Discovery Channel (6): A little bit easier

We‘re tired of being blamed
for the mistakes that you constantly make
Ndidi O

Screenshot (Ausschnitt): YouTube/Le Live

Ach und ach ja – es gibt viele, es gibt mehr als sieben Milliarden Gründe, an der Menschheit zu verzagen, sich die Welt so trostlos vorzustellen wie Arthur Schopenhauer und gleich ihm alle Hoffnung auf bessere Zustände fahrenzulassen:

Man versetze dies Geschlecht in ein Schlaraffenland, wo Alles von selbst wüchse und die Tauben gebraten herumflögen, auch jeder seine Heiß-Geliebte alsbald fände, und ohne Schwierigkeit erhielte. – Da werden die Menschen zum Theil vor Langerweile sterben, oder sich aufhängen, zum Theil aber einander bekriegen, würgen und morden, und so sich mehr Leiden verursachen, als jetzt die Natur ihnen auflegt. – Also für ein solches Geschlecht paßt kein anderer Schauplatz, kein anderes Daseyn.1

Was aber hält einen am Laufen, weshalb tut man sich jeden Tag aufs neue und zugleich sattsam bekannte eine Wirklichkeit an, die meistens zum Heulen, ja, wie die Machination eines omnipotenten Sadisten erscheint?

Deshalb zum Beispiel: daß man trotz allem nicht allein ist, Menschen kennt, die einen lieben. Und die man wiederlieben darf. Daß ein Rest Natur noch da ist, den eins selbstvergessen anstaunen kann, wahre Wunder wie die Rotkehlchen oder die Fixsterne. Und daß zwischen all den sich selbst und ihren Planeten zerstörenden Killeraffen, diesen miserablen Geschöpfen eines Docteur Moreau, gelegentlich echte Menschen auftauchen und -leuchten, Sendboten einer Welt, die Doktor Schopenhauer nicht sich vorstellen konnte, welche aber immer da war und sein wird; bloß einen Schritt von der Erdhölle entfernt.

Es wird den regelmäßigen Lesern meines Weblogs nicht entgangen sein, daß ich in den vergangenen Wochen lieber über das Glück, solche echten Menschen zu sehen und anzuhören, geschrieben habe als über die Spezies, die es leider verkackt hat. Und auch heute möchte ich nicht klagen, sondern loben. Und Ihnen, liebe Leserin, werter Leser, nachdrücklich ein Vergnügen anraten, das wir getrost als kostbares Geschenk betrachten sollten.

Die himmlische Gemütserquickung verdanke ich dem Musikmagazin „Tonart“ von (neuerdings:) Deutschlandfunk Kultur. Eine wundersame Überraschung, die mich Dienstagnachmittag (ich setzte gerade den Kaffee auf) bereits nach einer Handvoll Takten kalt, nein: glühend heiß erwischte, frisch aus dem Küchenradio. YouTube wurde abgefragt und nach kurzer Zeit fand ich den Song in einer umwerfenden Liveversion mit kleiner Band und großer Diseuse. (Le Figaro hat einen schrecklich unpassenden Jingle an den Anfang des Clips geklebt; die schönen Töne beginnen bei Sekunde sieben.)



Diese Melancholie ohne Kitsch, diese Country-Melodie ohne Kommerz, dieser Swing aus Überzeugung sind jedes überschwingende Kompliment wert. Aber die Sängerin, die das Stück mitentworfen hat und mit mehr Gefühl als tausend deutsche Popmusikanten zusammen vorträgt – die Kanadierin Ndidi O [Onukwulu] hat einen Kniefall verdient. Und zwar beide Knie!

Seit ich erstmals Joss Stone hörte, ist mir keine Sängerin begegnet, die mich so tief, bis ins Rückenmark, ergriffen hat wie diese, wie Ndidi O. Und ich kann nicht fassen, kann mich nicht heftig genug beschimpfen dafür, daß ich diese Frau, die seit 2006 Platten veröffentlicht, daß ich Ndidi O bis vorgestern nicht mal kannte, daß ich dieses Unikat inmitten der „Fabrikwaare“ Mensch übersah. Ich bin eben auch nur ein Ignorant und weitgehend ahnungslos.

Sofern Sie Jazz mögen und Soul und Western Swing und überhaupt gute Musik – klicken Sie bitte gleich wieder auf „Play“ und staunen Sie die hinreißende Ndidi O an, wie sie in einem Hotelzimmer, nur von der Guitarre begleitet, den schönsten Liebeskummersong vorträgt, seit Randy Newman „I Miss You“ sang. Mit welchem Meisterstück Ndidi O‘s Lied sogar lyrisch mithalten kann. Die geradezu existenzialistische Refrainzeile „How long must we wait for things to get a little bit easier“ konnte ich jedenfalls sehr schnell aus- und inwendig.

Hier sind Schönheit und Schmerz, hier sind Reflexion und Inspiration, und da sitzt eine Künstlerin auf dem Sofa, die jedes Wort so meint, wie sie es singt, und die singt, als gäb‘ es trotz allem ein Morgen. Als gäb‘s tatsächlich so was wie die Seele:



Was es über die begnadete Künstlerin zu wissen gibt, sollten Sie ihrer Website entnehmen. Ich bin ja bloß ein Greenhorn. Aber wie! ich mich plötzlich wieder jung fühle, wenn ich Ndidi O zuhöre. Und wie ich – wenigstens ein paar Minuten lang – bereit bin, an die Menschheit zu glauben: Das ist große Kunst. Dies, ich lege mich vorzeitig, doch bestimmt nicht zu früh fest, ist meine musikalische Entdeckung des Jahres. Ein Stück fürs Leben.

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1 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena,
Erster Teilband, „Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt“, § 152 (1851)


Donnerstag, 27. April 2017 23:30
Abteilung: Discovery Channel, Musicalische Ergetzungen

2 Kommentare

  1. 1

    How long must we wait for things to get a little bit easier? Das wüßte ich auch gern; es wird wohl dauern, bis wir schwarz werden, oder bestenfalls: alt und grau. Aber hoffentlich nicht auch noch taub, denn diese schöne Frau singt wirklich ganz wunderschön.
    PS. Scheiß auf den neunmalklugen Herrn Dr. Schopenhauer!

    Auf Schopenhauer scheißen? Nee, das kann ich nicht, da fehlen mir der Wille und die Vorstellung. KS

  2. 2

    Ich schäm mich grad ein bißchen für meine unanständige Aufforderung und nehm sie zurück. Natürlich war der Herr Dr. Schopenhauer alles andere und viel mehr als bloß neunmalklug. Als ich mein galliges PS hinschrieb, wollte ich sagen, daß die Welt weniger kluge Nörgeleien braucht als wunderschöne Lieder. Das war natürlich Blödsinn: Sie hat jene so nötig wie diese.

    Wer so ausgeteilt hat wie der alte Frankforter, der muß auch einstecken können; insofern kein Grund, sich zu schämen. Ob Schopenhauer schön singen konnte? Ich glaube nicht. Aber in die Oper ist er sehr gern gegangen. KS

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