Alles für die Tonne


Ob und wen alle diejenigen wählen, die im Prinzip
mit der geltenden Staatsordnung einverstanden sind,
scheint mir sehr wenig belangvoll.
Jedes Parlament, ob seine Mehrheit links oder rechts
vom Präsidenten sitzt, ist seiner Natur nach konservativ.
Denn es muß den bestehenden Staat wollen –
oder abtreten. Es kann nichts beschließen,
was den Bestand der heutigen Gesellschaft gefährdet,
also auch nichts, was denen, die unter der geltenden Ordnung leiden,
nützt. […] Überlege jeder, daß er mit jedem Schritte,
den er zum Wahllokal lenkt, sich öffentlich zur Erhaltung
des kapitalistischen Staatssystems bekennt.
Frage er sich vorher, ob er das tun will.
Erich Mühsam: Der Humbug der Wahlen (1912)

Wahlen im bourgeoisen Staat sind immer noch, wie zu Mühsams Zeiten vor mehr als einem Jahrhundert, ein „Humbug“. An solchen Wahlen teilzunehmen und der eigenen Stimme mehr als ein paar Nanogramm Gewicht beizumessen, ist ähnlich illusorisch wie die Hoffnung auf den Euro-Jackpot. Nein, illusorischer. Daher stehe ich nicht an, kurz vor der Demokratiesimulation am kommenden Sonntag einen Rat zu erteilen, welches unter den Übeln, die da gewählt werden wollen, das kleinste sei. Ich sage nur, wovon ich in jedem Fall abrate.

Selbstredend unwählbar sind sämtliche Parteien, die rassistische und chauvinistische Ideologie verbreiten, aber daran muß ich mein Publikum hoffentlich nicht erinnern. Auch darf keine Partei unterstützt werden, die dem Weltzerstörer Kapitalismus sogar die paar Seidenfesseln abnehmen will, die ihm hierzulande noch anliegen. Undenkbar für jeden echten Linken muß es sein, das Kreuz neben eine Liste zu setzen, die für Militarismus und Krieg einsteht, das heißt, für Nato und Auslandseinsätze.

Alle Parteien, die sich an der nutzlosen, schändlichen Zwangsmaskierung und -isolierung von Kindern beteiligen beziehungsweise noch mehr von dieser Voodoo-Medizin verlangen, sind untragbar, so lange sie sich nicht besinnen. Aber da können wir, fürchte ich, lange warten. Denn, mit dem deutschesten aller Komponisten zu schmarren: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“; und sei diese Sache auch nichts als Unsinn, Drangsal und Inhumanität – nein, gerade dann.

***

Doch auch abseits der Corona-Politik und „solidarisch“ mit ihren ungeheuren Begleit- und Folgeschäden, sollte man den vorgeblich progressiven Parteien nicht über den Weg trauen. Niemand ist gut beraten, der oder die sich einredet, eine Koalition der SPD mit Grünen und „Linken“ in der kommenden Legislaturperiode markierte einen echten Unterschied zum Elend der Merkelei. Ich nehme das nicht zurück, bevor der Mindestlohn auf 15 Euro die Stunde und die Grundsicherung auf 1.200 Euro angehoben wird, denn alles darunter ist unter aller Würde.

Aber ich werde, leider, nichts zurücknehmen müssen, weil das letzte, was dem Hartz-IV-Einpeitscher O. Schlz einfiele, die Restauration des sozialen Staats ist, und weil das erste, was „Linken“ beim Aushandeln eines Regierungsbündnisses einfällt, „Kompromißbereitschaft“ heißt. – Und die Grünen? Mit ihrer „sozial gerechten Klimapolitik“? Das fragen Sie doch nicht im Ernst.

Allein der Gedanke, es sei mit einem Opportunist*innenverein, der sich die intellektuelle Nullität Baerbock als Spitzenkandidatin, den Schaumschwätzer Habeck als Chefideologen und den Erzpharisäer Kretschmann als Mentor erkiest hat – also, es sei mit diesem Gelumpe und Geklumpe aus Bigotten, Bioten und Beamten ein Staat zu machen, in dem es sich aushalten läßt –, allein die Erwägung erfordert eine Realitätsblindheit, die mindestens einen Darwin-Award verdient.

Wie Grüne ticken, was sie treiben, wenn sie was betreiben dürfen, sehe man sich am besten im Mikrokosmos der Politik an, das heißt, auf Regional- und Lokalebene. Das Anzeigen-Käsblatt meiner Gegend namens „Osdorfer Nachrichten“ rapportiert am 1. September 2021 folgenden Vorgang:

Eine knappe Ergänzung der Geschäftsordnung der Bezirksversammlung Altona sorgt für riesigen Ärger […]! Grün-Schwarz setzte bei der letzten Sitzung […] durch, daß öffentliche Anhörungen zukünftig nur noch zu Themen möglich sind, die im öffentlichen Teil von Ausschußsitzungen beraten werden. De facto bedeutet das, daß keine Bürgerinformation und Bürgerbeteiligung mehr zu einem Großteil der Bauvorhaben in Altona stattfinden kann!

Denn so sieht das Verständnis der Grünen von „Bürgernähe“ und „Basisdemokratie“ aus:

Konkret geht es um § 20 der Geschäftsordnung […]. Dieser sah bisher vor, daß Ausschüsse das Recht und auf Antrag eines Viertels der Ausschußmitglieder die Pflicht haben, eine öffentliche Anhörung durchzuführen. Grün-Schwarz ergänzt dies nun um den Passus, „sofern der Beratungsgegenstand in öffentlicher Sitzung behandelt wird“.

Je nun, könnt’ man sagen, was ist denn daran schlimm – schlanke Verfahren fördern schnelle Ergebnisse, oder? Na ja, wäre zu erwidern, schlank und schnell wird es wieder nur für die, die einen Scheiß auf das Viertel und seine Bewohner geben:

Diese kurze Ergänzung [bedeutet], daß größere Bauvorhaben […] nicht mehr Gegenstand öffentlicher Anhörungen sein dürfen. So besteht dann keine Möglichkeit mehr, über die verkehrlichen, wirtschaftlichen und städtebaulichen Folgen von größeren Bauvorhaben mit der Bevölkerung zu diskutieren

Und für so etwas, für diese Entmündigung und Entrechtung der Bürgerschaft stimmen die Grünen? So was verstehen sie also unter „Stärkung der Bürgerrechte“ und „Teilhabe an der Demokratie“? Interessant.

Die grünen Spießbürger, die im Bezirksparlament Hamburg-Altona gemeinsam mit der CDU solche Beschlüsse aushecken, sind vom selben Fleische wie ihre schwarzen Gesellen – in jeder Faser Philister, Verächter der Plebs und der Debatte, ebenso selbstgerecht wie -herrlich, kurz: Prachtkinder eben jener Klasse, die es unbedingt zu überwinden gilt.

Von der traditionell verachtenswerten Partei der „freien Demokraten“ unterscheidet die Grünen nichts außer dem Zuspruch junger Leute. Hier wie dort sammeln sich die Funktionselite und ihre Fußtruppen, und nur eines können Baerbock und Lindner verläßlich versprechen: „Wer viel hat, hat von uns nichts zu befürchten; wer aber nichts hat, darf von uns auch nichts erwarten.“

***

Aber was ist von der „Linken“ zu erwarten? Ich gebe zu, daß die sehr wenigen Politiker, die ich respektiere, fast ausschließlich dieser Partei angehören. Nachdem die gräßliche Intrigantin Kipping und der greuliche Ödfink Riexinger abgeräumt waren, dachte ich einige Zeit lang, die Partei fände mit Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow zur Klientel und zum Kampf für die proletarische Klasse zurück. Das war einer jener Irrtümer, die aus desperatem Optimismus erwachsen.

Wie jämmerlich und inkommensurabel auch „Linke“ sich aufführen, um irgendwie an die Tröge des Staats zu gelangen respektive an ihnen zu verweilen, hat der Berliner Kultursenator Klaus Lederer vor wenigen Tagen demonstriert. Im Gespräch mit „Spiegel online“ erklärte der Mann, den sein Amt mehr ausfüllt als er es, am 14. September:

Wir müssen über eine pazifistische Friedenspolitik hinauskommen.

So kommt der emporgekommene Petitbourgeois hinaus zu sich selbst und zum Ideal seiner Existenz: „Allen soll es gut gehen, doch vor allem mir, und dafür opfere ich alle Prinzipien, die ich nie hatte.“.

Eine hübsch häßliche Pointe zu diesem Fall lieferten kurz vor Lederers Fahneneid „100 Kunst- und Kulturschaffende“, die sich via Unterschriftenliste und ganzseitiger Zeitungsannonce als Lederer-Groupies bekannten. Der Kriegstreiber steht nämlich – zeitgleich zur Bundestagswahl – auf der An- resp. Abkreuzliste bei der Wahl zum Berliner Stadtparlament. Und weil all die Top-Intellektuellen und Elitekunstwerker, die Berlin so unerträglich woke machen, den Schmock nicht missen mögen, der ihnen für ihren verblasenen Stuß zuverlässig Stipendien etcetera liefert, riefen sie Ende August wie ein Mann und eine Maus:

Wir werden verlieren, wenn Klaus Lederer Regierender Bürgermeister wird: Den besten Kultursenator, den wir je hatten.
Aber für Berlin machen wir das!

Als gleichermaßen alter wie gelahrter Flaubert- und Schopenhauer-Adept habe ich ein klinisches Verständnis für diese Art Arschkriecherei, wenngleich keine Sympathie. Ich merke mir einfach die Namen jener „Systemkritiker“ und Salonlinken (darunter auch KONKRET-Autoren), die den Lederer derart Bombe finden, daß er ruhig mal eine schmeißen lassen mag – Hauptsache, die schöne Förderung bleibt! Hier meine

Top Twelve in the Hall of Shame
Sibylle Berg (Schriftstellerin)
Norbert Bisky (Maler)
Diedrich Diederichsen (Kulturtheoretiker [Wot the FUCK!])
Holm Friebe (Autor)
Corinna Harfouch (Schauspielerin)
Bernadette La Hengst (Musikerin)
Wladimir Kaminer (Schriftsteller)
Jürgen Kuttner (Videoschnipselhermeneutiker [leck mich FETT!])
Thomas Quasthoff (Opernsänger)
Reformbühne Heim & Welt (Lesebühne)
Berthold Seliger (Konzertagent, Autor)
Jörg Sundermeier (Verleger)

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Ich gebe gern damit an, Wahlresultate korrekt vorhergesagt zu haben, die kein Meinungsforschungsinstut zu orakeln wagte. Es wäre feige, würde ich diesmal keine Prognose abgeben; so wurscht, dat Janze betrachtet, das Resultat dieser „Richtungswahl“ auch sein wird. Wie üblich prophezeie ich wider die Linie, welche die offiziell zugelassenen Umfragen ziehen.

Also: Ich nehme an, daß die CDU mit ein oder zwei Prozentpunkten vor der SPD landen, es aber zu einer großen Koalition nicht reichen wird und die Grünen nach monatelangem Gefeilsche der FDP das Königsmachen überlassen werden. – Der nächste Kanzler, ich sehe es mit Grusel voraus, heißt, so oder so (Trommelwirbel), Armin Laschet.


Donnerstag, 23. September 2021 23:48
Abteilung: Kaputtalismus, Man schreit deutsh, Qualitätsjournalismus, SARS-CoV-2

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