Die Zukunft war gestern: Prolog, Phase 1

Teaser_Zukunft_(c)_Kay_SokolowskyEin Licht in der Nacht
Alles fängt an mit der Mondlandung. Ich hatte nur noch drei Tage übrig bis zu meinem sechsten Geburtstag und bloß vier (freilich endlose) Wochen bis zur Einschulung. Weil mein Vater sich das welthistorische Ereignis nicht allein ansehen mochte, durfte ich, nachdem ich mich beim majestätischen Start der Saturn V eine knappe Woche zuvor als Bewunderer geoutet hatte, bis in die Morgenstunden bei ihm auf dem alten Sofa sitzen. Eine Nervosität, viel zu groß für einen winzigen Menschen wie mich, wühlte in mir. Ich befürchtete, einerseits, daß mein Vater, ein ausgesprochen launischer Mann, mir unvermittelt den Abmarsch ins Bett befehlen würde, und ich malte mir Verteidigungsstrategien aus, wohl wissend, daß sie gegen die brachialen Erziehungsmethoden meines Alten alle versagen würden.

Was mich andererseits weit mehr erregte, war das, was in verwaschenen Schwarzweißbildern aus unserem Fernsehkasten flackerte wie Licht von einer anderen Welt (das es in gewisser Weise ja war). Die Mission Control in Houston, eine riesige Halle voller archaischer Computerterminals und schick in die Möbel versenkter Röhrenschirme (eine Vorahnung heutiger Flatscreens), dazwischen Männer in kurzen Ärmeln mit Kommunikationsbestecken, schwer wie ein Ritterhelm auf den kurzgemähten Haaren. Die „Eagle“, gleißend in dem erbarmungslosen Licht, das auf Himmelskörper ohne Atmosphäre einstürzt. Das aufgeschnittene 1:1-Modell der Landefähre im deutschen Fernsehstudio. Irgendwelche Niemandsmenschen kletterten darin herum, Astronauten simulierend. Als hätte Fritz Lang die Regie gehabt (in gewissem Sinne hatte er sie).

Die sechseinhalb Stunden zwischen dem harschen Aufsetzen des LEM im Meer der Ruhe und Armstrongs wackliger Kletterpartie hinab in den Mondstaub schienen nicht vergehen zu wollen, aber ich kam nicht mal auf die Idee, mich zu langweilen. Irgendwann schlief ich überraschend ein, weil kleine Kinder sich beim Nichteinschlafenwollen öfters selbst hereinlegen. Das reguliert sich bei manchen nie wieder. (Nun glotzen Sie nicht so, ich bin doch deshalb kein VERBRECHER geworden!) Mein Vater, angenehm väterlich und feierlich in diesen wahrhaft welthistorischen Minuten, weckte mich sanft, als es endlich ernst wurde. Und ich sah, in prächtig nebelhafter Unschärfe, einen milchweißen Amöbenfleck, das war Neil Armstrong, und einen strahlenden Streifen am unteren Bildrand, das war wahrhaftig der Mond, und aus dem Lautsprecher plärrten die unverzüglich Menschheitserbe gewordenen Grußworte des Kommandanten an die Daheimgebliebenen, und ich wußte: Von nun an ist alles möglich!

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Die folgenden Jahre vergnügte ich mich mit Phantasien, in denen ich als Astronaut durch das innere Sonnensystem sauste (mit Saturn und Venus als liebsten Reisezielen, Saturn wegen seiner Ringe, Venus, weil ich den Klang des Namens mochte), überall ein Souvenir von der Erde (der Einfachheit halber das bekannte Sternenbanner) hinterlassend und für Forschung und Wissenschaft unerläßliche Mineralproben einsammelnd, dabei namenlose Gefahren und unfaßbare Geschwindigkeiten meisternd. Es konnte nicht ausbleiben, daß ich sehr früh zum Science-Fiction-Addict wurde.

Dies beschränkte sich zunächst aufs Kino – die Godzilla-Schocker waren gemästet mit Science Fiction. Bzw. SF, wie ich fortan sagen werde, um Ihnen wie mir etwas Zeit zu sparen. (Dies wird trotzdem ein elend langer Text werden. Ich muss ihn wohl auf mehrere Lieferungen verteilen, damit Sie, geehrte Leserin, geehrter Leser, das Abendessen nicht versäumen. Nur so als Warnung aus dem Off. Weiter im Text:) Meine SF-Bedürfnisse wurden von dem unbesiegbaren japanischen Supermonster reichlich bedient. Den Rest übernahm im Fernsehen die angenehm unherrenmenschlich das Weltall und sich selbst erkundende Crew der „Enterprise“.

Die SF-Literatur lockte mich in jenen Tagen wie der Zehnmeterturm im Freibad: Ich versprach mir höchste Wonnen, scheiterte aber an meiner mangelnden Reife. Aber das Ziel verlor ich nie aus den Augen. Anders als die Amerikaner, die zu eines Knaben herber Enttäuschung 1972 die Mondflüge einstellten und mir hinsichtlich meines Berufswunsches gewisse Zweifel bereiteten. Welche aber erst 1976 Überhand gewannen, als der Augenarzt mir eine Kurzsichtigkeit diagnostizierte und eine übrigens potthäßliche Brille verschrieb (heute sind diese Gestelle schwer in Mode, vor allem bei Leuten, die irgendwas mit Medien zu tun haben). Kosmonauten dürfen, das wußte ich, seit ich sechs war, nicht unter Sehschwäche leiden. Ich hatte gute Gründe, mich in der Startphase meiner Pubertät wie der unglücklichste Junge der Welt zu fühlen. Zerstörte berufliche Zukunft und dieses Scheißnasenfahrrad obendrauf – danke, lieber Gott! (Er und ich haben uns seither nicht mehr viel zu sagen.)

Ich habe vergessen, welcher SF-Roman mein erster war. Papa hatte im Bücherregal ganz unten einen Stapel „Terra Nova“-Heftromane deponiert. Die Titelbilder guckte ich mir bei jeder Gelegenheit an, das heißt, in den zehn bis 15 Minuten Abwesenheit sämtlicher anderer Angehöriger der großen Familie, die mir spärlich gewährt wurden. Irgendwann kriegte es Papa natürlich doch mit. Aber statt des erwarteten, unausweichlichen Ausbruch seines Jähzorns … Ein Grinsen! Und die ausdrückliche Erlaubnis, die Hefte zu lesen. Ich solle sie aber ordentlich behandeln, sonst gebe es auf den Mors. Als hätte ich das nicht gewußt.

Am liebsten waren mir die Titelillustrationen, die von Raumfahrt halluzinierten und riesige torpedoartige Stahlzylinder zeigten, welche mit Triebwerksgondeln und Strahlenkanonen behängt waren wie der Christbaum mit Kugeln und Lametta. (Ein interessanter Fall vorpubertären Phallizismus, finden Sie nicht auch? Finden Sie nicht? Finde ich auch.) Am meisten beeindruckte mich jedoch das Cover von König der Wasserwelt. Das ist einer jener mittlerweile von den Aficionados der SF gepriesenen Abenteuerromane, die aus der Schreibmaschine von Jack Vance nur so herausfielen, damals, in der Prähistorie, den silbernen Fünfzigern und Sechzigern. (Aber bereits im goldenen Jahrzehnt, den Dreißigern, mischte er eifrig mit.) Vance benutzte den Hokuspokus der minderen SF, all das pseudowissenschaftliche Gehampel bloß als Ausrede, um klassische Heldensagen in neue Gewänder zu kleiden. Er hob den Saum des Universums auf wie die Scheherazade ihren Schleier und zum Vorschein kamen Geschichten über Geschichten. Piraten, Schmuggler, liebenswerte Halsabschneider (Han Solo in „Star Wars“ wirkt wie aus dem Vance-Bestiarium entlaufen), skrupellose Tyrannen, geheimnisvolle Frauen, Vamps und Amazonen in einem, dazu tragische Helden, tonnenweise Action sowie monströse Fabelwesen.

Eines davon war auf dem Cover von König der Wasserwelt zu besichtigen, der König höchstselbst. Ein pottwalgroßes Ungetüm, das aus nichts als Zähnen, messerscharfen Flossen und Wut zu bestehen schien. Für die besondere exoterrestrische Anmutung sorgten die beiden an organischen Antennen befestigten Glubschaugen.

Dieses Ungeheuer wirft seinen mächtigen Leib gegen eine brüchige Klippe. Außer den Attacken der Kreatur hat der Felsen auch einen strudelnden, kochenden, dampfenden, fauchenden, gischtenden Fluß auszuhalten (vielleicht übertreibt hier meine Erinnerung). Auf dem kleinen Plateau des Kliffs liegt ein havariertes Raumboot. Elegant und schnittig, ein Muß für jeden Sternentramp. Weil neben dieser geilen Maschine ein Mann im eng geschnittenen Raumanzug posiert, panikfrei des Monsters Zorn beobachtend (vielleicht ist er ein Forscher und der Metallkasten mit den Linsen und Skalen in seinen Handschuhen ebenso eine Superwaffe wie ein unfehlbares mobiles Labor), weil dieser Abenteurer dicht neben dem Gleiter steht, sind Größenvergleiche leicht anzustellen. Der König der Wasserwelt ist noch gewaltiger, als es auf den ersten Blick schien.

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Natürlich wollte ich wissen, wie die fatale Notlandung des Helden ausging. Ich war nämlich das, was man in Hamburg einen „Pups“ nennt, gerade mal neun Jahre alt, und ich hatte die bittere Wahrheit noch nicht inhaliert, daß die Verpackung eher selten dem Inhalt entspricht. In der SF-Literatur sogar noch seltener.

König der Wasserwelt hatte in seiner „Terra Nova“-Ausgabe zum Glück das US-Cover übernommen. Leider habe ich vergessen, wer der erstklassige Gestalter der dramatischen Szene gewesen ist. Wahrscheinlich stand er nicht mal im Impressum. Mit dem Nachdruck des ursprünglichen Titelbildes verbrauchte sich leider schon jeder Respekt vor dem Original. Vance produzierte wie am Fließband Taschenbücher und verzweifelte an deren streng limitierter Bogenzahl. Seine bis zum Knirschen der Logik komprimierten Erzählungen mit ihren unirdischen Farben, betäubenden Düften, unmöglichen Geräuschen, grotesken Schatten wurden nun abermals heruntergebrochen auf das deutsche Groschenheftformat (DIN-C5, ca. 180.000 Anschläge inklusive Leerzeichen) – das war eine Amputation, die sie nicht überleben konnten.

Was die Folterknechte von Pabel-Moewig (eine Subdivision des finsteren Bauer-Imperiums) an zappelndem Fleisch übrig gelassen hatten, lockte und überforderte mich zugleich. Fünf- oder zehnmal versuchte ich, das Heftchen bis zur letzten Seite zu lesen. Aber ich habe nie erfahren, wie der Tapfere auf dem Kliff, belagert von der elementaren Macht der Natur, aus der kniffligen Situation entkommt. Ich habe nie herausgefunden, ob er mehr der Typ Jacques Cousteau hoch Neil Armstrong oder Erroll Flynn mal Burt Lancaster (mein Lieblingsfilm zur selben Zeit: „Der rote Korsar“) gewesen ist. Ich bin jedesmal auf halber, manchmal auf einem Drittel der Strecke ausgestiegen.

Das sind Frustrationen, die prägen. Ich habe es auch später nie geschafft, einen, irgendeinen Roman von Jack Vance zuende zu lesen. Ich kenne bloß Fragmente. Sie stecken voller atemberaubender Details und Schauplätze und Charaktere. Das Erzähltempo pulsiert in gezügelter Kraft. Nur wo es not tut, explodiert Vance wie eine Supernova. Man kann das erfreulicherweise mittlerweile in einigen ungekürzten und recht ordentlich übersetzten deutschen Versionen überprüfen.

Dennoch – ich scheitere immer wieder an Jack Vance. Warum? Weil ich Angst habe, an ihm zu scheitern. Self-fulfilling prophecy: eine gute Bekannte im Leben jedes Hardcore-SF-Fans. Bei meinem (hoffentlich) letzten Umzug habe ich König der Wasserwelt, diese zerfledderte Reminiszenz an eine Zeit, in der alles möglich schien, diese Wundertüte, die ich meinem Vater engelszüngig für meine eigene Sammlung abschnackte: in den Altpapiercontainer geworfen. Da können Sie mal sehen, wie wenig ich mittlerweile von der Zukunft noch erwarte!

In der nächsten Folge: Kay Sokolowsky erforscht den Weltenraum, wird von Scheer-Dämonen sukkubiert, entkommt mit knapper Not und vergöttert den Voltz, weil der den Willi macht. Wird die Menschheit überleben?

2 Kommentare

  1. 1

    Schön, aber wenn ich mir einen Einwurf erlauben darf: die Beschreibung der Mission Control in Houston soll doch vermutlich den damaligen Eindruck wiedergeben? Dann passt aber das „archaische“ nicht als Epitheton.
    PS. Meine ersten Erinnerungen an Utopische Literatur/Wissenschaftliche Phantastik – das Pendant zur westlichen SF – sind mit Stanislaw-Lem-Ausgaben bei Volk und Welt verknüpft. Und seine allerersten Romane (z. B. „Eden“) waren ja auch SF, während die späteren mehr dystopisch wurden.

    Lieber Andreas L, danke für den Kommentar! Ihr Einwurf trifft allerdings ins Leere: Ich gebe nicht den damaligen Eindruck wieder, sondern meine akute Erinnerung an diesen Eindruck. Da kommt es natürlich zu anachronistischen Verwicklungen, und die möchte ich nicht wegretuschieren. – Der sehr große Herr Lem wird in der KONKRET-Serie selbstverständlich auch abgefeiert werden; mit welchem Roman, verrate ich noch nicht. „Eden“ war allerdings in der ganz engen Auswahl: Ein Meisterwerk, wenn es je so etwas gab! Mit dem späten Lem kann ich leider genauso wenig anfangen wie Sie. Ein bißchen erinnert das an den Fall Arno Schmidt: die frühen Werke ein Pandämonium der schieren erzählerischen Kraft; das späte Oeuvre kommt vor lauter Essayistik und Philosophie überhaupt nicht mehr aus dem Sessel. KS

  2. 2

    Lieber Herr Sokolowsky, Ich habe mit einiger Vorfreude die Ankündigung gelesen, dass sie in den nächsten KONKRET-Heften Science-Fiction-Klassiker rezipieren wollen. Nun will ich Sie keineswegs zu etwas nötigen, möchte aber doch anmerken, daß die großartige amerikanische Autorin C.J. Cherryh („Downbelow Station“, „Merchanter’s Luck“ u. v. a.) nicht fehlen darf. Ich habe mich aufgrund der Dichtheit ihrer Erzählungen nach der ersten Seite „verliebt“. Seitdem lese ich sie rauf und runter.

    Lieber Herr H., herzlichen Dank für Ihren sehr freundlichen und interessanten Kommentar! Leider wird kein einziges Cherryh-Buch in meiner Serie einen Platz finden. Das hat einen ziemlich simplen Grund: Ich habe ausschließlich Werke ausgewählt, die mir sehr viel bedeuten. Und ich konnte, bitte um Entschuldigung, nie einen Zugang zu den Romanen von Cherryh finden. Wiewohl ich der Autorin Kunstfertigkeit und Klugheit nicht bestreiten möchte – es geht mir mit ihr wie mit dem großen Jack Vance: jede Menge Respekt und sogar Bewunderung, aber nie was ausgelesen. – Sie dürfen mich jetzt verdammen, ich hab’s verdient. – Lieber wäre mir freilich, würden Sie in meiner höchst subjektiven Auswahl Bücher wiederfinden, die auch Ihnen am Herzen liegen. Ceterum censeo: ad astra! KS

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