Nullenquartett (3): Rainald Goetz



Es ist selten ein Vergnügen, eigene Texte wiederzulesen, die seit Jahrzehnten im Digitalsarg begraben liegen. Wie der Mann, so ändert sich sein Stil, und was ihm einst blitzgescheit vorkam, erscheint heute witzlos, wenn nicht gar trüb, und etwas eitel.

Nicht so bei der folgenden Abrechnung mit einem der Überschätztesten des heimischen Literaturbetriebs. Die hat immer noch Biß und Feuer, und für mehrere Formulierungen möchte ich meiner jüngeren Ausgabe gar auf die Schulter patschen und zubrummen: „Brav. Bravo.“ Verbessern mußte ich an dem Artikel, der erstmals in KONKRET 2/2000 veröffentlicht wurde, kaum etwas. Und die Manierismen, die ich damals pflog, stehen immerhin in würdiger, unschwer zu erratender Tradition.
K. S.

***

Schon faul!

Es gibt eine Sorte Literatur, die ist so doof, daß sie nicht mal die Klugheit besitzt, Langeweile zu vermeiden. Und zwar nicht die gediegene, einschmeichelnde, utopische Langeweile, die weite Passagen der Goetheschen Prosa durchweht und alle Romane Tolstois, diese dem Weltall gleichsam einen Takt und was Humanes verleihende Langeweile (von „herrlichen Längen“ wird zu Recht bei Schubert geschwärmt, herrlicher nur die Zettelkastenleviathane Jean Pauls). Die super-, ach was: megadoofe Literatur freilich hat gar keinen Begriff von tröstender, erhabener Langeweile; sie produziert vielmehr die üble und nervtötende, die rasende Langeweile, den blanken und blöden, das passendere Fremdwort einzuführen, Ennui. Aus welchem heraus diese Literatur übrigens auch entsteht: Sie ist das Werk von Dilettanten und wird ausschließlich von anderen Dilettanten goutiert, die, wenn man Pech hat, und man hat ja immerzu Pech, irgendwann selber anfangen, ihren Ennui in die Welt hinauszuschreiben.

Die megadoofe Literatur kokettiert mit der trivialen, ohne je deren Tugend: nicht mehr scheinen zu wollen, als sie ist, trivial eben, zur eigenen zu machen. Die megadoofe Literatur hat nichts zu erzählen, darum ist sie so schlecht erzählt, aber permanent verbreitet sie um sich die Aura von Druidenmagie und Weltsinnhaftigkeit, auf daß bloß niemand merke, wie wenig Substanz sie enthält. Die megadoofe Literatur findet ihre besten Freunde im bürgerlichen Feuilleton, denn sie ist selbst nichts anderes als Feuilleton: narzißtisch, modisch, ins Raunen und Schwafeln verliebt und gänzlich unfähig zu einer Selbstironie, die es ernst meint, statt schlecht verhohlen auf den Widerspruch der Kollaborateure und Fans zu schielen.

Der z. Zt. erfolgreichste Exponent der megadoofen Literatur hierzulande heißt Rainald Goetz. Seit er sich 1983 in Klagenfurt die Stirn aufschnitt, wird er gehätschelt und angestaunt, wie nur die richtig Schlechten und mit Aplomb Unleserlichen verwöhnt und gepriesen werden. Seine Gedichte erfüllen formal und gedanklich nicht mal die Sonderschulstandards, die Erich Fried einst setzte; das ästhetische Programm seiner Prosa stammt aus den 1920er Jahren, als Breton, leider, die Ecriture automatique erfand; seine Aphorismen sind so verstaubt und verblasen wie alle postmoderne Philosophaselei bereits im Augenblick ihrer Entstehung; sein „Haß“ ist abgekupfert bei Rolf Dieter Brinkmann, dessen Texten die Verwechslung von Cholerik mit Polemik auch schon nicht allzu gut bekam; und Theaterstücke – aber dazu gleich mehr. Die Schmöcke der Republik etikettieren Goetz – einen Autor, der stets auf der Höhe der Zeit treibt und ihr darum nie voraus sein wird – als Avantgardisten, weil Schmöcke für Avantgarde immerzu dasjenige halten, was von sich selber mit viel Gefuchtel behauptet, radikal und visionär zu sein. Sie verehren den lärmenden Schriftstellerdarsteller, wie ihre Väter Günter Grass adorierten, ihre Großväter Hermann Bahr.

Anläßlich von Jeff Koons, dem neuesten Sprechstück Goetz’, das seit Dezember 99 am Hamburger Schauspielhaus aufgeführt wird, hat das deutsche Feuilleton sich schier überschlagen vor Begeisterung. Es konnte gar nicht anders: Pausenlos schwadroniert das Un-Drama von den höchsten und letzten Dingen, der Lahiebe, der Kahunst, was das Loben sehr leicht gestaltet, denn wo dem Gegenstand jegliche Konkretion abgeht, schwärmelt der Schmock nur um so unbefangener. Und wird darüber das, was unter seinesgleichen für lyrisch gilt.

Georg Diez zum Beispiel berauscht sich in der „Süddeutschen Zeitung“ an paradoxen Formulierungen, die (aber das ahnt er nicht mal, weil Diez, wie sein Held, von Sprache nichts versteht) in einem anderen, rationaleren Kontext als blanker Hohn auf einen Nichtskönner und Schwallkopf zu verstehen wären: „(Goetz) ist sicher der abgeklärteste Naivling des deutschen Schreibbetriebs, der romantischste Aufklärer, der wirrste Klardenker, der textgläubigste Weltverehrer.“ Gerhard Jörder in der „Zeit“ hört Dialoge, die keine sind, Sätze, die ganz zufällig auf die Schauspieler verteilt werden konnten, weil allen Zeilen Goetz’ dieselbe überspannte, nervtötende Geschwätzigkeit eignet, und glaubt, einem Stück von revolutionärer Vielschichtigkeit huldigen zu müssen: „Die offene Form, der Verzicht auf klare dialogische Strukturen macht den Text faserig, flirrig, aber auch reizvoll und rätselhaft, erlaubt der Regie alle denkbaren Les- und Spielarten.“ Wie „flirrig“ und „faserig“ aber erst muß es im Kopfe Jörders zugehen, wenn er einen Text, der weder Figuren noch „dialogische Strukturen“ kennt, überhaupt als Theaterstück akzeptiert und die totale Beliebigkeit des Materials nicht etwa als Stümperei gewahrt, sondern als Vorzug?

Jeff Koons, das Libretto, zerfällt in sieben Pseudo-Akte mit degoutant großartigen Überschriften wie „Liebe“, „Kunst“, „Nacht“, „Gesellschaft“ und „All“; die auftretenden Figuren tragen keine Namen (was weniger ein Kunstgriff sein könnte als die Einsicht Goetz’ in seine Unfähigkeit, Charaktere zu entwickeln und glaubhaft zum Sprechen zu bringen). Regisseur Stefan Bachmann und Dramaturg Wilfried Schulz griffen begeistert zu: Einen Text, mit dem sich alles machen läßt, weil ihn außer Geräusch und Wichtigtuerei nichts motiviert, fürs Theater einzurichten, ist eine sichere Sache – die Schauspieler freuen sich, ihre Rolle nicht studieren zu müssen, sondern „ausfüllen“ zu dürfen, die Kritikeresel loben bereits den Versuch, dergleichen „faseriges, flirriges“ Material angegangen zu haben, und der Autor, dem eh der Plan fehlte, wird sich dankbar zeigen, daß ihm endlich wer erklärt, was er sich eigentlich bei der Sache gedacht hat. „Die sinnliche Phantasie der Theaterleute“, jodelte Goetz denn auch im „Hamburger Abendblatt“, „reagiert … auf das Abstraktum des Textes.“

Bachmanns Inszenierung läßt Phantasie in der Tat sich nicht absprechen. Es wird viel mit der Drehbühne gezaubert, um filmartige „Überblendungen“ zu erzeugen; das Ensemble darf singen, pissen, scheißen, kopulieren, sich alle paar Minuten umkleiden und überhaupt fast alles zeigen, was an der Schauspielschule gelehrt wird; das sparsame Bühnenbild von Barbara Ehnes läßt reichlich Platz für große Gesten und grelle Beleuchtungseffekte; und wenn das Fehlen einer auch nur rudimentären Handlung gar zu offensichtlich wird, bollert die Trance-Musik von Stefan Pucher satt aus den Saallautsprechern. All der technische Aufwand vermag die Eintönigkeit des Textes, der ja leider auch noch da ist, freilich nicht zu verbergen; und rasch bedauert man, daß es keine Erben gibt jenes Wiener Theaterbesuchers, von dem Karl Kraus berichtet, er habe, noch ehe der Vorhang sich ganz geöffnet, gebrüllt: „Schon faul!“

Jeff Koons, verlautbart Goetz, sei ein Stück „über die Kunst und den Künstler“, in dem es „also um den Schöpfer, die Kritik, den Markt, die Macht; das Geld, das Kunstwerk, das Sinnliche“ gehe. Weil er aber niemand, den er für seine eigenen Geschäfte braucht, zu nahe treten wollte, kommt die Ökonomie in Goetz’ Text nirgends vor, und der Kulturbetrieb wird so dargestellt, daß kein Feuilletonist und kein „Spex“-Autor sich verraten fühlen muß. Dem Text, der jede Historisierung und jede dechiffrierbare Anspielung auf echte Kulturschranzen vermeidet, der, wenn er ein bestimmtes Reden über Kunst karikiert, zielsicher jenes aufs Korn nimmt, das in der Branche schon lange verpönt ist, das Benjaminsche nämlich – diesem windelweichen Text folgt die Hamburger Inszenierung ganz konsequent und verkleidet eine Horde Künstler uniform als Andy Warhol (tot), einen Trupp Vernissagetouristen als Plüschtiere (hihi).

Der „Künstler“, den Oliver Mallison mit etwas zuviel Eifer und Körpereinsatz spielt und den das Stück (in der Bachmannschen Reihenfolge) bei dem Besuch einer Bohèmekneipe und beim Musenfick zeigt, unter die Clochards fallen läßt (die – Ironie, Ironie! – in prächtigen Barockkostümen stecken), bei der „Arbeit“ in seinem Atelier-Büro beobachtet, aus der ewig langen Vernissageszene heraushält, um ihm danach, vor geschlossenem Vorhang, ein endloses Selbstgespräch zu spendieren – dieser „Künstler“ hat mit dem Titelhelden nicht viel mehr zu tun, als daß Rainald Goetz gern so wäre wie der Kitschskulpteur, aber, seinen Fans zuliebe, den Kitsch, den er selbst verfertigt, weiter als abgründiges Wühlen im Bergwerk der Worte verkleiden muß.

In „Jeff Koons“ dreht sich, wie immer bei Goetz, alles um Goetz. Keiner kokst, keiner bumst, keiner schafft, niemand leidet, lacht, träumt intensiver als er. Diesen Größenwahn hat er allerdings mit Koons gemein – und ist, indem er sein Stück Jeff Koons und nicht Rainald Goetz nennt, obwohl jener darin nur als Requisitenlieferant vorkommt, schlau genug, den eventuellen Vorwurf der Ego- und Megalomanie an den Titelhelden verweisen zu können. Außerdem: bei Familie Künstlers sind alle so eigen. „Der Künstler“, diktiert Goetz dem „Spiegel“, „ist der paradigmatische, der allgemeine Mensch. Er sieht sein Leben experimentell, auch der äußerste Glücksentwurf scheint möglich. Ein Pop-Märchen also, das ist die Grundidee des Stücks.“

Solche neoromantischen Schmarren – an denen neu, so neu aber auch nicht mehr, nur die Begeisterung für „Pop“, also die industrialisierte Trivialität ist – lieferte Goetz, der paradigmatische Produzent megadoofer Literatur, zeitlebens ab. Allein die bombastische Ungenauigkeit seines Stils und seine, frühere, Begeisterung für die „Tatmenschen“ der RAF verhinderten jahrelang, daß das Gesamtfeuilleton ihn als den zutiefst reaktionären Oberflächenbewohner erkennen und begrüßen konnte, der er von jeher war. Nachdem er jedoch in dem mehrbändigen Textmonster Festung sein gewundenes, „titanisch“ sich aufspielendes Bekenntnis zur Nation abgelegt hatte (wozu, in KONKRET 10/93, Stefan Ripplinger alles Nötige bemerkte), begann Goetz’ Karriere erst richtig. Er, den von einer Million Love-Parade-Ameisen kaum jede tausendste kennt, wurde als „Scene“-Autor gefeiert, weil er, der keinen Zug verpaßt, Rave nicht nur schrieb, sondern angeblich lebte. Man bestaunte seine Kühnheit, Texte übers Internet zu verbreiten, als alle anderen Schmöcke über 30 sich noch damit brüsteten, von Computern nichts zu verstehen. Und heute jubelt das Feuilleton über den durch nichts, keine pseudolinke Einlassung, keinen verwirrenden O-Ton, gebremsten, dem Jetzt, dem „tollen“ (Goetz), plump-ekstatisch ergebenen „großen Gesang“ (Diez) Jeff Koons.

Das glauben sie nämlich alle wahrgenommen zu haben, eine „Sprachmusik“. Da hatte man schon gehofft, diesen letzten epidemischen Unsinn der Literaturkritik, dieses Gebabbel von den Texten, die vielmehr Partituren seien, habe inzwischen ein anderer Nonsens abgelöst – und Goetz läßt die ganze Bande wieder spinnen. Die „Sprache ist durchgängig rhythmisiert, musikalisiert“, deliriert exemplarisch Gerhard Jörder. Was Goetz tatsächlich treibt, ist allererbärmlichstes Skandieren in Blankversen und Trochäen, die nicht und nicht zu ganzen Sätzen zusammenwachsen wollen (dazu gehörte ja auch ein Talent), und eine obsessive, der klinischen Beobachtung durchaus zu empfehlende Parataxenhäufung, ach was: -wucherung. Mit „Musik“ hat es wirklich nichts zu tun, wenn einer über Seiten hinweg alle Partizipien notiert, die ihm einfallen, und aus dem Wörterbuch die Synonyme abschreibt, bis die Finger bluten wie einst die Stirn. Es hat nicht mal mit Dichtung viel zu tun – außer daß dergleichen Kunstgewerbe und aufgepumptes, pseudoekstatisches Geröhre und Gemöhre nur zu gern welche wäre.

Sie wird es aber so wenig je sein wie die Porzellanpornographie Mr. Koons’ ein Gegenstand, dem sich, jenseits der Polemik, jemals Erheblicheres abgewinnen ließe als ein zum Sterben ennuyantes, megadoofes Stück Literatur.


Sonntag, 23. Oktober 2022 0:17
Abteilung: Bored beyond belief, Director's Cut, Qualitätsjournalismus

Ein Kommentar

  1. 1

    FWIW: Ich habe den frühen Goetz gemocht, hatte allerdings kein Interesse an „Jeff Koons.. „Johann Holtrop“ hat mir wieder gut gefallen, zumal der Roman, Premiere im Goetzschen Werk, einige hochkomische Stellen enthält. Sein Stück über den 11. September werde ich mir noch besorgen, da mich das Thema interessiert und ich überrascht bin, dass Goetz sich damit beschäftigt. In jedem Fall scheint sich in den vergangenen Jahren einiges an des Autors Ansatz verändert zu haben.
    Ihr Verriss hat mir schon damals gut gefallen und war womöglich ein Grund dafür, dass ich mich mit „Jeff Koons“ nicht weiter befasst habe.

    Lieber Ralf Anders, es ist gut, daß Sie mit Ihrem Lob auf andere Goetz-Werke für die Differenzierung sorgen, die meiner Polemik fehlt. Noch besser aber ist, daß ich Sie seinerzeit davor bewahrte, einen öden Abend mit „Jeff Koons“ zu verleben. KS

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