Herr Johannes am Fenster

Giovanni-Fenster_02_(c)_Kay_Sokolowsky

Ich lebe in einer Gegend, wo die Leute mit dem „Unheilig“-Logo ihre Heckscheiben zuleimen und im Sommer auf den Tag des Schlagermoves hinfiebern. Niemand musiziert selbst (außer beim, selten notensicheren, Mitwimmern der durch die Betonmauern wummernden Verblödungsmucke). Musik wird bloß in platten Melodiefetzen ertragen und meist wegen ihrer Eignung zur Selbstbetäubung qua Knüttelrhythmen angestellt. Das ist bedauerlich, und dem wollte ich heute abend ein wenig abhelfen.

Um meinen Kombüsendienst etwas aufzuheitern, hatte ich nämlich in das knuffige, wie ein Insektoidenroboterkopf gestaltete Kompaktgerät den „Don Giovanni“ eingelegt, und zwar in einer Einspielung durch Sir Neville Marriner von 1991.

Die mir übrigens nicht besonders gelungen erscheint; enttäuschend wenig giocoso. Aber das Orchester spielt mit Mut zum Drama (leider auch dort, wo wenig davon ist), und die Sänger, besonders Karita Mattila als Rachegöttin Donna Elvira, sind angenehm anzuhören.

Kurz nach der Ouvertüre überkam mich der volkspädagogische Ehrgeiz. Ich drehte den Volumebutton mehrere Grad nach rechts, und sogleich ward die Küche bis in die Wände erfüllt mit dem Wohlklang der Sphären, diesem Weltwunder von Oper. Und ich stellte mir vor, daß die Leute, die ausnahmsweise keine Smartphone-Knöpfe in den Ohrwascheln klemmen haben, unten auf dem Bürgersteig vorbeieilen, und plötzlich hören sie aus unserem gekippten Küchenfenster das herzergreifend hilflose „Il padre … padre mio … mio care padre“ der Schmerzensmadonna Anna herauswehen, und sogar diese Banausen werden von der Wehmut ergriffen, die Maestro assoluto Mozart hier diskret und eindringlich wie irgend denkbar in Töne gesetzt hat.

Sie werden, die Passanten, phantasierte ich weiter, den Schritt verlangsamen und irritiert, knapp strauchelnd, zum Stehen kommen. Und dann werden sie den Kopf hin- und herdrehen, um den Ursprung der elysischen Klänge zu orten. Und dann schauen sie mit glänzenden Augen hinauf und können nicht fassen, daß Musik auch so was sein kann, so feinfühlig, so präzise, so beglückend und berückend im idealen Sinn!

Giovanni-Fenster_01_(c)_Kay_Sokolowsky

Ich plierte – just als Leporello seine Registerarie vortrug (mäßig komisch: Simone Alaimo) – hinunter auf den Bürgersteig, und da stand natürlich keine Sau, nicht mal eine professionell interessierte Amsel.

Nachdem ich den Abwasch erledigt hatte, schaltete ich den Roboterkopf aus und schob den Mißerfolg auf das bürokratisch trockene, etwas zu ehrfürchtige Dirigat Sir Neville Marriners.

Darum – aufgesteckt wird nicht! Beim nächsten Kombüsendienst werde ich‘s mit der allzeit gelungensten, erhabensten, klügsten und witzigsten Interpretation des „Top Don Giovanni“ (Eckhard Henscheid) probieren. Ich meine selbstverständlich die von Josef Krips aus dem gesegneten Jahr 1955. Mit Cesare Siepi als dämonischstem, männlichstem, tragischstem Giovanni der neueren Operngeschichte.

Seine Unwiderstehlichkeit können Sie, falls Sie diesen XXL-Baß noch nicht kennen, in der folgenden, etwas verschwommenen Filmaufnahme bezeugen. Sie stammt ebenfalls von 1955; aufgeführt wird der ideale Schmusesong, der Damenverräumungs-Evergreen „Là ci darem la mano“. Allerdings will Cesare Siepi hier nicht – wie in der Studioaufnahme – Hilde Güden in ihrer Verkleidung als Zerlina abschleppen, sondern die mindestens ebenso bezaubernd flirtende und mit den Silben zierlich flirrende Erna Berger, die ewig zu rühmende Entdeckerin, nebenbei, des Götterlieblings Rita Streich (doch das ist eine andere Geschichte*):


Ich werde den Leuten hier noch Kultur beibiegen! Oder ihnen wenigstens einen Grund geben, sich über mich zu wundern. Bisogna aver coraggio, o cari amici miei!


* Nämlich etwa davon, daß Frau Streich 1956 bei den Salzburger Festspielen als zweifellos zum Niederknien süße Zerlina von „The Don“ Siepi angesungen ward und daß ich mich etwas davor fürchte, die Aufnahme jemals zu hören: Es könnten mir Kopf und Brust vor Vergnügen platzen.


Freitag, 12. August 2016 23:59
Abteilung: Musicalische Ergetzungen

11 Kommentare

  1. 1

    Ich finde übrigens, daß Tom Hulce den Mozart in Milos Formans „Amadeus“ ganz hervorragend dargestellt hat. Hat jemand eine Ahnung, was der zur Zeit so macht?
    Zugegeben: etwas plump. Und an erster Stelle dürfte er auch nicht kommen, sondern erst später, aber DAS ist ein Trollkommentar. Und etwas später vergleichen wir dann Brad Dourifs Spiel in „Einer flog übers Kuckucksnest“ mit dem in „Alien 4“, und schon habe ich euch weg von der Musik.

    Nicht von DER Musik, mein Herr! KS

  2. 2

    Auch ich sehe ein Leben ohne Mozarts Musik als Irrtum an (F. N.), aber was denkt der Blogger über den ethischen Konflikt, den Vater und Sohn Mozart uns präsentieren? War es richtig, daß Leopold das Wolferl schon von krummen Kleinkindbeinen an sklavisch drillte? Zumal er höchstens ahnen konnte, welche Früchte der Kindheitsentzug tragen würde. Vermutlich gibt es derart talentierte Kinder auch heute, doch werden deren Eltern milder fördern. Müssen wir Leopold dankbar sein?

    Fördern die Alten heute wirklich milder? Ich weiß nicht. Ich fürchte, daß in diesen modernen Tagen noch viel mehr Drill herrscht als zu Mozarts Zeit (Schule, Sportverein, Facebook, Kaputtalismus usw.). Und Leopold M. konnte bereits beim vierjährigen Amadeus absehen, was für ein Bombentalent in dem Kind steckte. Die heutigen Helikoptereltern hingegen wollen die Begabung in die Gören hineinzwingen. – Jedenfalls hat Amadeus den Abgang seines Papas glaubhaft betrauert, und dies scheint mir darauf hinzuweisen, daß Wolfgang dem Alten die Grausamkeiten der frühen Jahre nicht besonders nachtrug, die Lieblosigkeit im sonstigen Umgang allerdings desto mehr.
    Ob es gut war, daß Leopold seinen Sohn zum größten Komponisten der Erdgeschichte trainierte? Da bin ich mal Egoist: ja. Doppelt und dreifach: ja! KS

  3. 3

    Leuten mit „Unheilig“-Aufklebern Kultur beibiegen? Il passo è periglioso, può nascer qualche imbroglio!

    Und wenn es DOCH gelänge? Würde ich nicht an Wunderheilungen glauben, könnte ich mir meine Schriftstellerei komplett schenken. KS

  4. 4

    @Karsten Wollny: google it! Kuck z. B. in die Wikipedia:
    „Hulce retired from acting in the mid-1990s to focus on stage directing and producing. In 2007, he won a Tony Award as a lead producer of the Broadway musical ‚Spring Awakening‘.“

    Danke für die Auskunft! KS

  5. 5

    @Arno Matthias
    Ich hatte einen Absatz zwischen der Frage und dem Rest. Der fiel nach K.S.‘ Redaktion weg. Hätte ich mal Anführungszeichen benutzt!
    Ich wollte ja nur ein Beispiel bringen, wie ein Troll mit unscheinbarer Frage langsam vom Thema wegführt (bezogen auf K.S.‘ letzten Post.)
    Danke trotzdem für den Hinweis auf Suchmaschine und Enzyklopädie!

    Lieber Karsten Wollny – nein, der Absatz wurde nicht wegredigiert. Sieht wohl nur so aus auf Ihrem Display. – Anführungszeichen schaden freilich nie! KS

  6. 6

    @Karsten Wollny: JETZT kapier ich endlich den trolligen Witz in Kommentar 1!
    Also: Wenn man nicht genau weiß, ob ein maschineller Text-Editor im Front-End einen Absatz sichtbar wiedergeben wird oder nicht: gnadenlos eine Leerzeile einbauen. Oder einfach Pseudo-HTML benutzen.
    Und schon sind wir aber so was von weit weg von diesem langweiligen Opern-Gequatsche!

    Abwarten. Vielleicht schreib ich mal was über meine Zeit in der Komparserie der Hamburger Staatsoper und wie ich beinahe in Verdis „Otello“ eine Katastrophe ausgelöst hätte. KS

  7. 7

    PS.
    @Kay: Den letzten Satz hatte ich allerdings mit den Pseudo-HTML-Code für „Ironie“ umrahmt, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen. Und was soll ich sagen: Dein schnöder Editor hat ihn mir einfach gestrichen, den ironisierenden Code. Wenn das keine Ironie ist!

    Geht noch ironischer: Ich habe seit vorgestern viele Stunden damit vergeudet, einen Fehler in meiner Blog-Installation zu finden und reparieren. (Dein Pseudo-HTML-Code hatte damit freilich nix zu tun.) Ziemlich genervt: KS

  8. 8

    @Kay Sokolowsky: Sollten alle Kinder möglichst früh auf alle möglichen Talente getestet werden? Sprechen Sie sich für eine rigorose Elitenförderung aus? Dieses ethische Dilemma („Ist es richtig, einem Kind zu schaden, *in der Hoffnung*, dass es später vielen nutzen wird?“) ist zwar ähnlich dem Trolley-Problem, bzw., in der modernen Version, dem des selbstfahrenden Autos (Soll z.B. die Computersteuerung bei einem Unfall den Passagier töten, um zwei Fußgänger zu retten?)? Es ist jedoch noch schwieriger, wenn man Bergsons „Illusion des retrospektiven Determinismus“ wegnimmt (in American English: „Hindsight is 20/20“). Was, wenn Leopold sich geirrt hätte und Wolfgang nur mittelprächtig geworden wäre? Ja, wenn man vom Rathaus kommt …

    Aber Leopold hat ja recht behalten! Obwohl er, glaube ich, nie begriff, welch ein gewaltiger Geist in seinem Knaben untergebracht war. – Zur Entdeckung der Talente nur so viel: Gebt den Kindern Möglichkeiten, sich auszuprobieren. Fördert Begabungen, wo welche sind und die Kinder selbst eine Förderung wünschen. Ceterum censeo: Schafft den Elitarismus ab! KS

  9. 9

    Endlich mal einer, der unaufgefordert die Großartigkeit von Krips und Siepi bekundet. Ansonsten möchte ich, zugegeben etwas lapidar und mit schulmeisterlicher Attitüde, meinen leider schon verstorbenen Freund und Kollegen J. W. Goethe zitieren: „Ein jeder hört doch nur, was er versteht.“
    Man denke dem nach!

    Und komme zur Schlußfolgerung: Die meisten Leute verstehen nur Bahnhof, das heißt, Hauptbahnhof zur Rush-hour. KS

  10. 10

    Ganz unironisch: Die Geschichte mit der Beinahe-Katastrophe beim „Otello“ würd ich ja wirklich zu gern hören (oder lesen)!

    Irgendwann schreib ich die Anekdote bestimmt auf. Und auch die von der dicksten Turandot der Musikgeschichte (besonders schön gesungen hat sie leider nicht). Irgendwann. KS

  11. 11

    Haha!
    In den aktuellen „Sprachnachrichten“ des VDS wird vom neuen Internetradiosender „Deutsches Musikradio“ berichtet: „DMR bietet 24 Stunden am Tag, an allen sieben Tagen der Woche, ausschließlich die beste deutsche Musik! Egal ob Schlager, Pop-Schlager, Rock oder Pop; ob klassisch oder aktuell.“
    Mal abgesehen davon, daß ich mich frage, ob die Deppen keine „deutschen“ Wörter für Pop und Rock finden können: Auf den „Don Giovanni“ müssen die Hörer von denen wohl für immer verzichten.
    Oder täusche ich mich etwa? Ich kenne mich ja nicht aus, darum meine Frage: Wurden oder werden Opern eigentlich auch mal „synchronisiert“?

    Es gibt auch ein deutschsprachiges Textbuch zum „Don“; glücklicherweise wird es seit vielen Jahren ignoriert. „Reich mir die Hand, mein Leben“ statt „Là ci darem la mano“? Bloß nicht! (Und danke, lieber Karsten Wollny, für dieses Fundstück, das erschütternd belegt, wie heruntergekommen der Begriff „Klassik“ mittlerweile ist.) KS

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