Doktor Lügners Ehrentag



Heute begeht die protestantische Kirche das 500. Jubiläum des Thesennagelns zu Wittenberg. Es ist der Höhepunkt des sogenannten „Lutherjahrs“. Obschon der 31. Oktober in vielen evangelisch dominierten Bundesländern seit langem kein gesetzlicher Feiertag mehr ist, geben heuer ausnahmsweise und bundesweit die Landesregierungen den Untertanen frei, „mit Blick auf die welthistorische Bedeutung der Reformation“ (Luther2017.de).

So erfreulich ein Mußetag stets ist – der Blick aufs Welthistorische usw. scheint der Regentschaft nur deshalb eine Pause von der üblichen Fron wert, weil sie in Luther vor allem den vorbildlichen Opportunisten schätzt, den Revolutionär, der ganz schnell abschwur, seine eigene Klasse verriet und ohne Zwang zum brutalen Apostel der Zwingherren wurde.

Man wird daher heute auf sämtlichen Kanälen sehr viel Quatsch mit Soße hören, sehen und lesen können über Luther als „Vorkämpfer der Freiheit“, „Helden des Gewissens“, „Erneuerer der Christenheit“, „Vater der deutschen Sprache“, „Urahn der modernen Demokratie“. All diese Heucheleien werden ein Extrakt sein aus Millionen Gallonen „Hirnjauche“ (Karl Kraus), die seit Anfang des Jahres über uns ergossen wurden, um einen „auf den Raum seiner Nagelschuhe beschränkten Bauern“ (F. Nietzsche) zu idolisieren.

Um Luther stattdessen zu verachten, genügt es, seine Haßtiraden auf die Juden zu lesen. – Verabscheuungswürdig aber war der Mönch, der alte Dogmen bekämpfte, um seine eigenen, nicht minder verheerenden in die Welt zu setzen, ebenso als „Reformator“. All das Geschmocke, Getue und Geseier über Luthers Schisma als „Akt der Befreiung“ etc. soll bloß verdecken, wie er noch zu Lebzeiten der begeisterte Todfeind aller echten Freiheit und aller Geknechteten wurde. Der Feiertag, der uns gesetzlich verordnet worden ist, gilt einer „Reformation“, die am Ende allein der alten Ordnung, den alten Mächten diente.

Wie sehr dieser Luther jenen bürgerlichen „Revolutionären“ und „Reformatoren“ ein Vorbild war, die in dem halben Jahrtausend nach ihm gekommen sind, um die Ausgebeuteten erst für sich bluten und sie, sobald es ernst wird, im Stich zu lassen, hat niemand besser und grimmiger aufgeschrieben als Friedrich Engels in Der deutsche Bauernkrieg (1850/1870).

Wenn Sie wissen wollen, was von der „Reformation“ und ihrem Initiator, was außerdem von der 500-jährigen Treue des deutschen Bürgertums zu diesem „Ordnungsfanatiker“ (Egon Friedell) zu halten ist, sollten Sie die folgenden Auszüge inspizieren. Sie immunisieren für immer gegen die reaktionäre Propaganda, die über Luther und seine „welthistorische Bedeutung“ verbreitet wird. Außerdem ist Engels‘ knorriger Stil ein Genuß. (Die dagegen stark abfallenden Überschriften stammen von mir.)

***

Ein Revolutionär, der seine Revolution verkaufte

Luther hat in den Jahren 1517 bis 1525 ganz dieselben Wandlungen durchgemacht, die die modernen deutschen Konstitutionellen von 1846 bis 1849 durchmachten und die jede bürgerliche Partei durchmacht, welche, einen Moment an die Spitze der Bewegung gestellt, in dieser Bewegung selbst von der hinter ihr stehenden plebejischen oder proletarischen Partei überflügelt wird. […]
Die kräftige Bauernnatur Luthers machte sich in dieser ersten Periode seines Auftretens in der ungestümsten Weise Luft.
„Wenn ihr“ (der römischen Pfaffen) „rasend Wüten einen Fortgang haben sollte, so dünkt es mich, es wäre schier kein besserer Rat und Arznei, ihm zu steuern, denn daß Könige und Fürsten mit Gewalt dazutäten, sich rüsteten und diese schädlichen Leute, so alle Welt vergiften, angriffen und einmal des Spiels ein Ende machten, mit Waffen, nicht mit Worten. So wir Diebe mit Schwert, Mörder mit Strang, Ketzer mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht vielmehr an diese schädlichen Lehrer des Verderbens, als Päpste, Kardinäle, Bischöfe und das ganze Geschwärm der römischen Sodoma mit allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem Blut?“
Aber dieser erste revolutionäre Feuereifer dauerte nicht lange. […] Die Parteien sonderten sich und fanden ihre Repräsentanten. Luther mußte zwischen ihnen wählen. Er, der Schützling des Kurfürsten von Sachsen, der angesehene Professor von Wittenberg, der über Nacht mächtig und berühmt gewordene, mit einem Zirkel von abhängigen Kreaturen und Schmeichlern umgebene große Mann zauderte keinen Augenblick. Er ließ die populären Elemente der Bewegung fallen und schloß sich der bürgerlichen, adligen und fürstlichen Seite an. Die Aufrufe zum Vertilgungskampfe gegen Rom verstummten.

Das Wesen der Reformation

Von dieser Wendung, oder vielmehr von dieser bestimmteren Feststellung der Richtung Luthers, begann jenes Markten und Feilschen um die beizubehaltenden oder zu reformierenden Institutionen und Dogmen, jenes widerwärtige Diplomatisieren, Konzedieren, Intrigieren und Vereinbaren, dessen Resultat die Augsburgische Konfession war, die schließlich erhandelte Verfassung der reformierten Bürgerkirche. Es ist ganz derselbe Schacher, der sich neuerdings in deutschen Nationalversammlungen, Vereinbarungsversammlungen, Revisionskammern und Erfurter Parlamenten in politischer Form bis zum Ekel wiederholt hat. Der spießbürgerliche Charakter der offiziellen Reformation trat in diesen Verhandlungen aufs offenste hervor. […]
Wie unter den allgemein gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der damaligen Zeit die Resultate jeder Veränderung notwendig den Fürsten zugute kommen und ihre Macht vermehren mußten, so mußte die bürgerliche Reform, je schärfer sie sich von den plebejischen und bäurischen Elementen schied, immer mehr unter die Kontrolle der reformierten Fürsten geraten. Luther selbst wurde mehr und mehr ihr Knecht, und das Volk wußte sehr gut, was es tat, wenn es sagte, er sei ein Fürstendiener geworden wie die anderen, und wenn es ihn in Orlamünde mit Steinwürfen verfolgte.

Luthers Vernichtungskrieg gegen Plebejer, Bauern und Thomas Münzer

In Luthers nächster Nähe, in Thüringen, schlug die entschiedenste Fraktion der Insurgenten unter Münzer ihr Hauptquartier auf. Noch ein paar Erfolge, und ganz Deutschland stand in Flammen. Luther war umzingelt, vielleicht als Verräter durch die Spieße gejagt, und die bürgerliche Reform weggeschwemmt von der Sturmflut der bäurisch-plebejischen Revolution. Da galt kein Besinnen mehr. Gegenüber der Revolution wurde alle alten Feindschaften vergessen; im Vergleich mit den Rotten der Bauern waren die Diener der römischen Sodoma unschuldige Lämmer, sanftmütige Kinder Gottes; und Bürger und Fürsten, Adel und Pfaffen, Luther und Papst verbanden sich „wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“.
„Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muß!“ schrie Luther. „Darum, liebe Herren, loset hie, rettet da, steche, schlage, würge sie, wer da kann, bleibst du darüber tot, wohl dir, seligeren Tod kannst du nimmermehr überkommen.“
Man solle nur keine falsche Barmherzigkeit mit den Bauern haben. Die mengen sich selber unter die Aufrührischen, die sich derer erbarmen, welcher sich Gott nicht erbarmt, sondern welche er gestraft und verderbet haben will. […]
„Der weise Mann sagt: Cibus, onus et virga asino [Der Esel braucht Futter, Bürde und Stockschläge] – in einen Bauern gehört Haberstroh, sie hören nicht das Wort und sind unsinnig, so müssen sie die virgam, die Büchse, hören, und geschieht ihnen recht. Bitten sollen wir für sie, daß sie gehorchen; wo nicht, so gilt‘s hier nicht viel Erbarmens. Lasset nur die Büchsen unter sie sausen, sie machen‘s sonst tausendmal ärger.“
Geradeso sprachen unsere weiland sozialistischen und philanthropischen Bourgeois, als das Proletariat nach den Märztagen [1848] seinen Anteil an den Früchten des Siegs reklamieren kam.

Der wahre Held der Reformation

Luther hatte der plebejischen Bewegung ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben durch die Übersetzung der Bibel. In der Bibel hatte er dem feudalisierten Christentum der Zeit das bescheidene Christentum der ersten Jahrhunderte, der zerfallenden feudalen Gesellschaft das Abbild einer Gesellschaft entgegengehalten, die nichts von der weitschichtigen, kunstmäßigen Feudalhierarchie wußte. Die Bauern hatten dies Werkzeug gegen Fürsten, Adel, Pfaffen, nach allen Seiten hin benutzt. Jetzt kehrte Luther es gegen sie und stellte aus der Bibel einen wahren Dithyrambus auf die von Gott eingesetzte Obrigkeit zusammen, wie ihn kein Tellerlecker der absoluten Monarchie je zustande gebracht hat. Das Fürstentum von Gottes Gnaden, der passive Gehorsam, selbst die Leibeigenschaft wurde mit der Bibel sanktioniert. Nicht nur der Bauernaufstand, auch die ganze Auflehnung Luthers selbst gegen die geistliche und weltliche Autorität war hierin verleugnet, nicht nur die populäre Bewegung, auch die bürgerliche war damit an die Fürsten verraten.
Brauchen wir die Bourgeois zu nennen, die auch von dieser Verleugnung ihrer eignen Vergangenheit uns kürzlich wieder Beispiele gegeben haben? […]
Die sächsischen Fürsten kamen selbst nach Allstedt, um den Aufruhr zu stillen, und ließen Münzer aufs Schloß rufen. Dort hielt er eine Predigt, wie sie deren von Luther, „dem sanftlebenden Fleisch zu Wittenberg“, wie Münzer ihn nannte, nicht gewohnt waren. […] Die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei seien die Fürsten und Herren; sie nehmen alle Kreaturen zum Eigentum, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden. Und dann predigen sie gar noch den Armen das Gebot: Du sollst nicht stehlen, sie selber aber nehmen, wo sie‘s finden, schinden und schaben den Bauer und den Handwerker; wo aber dieser am Allergeringsten sich vergreife, so müsse er hängen, und zu dem allen sage dann der Doktor Lügner: Amen. […]
Jetzt, nach der erwähnten revolutionären Broschüre Münzers, trat Luther öffentlich als Denunziant gegen ihn auf. In seinem gedruckten „Brief an die Fürsten zu Sachsen wider den aufrührerischen Geist“ erklärte er Münzer für ein Werkzeug des Satans und forderte die Fürsten auf, einzuschreiten und die Anstifter des Aufruhrs zum Lande hinauszujagen, da sie sich nicht begnügen, ihre schlimmen Lehren zu predigen, sondern zum Aufstand und zur gewaltsamen Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit aufrufen.


PS. Mir kommen diese Absätze immer mehr wie eine Parabel auf die Entwicklung der SPD seit 1914 vor. Engels auch noch ein Prophet? Ach quatsch. KS

Photo (Ausschnitt): „Michelluther“,
by Staro1 [GFDL
or CC-BY-SA-3.0],
via Wikimedia Commons


Dienstag, 31. Oktober 2017 0:00
Abteilung: Kaputtalismus, Man schreit deutsh, Zeuge der Geschichte

Ein Kommentar

  1. 1

    Die Entwicklung der SPD, die Entwicklung der Grünen … vielleicht gibt es ja doch ein deutsches Obrigkeitsgen. Vielen Dank für diese schöne Zitatesammlung. Ich muß das Büchlein unbedingt mal wieder lesen.
    Netterweise hat es gerade jemand als E-Book online gestellt:
    https://www.mobileread.com/forums/showthread.php?t=291736

    Dem netten Jemand sei Dank! KS

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