die einen ist er ein „genialer Solist“, für andere „die Stimme des Fußballs“ schlechthin. Günther Kochs furioser, einfallsreicher und emphatischer Stil machte ihn zu einem Sportjournalisten der besonderen Art. Der selbstbewußte Reporter und engagierte Clubberer ist allerdings nicht unumstritten. Die unverhohlene Parteinahme für den 1. FC Nürnberg sorgte auch für Irritationen. Im Jahre 2003 mußte sich der studierte Pädagoge entscheiden: für die SPD in den bayerischen Landtag gehen oder sich weiter aus dem Stadion melden. Er blieb seiner Reporterleidenschaft treu.

Aus Gründen bzw. Abgründen des Programmschemas mußte das Feature, dessen Finale eine brillante Hommage an die O-Ton-Collagen Ror Wolfs ist, leider in zwei Teile zerhauen und auf verschiedene Sendeplätze verteilt werden. Der erste Akt findet heute um 18.05 Uhr bei Deutschlandradio Kultur in der Sendung „Nachspiel“ statt, der zweite um 23.05 Uhr beim Schwestersender Deutschlandfunk im „Sportgespräch“. Selbstverständlich und zum Glück finden Sie die Sache auch in der Audiothek des DLF.

Verpassen sollten Sie, liebe Leserin, guter Leser, jedenfalls nicht, wie Günther Koch singt: „Tor für die Clubberer – ich krieg a Kind“; wie er reimt: „Der Club ist ein Gedicht, doch interpretieren kann man es nicht“; wie er Rilke parodiert: „Wer jetzt kein Tor geschossen hat, der schießt überhaupt keins mehr“; wie er konkrete Poesie extemporiert: „Ja, ja …! Und dennoch nein“; und wie er wehmütig feststellt: „Jetzt weiß ich, der Fußball ist kaputt“. Was – also das Kaputtsein – einer der Gründe dafür ist, daß im aktuellen Radio kein einziger Fußballreporter solche Artistik zelebriert wie der Wortakrobat Koch (der schon als Novize, anläßlich einer Tischtennisreportage, pures Gold spann).

Einen weiteren, nicht minder gewichtigen Grund für die Nullität der modernen Sportkommentiererei nennt ein kongenialer Kollege Kochs, Manni „Die Stimme des Westens“ Breuckmann. Doch welchen, das müssen Sie schon selber hören. Roth hat nämlich für sein Prachtstück auch mit Weggenossen der Legende, hat mit dem klugen Helmut Böttiger und er hat mit Fußballfans gesprochen. Wer gut aufpaßt, kann sogar den Autor hören, wie er lacht und seinem Freund Günther Koch gelegentlich bescheid gibt: „Du blöder Hund, du blöder!“ (Das ist – wir befinden uns während der Aufnahme in Franken – keine Beleidigung, sondern ein Kompliment.)

Ein wahrlich blöder Hund aber muß genannt werden, wer die Radiokunst schätzt und sich trotzdem dieses akustische Kleinod, diese 45 Minuten voller wohlgesetzter, schöner und tröstlicher Worte, Sätze, Perioden entgehen läßt.

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Ob meine Beiträge zur deutschsprachigen Poesie mehr sind als Spielerei und Etude, Travestie und Pose, sollte jemand anderes als ich beurteilen. Aber ich weiß schon gut und ich kann erklären, was ein rührendes Gedicht, ein feiner Reim oder ein versierter Vers ist, denn seit früher Kindheit suche ich die Magie und den Trost der Worte am liebsten in Liedern und Lyrik.

Vor ein paar Tagen durfte ich ein leuchtendes Beispiel Volksdichtung kennenlernen, und zwar aus den Mündern zweier höchstens zehnjähriger Mädchen. Während ich an einem Spielplatz vorbeischlurfte, auf dem die Gören im Klettergerüst hingen, fingen sie zu krähen an:

Kinderschokolade
macht den Penis grade
macht die Titten rund
ficken ist gesund.

Dann lachten sie so grell und frech und herzerfrischend, wie nur Kinder es können; und ich tat, meiner Rolle als alter Griesgram gerecht, als hätte ich nichts gehört. Prompt wiederholten sie die Strophe und ihr gelles Gackern, und so konnte ich mir die Schweinerei, die sie nicht entfernt verstehen, aber wegen der Schweinösität toll finden, merken.

Der Trost in ihren zotigen Worten aber liegt – vom befreiend und beglückend Komischen abgesehen – darin, daß diese Frechdachse einfach kindisch sein können auch noch nach 20 Monaten Verängstigung, Maskenqual und Testzwang. Es waren übrigens und allerdings keine Lehrer*innen in der Nähe.

In dieser bleigrauen Zeit ohne Geschichte und ohne Zukunft, in dieser endlosen Corona-Gegenwart haben mir die beiden Bälger ein bißchen Zuversicht geschenkt (und ein Lachen), und dafür werde und will ich ihnen ad morbus Alzheimer dankbar sein.

Photo: „Günther Koch 2011“,
by Camillo von Beulwitz [CC BY-SA 3.0],
via Wikimedia Commons


Samstag, 20. November 2021 23:05
Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten, Qualitätsjournalismus, SARS-CoV-2

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