Grauen, Glück und Trost

Am 29. Juni beging der bedeutendste deutschsprachige Dichter, Ror Wolf,
seinen 82. Geburtstag. Etwas verspätet, aber tief verbeuge ich mich
vor dem Menschen, dem Genie,
dem Freund mit einer Eloge auf seinen
jüngsten Roman
Die Vorzüge der Dunkelheit
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Abb.: Schöffling & Co / Ror Wolf

Abb.: Schöffling & Co. / Ror Wolf

Ich bin nur ein Jahr älter als Ror Wolfs erster Roman Fortsetzung des Berichts. Ich übertreibe also nicht, wenn ich behaupte, daß dieser Autor mein Leben begleitet. Seit meiner ersten Begegnung mit Wolfs Kunst – und zwar 1981 mit den „WM-Moritaten“ in einem Vorabdruck der Titanic – haben die Schönheit seiner Sprache und die Vieldeutigkeit seiner Dichtung mir mehr eingeleuchtet als sämtliche vom Föjetong hochgejazzten Poetendarsteller der Saison. „Man rühmt nicht“, bemerkte einmal der große Olaf Stapledon über sein Idol H. G. Wells, „die Luft, die man atmet“. Ich halte mich an diese Maxime und schreibe hier überhaupt nichts Rühmendes. Ich stelle bloß Tatsachen fest.

Es fällt mir, wie man sich bereits denken wird, nicht schwer, Die Vorzüge der Dunkelheit als das Werk eines Meisters zu bewundern. Als das Zeugnis eines Mannes, der sich von den Widerständen und der Schmach der Welt auch in seinem neunten Jahrzehnt nicht unterkriegen läßt und sich statt dessen anschickt, sie in Neunundzwanzig Versuchen zu verschlingen. Das erinnert mich an den unzerbrechlichen Charakter meiner liebsten Romanfigur, des Käptn Ahab – aber ohne dessen Wahnsinn, Menschenverachtung und Humorlosigkeit. Vor allem aber erinnert dieser Horrorroman daran, welche infiniten Möglichkeiten Wörter und Prosa zu entfalten vermögen, wenn einer den Mumm hat, sich diesen Möglichkeiten in all ihren Konsequenzen zu stellen. Es ist nämlich viel einfacher (und weniger aufrichtig), eine Erzählung brav herunterzustiefeln, statt in jedem Satz den schöpferischen Prozeß selbst offenzulegen und zum Thema zu machen, wie Wolf es tut.

Es gibt bei diesem Dichter keine aufgepfropfte „Logik“, keinen Gott in der Maschine, keine faulen Gewißheiten, auf die seine Leser sich verlassen dürften. Für Die Vorzüge der Dunkelheit gilt dies ebenso wie für sämtliche Stücke zuvor. Das macht die Faszination der Wolfschen Schöpfungen nicht zuletzt aus. Es verleiht ihnen zugleich einen Realismus, nach dem der Leser in der realistisch tuenden, an der Oberfläche klebenden Literatur, die heutzutage mal wieder „in“ ist, lange suchen kann. Diese Hyperwirklichkeit ermöglicht es zum Beispiel, einen völlig unwahrscheinlichen Ort wie die Mainzer Gastwirtschaft „Schnitzelgebirge“ in die Hochliteratur zu überführen, und zwar mit Sätzen, die weit mehr bedeuten, als die flüchtige Lektüre erkennen läßt: „Später saß ich im Schnitzelgebirge und beugte mich über ein Bier. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft war ziemlich gering.“

Mich hat Wolfs Horrorroman an vielen Stellen mit Grauen erfüllt; aber, wie es sich gehört bei großer Kunst, es fehlt das Tröstende nicht. Und das verdankt sich vor allem der Sprache Ror Wolfs, dieser ebenso klangvollen wie präzisen, gleichermaßen verspielten wie niemals lässigen Wortmusik. In jedem Buch Wolfs habe ich meine Lieblingsstellen. Sie ändern sich im Lauf der Zeit, weil auch ich mich ändere, aber es muß schon sehr bedeutende Literatur sein, damit ich mir Sätze daraus merken kann. In Die Vorzüge der Dunkelheit – vom Schöffling-Verlag vorbildlich gedruckt und geradezu verschwenderisch ausgestattet – ist mein bevorzugtes Detail momentan folgendes: „Etwas später traf ich noch einmal Capone: Ein ganz aus Fleisch bestehender Mensch (…).“ Genauer und umfassender als mit dieser Metapher könnte Al Capone auch auf 300 Seiten nicht beschrieben werden.

In Die Vorzüge der Dunkelheit ist der Boß der Bosse nicht die einzige Figur aus dem Wolfschen Oeuvre, die sich zum wiederholten Mal blicken läßt. Auch der legendäre Doktor Q und der alte Stubengelehrte Wobser absolvieren beeindruckende Auftritte. Es ist ein großes Vergnügen, ihnen wieder zu begegnen. So wie es sowieso immer gut ist, Ror Wolf wiederzusehen. Und ich verspreche verständigen Lesern, die seine Kunst noch nicht kennen, bestimmt nicht zuviel, wenn ich behaupte: Es ist ein besonderes Glück, diese Wörter, diese Töne, diese Bilder zum allerersten Mal wahrzunehmen. Sie werden – ich bin seit drei Jahrzehnten Zeuge – den Adepten ein Leben lang nie mehr in Ruhe lassen.

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Ror Wolf: Die Vorzüge der Dunkelheit. Neunundzwanzig Versuche die Welt zu verschlingen. Horrorroman. Mit 79 farbig reproduzierten Collagen des Autors. Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2012, 272 Seiten, 24,95 Euro


Freitag, 11. Juli 2014 23:39
Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten

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