Der Albigtraum

SPD-Plakat 1918


Nach seiner Demütigung bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein stellte Noch-Miniprä Torsten Albig sich vor die Kameras und quakte:

Wenn ich wüßte, was falsch war, hätte ich es nicht gemacht. Im Moment weiß ich nicht, was schieflief.
[Tagesspiegel.de, 7.5.2017]

Vielleicht sollte Albig sich mal selber zuhören; auch wenn‘s eine Qual ist, Phrasendreschern wie ihm das Ohr zu schenken. Jedenfalls hatte Albig bereits vor zwei Jahren den Wählern mitgeteilt, für wie überflüssig er SPD-Leute in Regierungsverantwortung hält. Damals schwärmte er im Interview mit NDR 1 über die Kanzlerin:

[Er] glaube, daß es schwer sei, gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu gewinnen. „Ich glaube, sie macht das ganz ausgezeichnet – sie ist eine gute Kanzlerin.“

Und nachdem er auf diese Art deutlich mitgeteilt hatte, daß ihm der eigene Wahlverein und dessen Spitzenfunktionäre obsolet vorkommen, klagt der Gläubige nun (und wird auch jetzt nicht mal ansatzweise rot):

Das ist ein bitterer Tag für die Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein, es ist auch ein bitterer Tag für mich.

Die wirklich bitteren Tage für die Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein und in der ganzen Republik liegen freilich lange vor dem 7. Mai 2017. Sie liegen in jener Zeit, als opportunistische Karrieristen wie Albig, als Betonarbeiter am Status quo wie er sich die SPD unter den Nagel rissen. Wann das war? Am selben Tag, als Willy Brandt zum Kanzler vereidigt wurde, vermute ich. Oder vielleicht schon im November 1918 (s. Abb.).

Damit Albigs Lieblingskanzlerin auch weiterhin ihre sozial-, demokratie- und intelligenzfeindliche Simulation von Politik betreiben darf, hat heute der Kürzestzeithoffnungsträger Chulz in der Berliner Industrie- und Handelskammer, also vor den wahren Regenten der Nation, seinen schönsten Katzbuckel gezeigt:

Unerfüllbare Sozialversprechen und unerfüllbare Steuersenkungsversprechen: Beides wird es mit mir nicht geben. […] Ich sehe in Ihren Gesichtern, daß es eine wichtige Frage gibt, die sie umtreibt. Vielleicht denken manche von ihnen: Toll, ja, ist ja vieles richtig und gut, was der Junge da erzählt. Aber kann es am Ende nicht unter diesem Schulz eine Koalition geben, die Deutschland und meinem Betrieb schaden würde? […]
Nein, die Antwort lautet ‚nein‘. Definitiv nicht. Unter meiner Führung wird es nur eine Koalition geben, die proeuropäisch ist und die ökonomische Vernunft walten läßt.
[Zeit online, 8.5.2017]

Es könnte, nach diesem Treueid an die Herren des Kapitals, knapp werden mit einem zweistelligen Ergebnis für die Bundes-SPD am 24. September. Doch bevor „der Junge“ sich vor die Presse begibt und wie Albig behauptet, er wisse partout nicht, was schiefgelaufen sei, sollte Martin Schulz sich an jenen bitteren Tag in Berlin erinnern, an seinen miserablen Kotau vor der ökonomischen Vernunft, den erfüllbaren Asozialversprechen und vor den waltenden Jungs mit den Betrieben.

Und dann frei heraus zugeben: „Ich glaube, Merkel macht das ganz ausgezeichnet. Ich bin froh, ihr definitiv nicht im Weg gestanden zu haben.“

Abb. (Ausschnitt): „Bundesarchiv, B 145 Bild-P050137“,
by Weinrother, Carl / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de]
,
via Wikimedia Commons


Montag, 8. Mai 2017 23:32
Abteilung: Kaputtalismus

7 Kommentare

  1. 1

    Ich wollte die großartigen Darbietungen der Ebert-Jünger in den letzten Monaten – nachdem das Kasperle ausgetauscht wurde – ja vorschnell als Absurdes Theater abtun; dann fiel mir jedoch auf, daß damit ungerechterweise einige großartige Künstler über Gebühr diskreditiert würden …
    Ist vielleicht doch eher in die Kategorie Ohnsorg/Peter Steiners Bauerntheater einzuordnen, wo mittels eines Textbaustein-Vexierspiels alle zwei Minuten eine „dramatische“ Wendung eintritt und alles gut wird.
    Besonders Bambi-preiswürdig der gestrige Auftritt des Schauspielers Stegner (der einen Linken darstellen soll) bei phoenix: „Der Gerechtigkeitswahlkampf war, glaub‘ ich, schon richtig, das sehen sie daran, daß die Linkspartei nicht in den Landtag gekommen ist, das war ja unser Ziel. Das ist uns schon gelungen.“
    Und nächsten Sonntag gibt es ein neues Stück mit frischem Personal. Das Publikum kann einfach nicht genug bekommen. Bayrhammer, Singerl, Kabel & Vahl sind leider verhindert.
    Sage keiner, er bekäme nichts geboten: Auch das internationale Figurentheater erfährt endlich wieder länderübergreifende Soldarität… Venceremos!

    Ihr Vergleich mit dem „Volks“-Theater gefällt mir sehr. Ich konnte und kann darüber so wenig lachen wie bei den Auftritten der Neosozen. KS

  2. 2

    „Sofern es hilft, dieses nulldimensionale Scheusal (das Merkel, KP) loszuwerden, wähle ich Chulz“, hast du neulich hier notiert. Bin ich ein dummes Kalb, wenn ich nachfrage, ob du das immer noch meinst?
    Immerhin besteht ja die Möglichkeit, daß die Wahl zwischen Schulz und Merkel nicht wie die zwischen Pest und Cholera ist, sondern vielleicht wie eine zwischen Pest und, ich sag mal: bloß Keuchhusten. Und könnte es nicht sogar sein, daß der Schulz den Kammerherren von Industrie und Handel einfach frech ins Gesicht gelogen hat? Um dann als Kanzler den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben? Okay, das glaub ich jetzt selber nicht …
    Ein Kollege von mir steht auf der Wahlliste für die Partei DIE PARTEI. Ich glaub, ich wähl den. Der gibt mir nämlich gelegentlich von seinen Frühstückswürstchen ab, und das eine oder andere Bier hat er mir auch schon ausgegeben.

    Nun – ich habe geschrieben: „SOFERN es hilft“. Inzwischen ist klar, daß es einen Cheiß hilft, den Chulz zu wählen, will man die Merkel pensionieren – der Typ kneift ja bereits VOR der Wahl, konfrontiert mit den Herren des Marktes.
    Und welche Wahlempfehlung habe ich nun? Freßt keine Cheiße. (Wird chwer!) Frühstückswürstchen chmecken bestimmt besser. KS

  3. 3

    Inzwischen hören die Völker die Signale nicht mehr, das letzte Gefecht war mal wieder bloß das vorletzte, die Müßiggänger haben sich nach vorn gedrängt und die Arbeitsleute sind schon lange nicht mehr die stärkste der Partein, sondern vollauf mit autofahren, rasenmähen und TV/Internetz beschäftigt.
    „Vor der Revolution war alles Bestreben; nachher verwandelte sich alles in Forderung.“

    Bedenkenswertes Zitat, von wem ist das? – Was die vermeintliche Taubheit der Völker für die Signale betrifft, empfehle ich einen Blick nach Südamerika und die offenen Klassenkämpfe, die dort z. Zt. stattfinden. Und, nein, ich glaube nicht, daß dort, in Venezuela oder Bolivien oder Brasilien, gerade die Morgendämmerung der Menschheit anbricht. Aber es ging Ihnen, M. Lund, ja um die Gefechte, die letzten oder vorletzten, und eine Ignoranz der Massen für die Weckrufe. – Die Klassenkämpfe finden statt, überall auf der Welt, unübersehbar. Wenn man nur sehen will. – Welchen Ausgang die Gefechte haben werden, weiß auch ich freilich nicht; und mein historischer Optimismus ist gering. (Kommt vllt. vom Schopenhauerlesen.) KS

  4. 4

    Das Zitat, dessen Urheber ich schändlich vergaß, stammt von J. W. v. Goethe. Ich habe es vor Jahren bei einer „dem Größten“ verfallenen Bekannten aufgeschnappt. Ich bin nicht ganz sicher, ob es im Original statt „war“ „ist“ heißt. Ihm soll die französische Revolution nicht so recht behagt haben.
    Tatsächlich meinte ich mit den Internationale-Fetzen, postbezogen, die in D., genauer: sich den „linken“ Parteien zugehörig fühlenden Völker der Republik. Ein guter Freund ist in der alten Tante „politisch aktiv“, nichts als Intrigen höre ich von ihm …

    Goethe also – wow (und Ihre kleine Vergeßlichkeit ist bestimmt keine Schande)! War der Herr Geheimrat wohl doch ein Genie. – Sie, M. Lund, (bzw. Ihre verfallene Bekannte) irren sich allerdings, was Goethes Verhältnis zur Frz. Revolution betrifft. Göthe war schon sehr einverstanden mit all den Freiheitsforderungen der Revolutionäre. Er verabscheute jedoch die Parteiungen, den Parteienterror und vor allem die Herrschaft des Pöbels bzw. „Peuple“. Er war eben auch nur ein Bourgeois. Aber vor allem litt Goethe es nicht, daß Menschen einander quälen und töten wegen ihrer politischen Ansichten. Und damit bin ich allemal d’accord bzw. bei, glaube ich, Ihnen. KS

  5. 5

    Es fehlt in diesem Lande und anderswo an Klassenverständnis. Der Staat ist das Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse. Das ist er unabhängig davon, wie die Wahlen ihn zusammensetzen. Politische Parteien sind sui generis nicht dafür bestimmt und schon gar nicht dafür geeignet, gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. Die Akteure auf der politischen Bühne sind ausschließlich zur Ablenkung da, während die wirklichen Kämpfe auf einer anderen Ebene von, dem Wahlvolk völlig unbekannten, Akteuren der herrschenden Klasse ausgetragen werden. Es gibt keine Verschwörung und es gibt keine geheimen Zirkel. Es gibt Klassen, die durch Interessen definiert sind, denen entsprechend handeln und die mit mehr oder weniger Macht ausgestattet sind. Durch Wahlen wird einer Klasse vorgegaukelt, daß sie durch ihre Stimmabgabe Macht ausübt. Das ist perfide und höhnisch. Diese Klasse hat aber die Macht, Verhältnisse zu gestalten, immer dann, wenn sie sich diesem Spiel entzieht und auf ihre wahre Kraft besinnt. Wer hierzulande wählen geht, hat wirklich gar nichts verstanden. Sorry for that.

    „Sorry“ for what? – Ich möchte aber zu bedenken geben: So lange wir die klassenlose Gesellschaft und die Expropriation der Expropriateure nicht haben, gibt es keine Möglichkeit, den Betrieb zu stören außer durch den „Humbug der Wahlen“ (Mühsam). Und wenigstens solche existenziellen Angelegenheiten wie Mindestlohn oder Rentenschlüssel lassen sich zum Vorteil der ausgebeuteten Klasse über den Wahlzettel beeinflussen. Ein bißchen nur, aber für viele Menschen ist das Bißchen schon ein Festmahl.
    Mir haben übrigens die vier Millionen Franzosen imponiert, die lieber einen ungültigen Stimmzettel abgaben als eine der beiden Chargen des Kapitals zu legitimieren. Diese vier Millionen haben das Wesen der repräsentativen Demokratie wirklich verstanden und so schön vorgeführt, daß der bourgeoise Leitartikler nicht mal drüber schreiben mag. KS

  6. 6

    Keine gewählte Partei wird an Mindestlohn und Rentenschlüssel anders hantieren, als die herrschende Klasse es für angemessen hält. Das Trio Schröder/Scharping/Fischer sollte doch hinreichend belegt haben, was Wahlen ändern können.
    Ungültig wählen ist eine Option, allerdings wäre für mein Selbstwertempfinden der Besuch eines Bahnhofspuffs weniger abträglich als der eines Wahllokals. So bin ich nun mal sozialisiert.

    Zur Erinnerung: Hier ist emoticonfreie Zone. – Und auch dies zur Erinnerung: Die bürgerliche Klasse hält nichts für angemessen, was die Ausbeutung mildert. Aber sie läßt sich Zugeständnisse abtrotzen, wenn sie ihre Geschäfte gefährdet sieht und eine faschistische Junta z. Zt. nicht für opportun hält. In einer Republik mit einer Kanzlerin Kipping ginge es vielen armen Schweinen deshalb besser als unter einem Regierungschef namens Lindner. Da bin ich mal ganz sicher.
    Im übrigen gilt natürlich KK’s Diktum von den Sozialreformen, die ihn an Hühneraugenpflaster für Krebskranke erinnerten. KS

  7. 7

    Wenn die Kipping Kanzlerin würde (keine unangenehme Vorstellung), dann sicherlich niemals durch Wahlen. (Kein Emoticon, es gibt eh kein passendes.)

    Man soll niemals nie sagen! Und sogar Ihrer, lieber Andreas Schmid, schlechten Meinung von der parlamentarischen Demokratie gemäß wäre eine ordentlich gewählte Kanzlerin KK möglich. Sie müßte vorher nur alles vergessen, was sie heute sympathisch macht, und sich auf Verderb mit den echten Machthabern verbünden. Zur Belohnung gäb’s immerhin eine signifikante Erhöhung der Regelsätze, und das wäre mehr, als der Chulz je versprochen hat. KS

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