Grundgesetzleugner. Eine Revue (4)


Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz feierlich verkündet.
Keiner der damals Beteiligten hätte wohl damit gerechnet,
daß die in ihm [sic!] festgeschriebenen Normen und Werte
auch 70 Jahre später noch das Fundament der deutschen Demokratie
sein würden.
Deutschlandfunk, 23.5.2019

Die Mütter und Väter unserer Verfassung haben damals
wirklich Großes vollbracht. Sie schufen ein stabiles Fundament,
das bis heute unser Zusammenleben trägt – in Freiheit,
in Demokratie, im Rechtsstaat. Das gilt uneingeschränkt
auch für die letzten Monate, in denen uns die Pandemie
zu teilweise harten und weitreichenden Einschränkungen
von Freiheiten gezwungen hat. Freiheiten, die ja gerade
durch die Grundrechte unseres Grundgesetzes gegenüber
Eingriffen des Staates geschützt werden. Aber eben
nicht grenzenlos.
A. Merkel zum „Tag des Grundgesetzes“,
22.5.2021
(Hervorhebungen von mir; KS)

Vor einer Ewigkeit, das heißt, im Jahr, bevor der endlose Virenkrieg begann, klopften sich die macht- und meinungsverwaltenden Deutschen gegenseitig kräftig auf die Schultern, weil das Grundgesetz 70 Jahre alt wurde. Wer sich nur ein bißchen auskennt mit der heimischen Geschichte nach 1949, dem waren alle die hohlen Gesten und faulen Feiern von Staats- und Medienseite mindestens suspekt. Allein die Entkernung der Asylgarantie seit 1991 reicht zum Beleg dafür, daß den hiesigen Macht- und Meinungsverwaltern die Verfassung weder heilig noch auch nur respektabel, sondern in erster Linie lästig ist.

Wann immer das Grundgesetz einer Nationalsauerei im Weg stand, fand sich eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit, um an störende Artikel einen Rattenschwanz aus Sonderregeln zu nähen. Die Geschichte des Grundgesetzes ist die einer permanenten Mißachtung und Beschädigung durch die Herrschaft, die Ämter und die vielen „broooven“ (Henscheid) Bürger, die es so wollten. Es war stets bloß eine Minderheit, die das Grundgesetz ernst- und beim Wort nahm, die zumal den Artikel 1 für das Wertvollste im deutschen Staatsvertrag erachtete und darauf bestand, alles staatliche Handeln jederzeit und überall an der Würde des Menschen auszurichten.

Diese Minderheit ist seit März 2020 noch kleiner geworden, und es bleibt ein Skandal und ein geistig-moralisches Armutszeugnis sondergleichen in der Geschichte der Bundesrepublik, wie die deutsche Linke – ob außerparlamentarisch oder in Parteien organisiert – es den offenen Verfassungsfeinden der AfD überließ, sich als letzte Verteidiger eines Gesetzes- und Wertekanons aufzuspielen, den diese Protonazis als erstes abschafften, kämen sie an die Macht.

Die Stillegung des Grundgesetzes ist mittlerweile so normal geworden, daß sich als „Schwurbler“, „Quarkdenker“, „Durchseucher“ oder gar Staatsfeind diffamiert bzw. unter geheimdienstliche Obacht gestellt sieht, wer immer das schändliche „Bevölkerungsschutzgesetz“ als einen Anschlag auf die Demokratie, die Gewaltenteilung und die individuellen Freiheitsrechte beschreibt. Und vorneweg beim Diffamieren und Denunzieren marschieren: Linke resp. Leute, die sich einbilden, links zu stehen, obwohl sie nichts anderes als autoritäre Arschlöcher und selbstgerechte Eiferer sind.

Jeder Mann, jede Frau, jedes „Nonbinäre“, der, die oder das von sich meint, ideologisch der Linken anzugehören, jedoch dem wahrhaft demokratiezersetzenden Treiben der Obrigkeit nicht bloß nicht widerspricht, sondern immer noch mehr Schikane und Zwang verlangt (Markenname „Zerocovid“), steht keineswegs links, ist antifaschistisch bestenfalls in der Lackierung und ergibt sich dem grundgesetzlosen Staat eifrig und beflissen wie nur je eine Lakaienseele.

Was aber in der Tat links, will sagen: aufgeklärt, herrschaftskritisch und im guten, nicht im merkelschen Sinn solidarisch ist, hat vor rund hundert Jahren, zum Ende des ersten Kriegs der Deutschen gegen die Welt, der große Philanthrop und klare Denker Erich Mühsam allgültig in seinem „Brevier für Menschen“ zusammengefaßt. Lest dies, ihr „linken“ Staatsvergotter, und fangt, sofern ihr die Intelligenz dazu besitzt, endlich an zu zweifeln – an der Regentschaft, den „Maßnahmen“ und besonders an euch selbst:

Zeitliche Ereignisse von umwälzender Kraft verlangen vom Einzelnen die strengste Reinigung des innern Wesens. Denn sie bewirken das Sichtbarwerden zahlreicher persönlicher Eigenschaften, die den Mitmenschen und oft einem selbst bisher verborgen waren. […]
Die Verführung, Halt zu suchen bei den Zufriedenen, die sich leiten lassen, auf eigenes Urteil verzichten und Verantwortung scheuen, ist groß, weil der Wille, der die Ereignisse treibt, stark ist, weil seine Stimme die des Zweifels und der Abwehr übertönt, weil der Rhythmus des Geschehens werbende Kraft hat und schwache Gemüter zwingt, mitzugehen mit den führenden Mächten. […]
Es ist nicht wahr, daß der Mensch nur ein Rädchen sei in der Maschine, die einmal im Gange ist, nicht fähig und nicht berufen, ihren Lauf zu beeinflussen. Die Geschichte ist das Produkt menschlicher Willenskräfte. Niemand hat seinen Willen auszuschalten, jeder hat ihn anzustrengen nach der Richtung, die sein Gewissen anweist. […] Das gilt zu allen Zeiten, es gilt in erhöhtem Maß in Epochen katastrophaler Ereignisse. Diese Epochen scheiden die Geister.

Nach dieser brillanten Vorrede folgen Sätze wie Glockenschläge. Sie tönen heute so voll und laut wie 1918, und wer’s partout nicht hören mag, der fühlt sich angesprochen:

Einmal werden sie erkannt werden, diejenigen, die sich klein machten und zu verkriechen versuchten im Gewirr der Massen, um ja nicht aufzufallen, ja sich nicht mißliebig zu machen; diejenigen, die alle überschrien, nur sie seien die wahren Begreifer der Zeit, was sie früher gesagt und getan hätten, gelte nicht mehr, jetzt erst sähen sie den rechten Weg und wollten ihn vorangehen – und diejenigen, die das furchtbare Gewicht der Verantwortung empfanden, das die Zeit auf alle Schultern legte, und die Tun und Lassen abwogen unter dem einzigen Trachten, lauter befunden zu werden vor dem Gericht der Nachwelt.
Die Pflichten des Einzelnen bei umwälzenden Geschehnissen sind nicht auf Paragraphenschienen gezogen. Vorschriften zum Denken und Handeln liegen in keinen Schubfächern aufgesammelt. […] Aber jede Tat, jeder Entschluß, jede neue Wendung im großen Geschehen stellt an die Selbstverantwortung der Persönlichkeit den ungeheuern Anspruch, ohne Nützlichkeiten zu besinnen und ohne auf ausgegebene Parolen zu horchen, das eigene Gewissen prüfend zu befragen, ob es vor Mit- und Nachwelt an all diesem teilhaben, ob es all dieses hinnehmen und rechtfertigen will.
Seine Antwort aber sei Ja! Ja! oder Nein! Nein! Und was darüber ist, das ist vom Übel.

***

2019 veranstaltete der Deutschlandfunk eine Call-in-Serie namens „Mein Grundgesetz – Meine Meinung“. Darin durften rund 800 Hörige des Programms bekennen, welcher Verfassungsartikel ihnen der herzinnigste sei. Es wunderte micht nicht, hießen diese ausgewählten Stimmen der Bourgeoisie inzwischen alles gut, was an Grundrechtsbruch passiert, und hielten sie einen sturen Puristen wie mich für irgendwie irre resp. „abgedreht“. Trotzdem wüßte ich zu gern, ob sie öffentlich wieder sagen würden, was sie damals, vor der Corona-Ewigkeit, behaupteten, und wie sie ihren Katechismus von damals mit der Wirklichkeit heute übereinbringen.

Einige Beispiele. Manuel Schiffer zeigte sich dankbar für Artikel 79, Absatz 3, die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes:


Seit mehr als einem Jahr jedoch führt die GroKotz-Mehrheit sich auf, als hätte sie keine Schranken. Und wer daran nur ein bißchen Unbehagen äußert, der ist schon ein „Demokratiezersetzer“ und in jedem Fall ein Ermittlungsfall für Volksverpetzer.

Ulrike Liebscher mochte Artikel 8, der die Versammlungsfreiheit garantiert, nicht missen, denn:


So war’s damals. Mithilfe hochdubioser, pseudowissenschaftlicher „Hygieneregeln“ schützt sich heuer die Herrschaft gegen Verteidiger der Demokratie und ihre Versammlungen: Man kann, man sollte das pervers finden, zumal als Demokrat. Aber sag’s und: naziehstewohl!

Manfred Kirsch pries 2019 den Artikel 5, der die Presse- und Meinungsfreiheit festschreibt, so:


Wenn du jedoch 2021 die Freiheit der Meinung selbst jenen prinzipiell zugestehst, deren Meinung dich anwidert, darfst du damit rechnen, als Verharmloser, wenn nicht gar als Sympathisant verschrien zu werden. Und die freie Presse mischt dabei so fanatisch mit, daß dir die Luft zum Atmen wegbleibt.

Thomas Equit schließlich entbot sein Lob dem Artikel 30, in dem die föderalistische Ordnung des deutschen Staatswesens formuliert ist, und er nannte einen hervorragenden Grund:


Doch in der neuen Normalität lauert das „potentiell tödliche Virus“
(J. Ditfurth
et al.) besonders auf Bürger, die sich örtlich nähern, auf daß es Schneisen der Vernichtung ziehen kann. Deshalb muß jener „große Vorteil“ endlich weg, wie die Kanzlerin und Millionen Stiefellecker aus üblem Grund meinen.

***

Beim selben Deutschlandfunk, der in der Präcoronahistorie Herrn Equit sein gescheites Wort sagen ließ und 2019 nicht müde wurde, die historische Bedeutung der bundesrepublikanischen Verfassung mit Features, Themenabenden, Podiumsdiskussionen und Publikumswettbewerben zu zelebrieren, ist das Grundgesetz mittlerweile nicht mehr so populär.

Deshalb darf kaum zwei Jahre post festum ein Redakteur des Senders den Föderalismus ungescheut und unverschämt attackieren. Der Verächter des „Ewigkeitsartikels“ 20, Absatz 1, heißt Frank Capellan, und er ist noch nie durch ernsthafte Regimekritik aufgefallen (er wäre sonst auch kein „Hauptstadtkorrespondent“). Am 16. März d. J. leistete Capellan seinen propagandistischen Beitrag, damit die Kanzlerin und ihre Spießgesellen die Schleifung des Föderalismus praktisch widerstandslos ausführen können:

Im Katastrophen- und Verteidigungsfall sieht das Grundgesetz zentrale Regelungen vor – wir bräuchten sie auch für die Pandemie: Die Notbremse für den Föderalismus!

Zweifellos hält Capellan sich für ein lebendes Bollwerk der Demokratie und einen wackeren Anwalt „unserer“ Verfassung. Denn Bigotterie ist das Wesen solcher Art Journalisten:

Merkel hatte auf der 35er-Inzidenz als Grenzwert bestanden, jetzt soll nicht einmal mehr die 100 von Bedeutung sein. Woidke in Brandenburg oder Ramelow in Thüringen machen es ähnlich. Sie alle begreifen nicht, daß sie damit das letzte Vertrauen in die Politik verspielen.

Sobald aber irgendein „Maßnahmen“-Gegner sagt, er habe in die Politik kein Vertrauen mehr, sind Pharisäer wie Capellan die ersten, die dem Kritiker unterstellen, er untergrabe das Staatswesen.

Ich bin kein Widersacher des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, doch verfassungsfeindliche Meinungsmache wie die Frank Capellans möchte ich lieber nicht finanzieren. Ich verbitte mir außerdem, daß Programme, die derlei antiföderalistische Appelle ausstrahlen, mit diesem Spruch für sich werben: „Wir sind deins.“ Nein, ihr seid ganz bestimmt nicht meins, wenn ihr dergleichen autokratischen Quatsch verbreitet.

Aber ihr sollt auch gar nicht „meins“ sein oder sonstwem gehören bzw. gehorchen. Ich wünsche mir, daß ihr realiter unabhängig seid, allein dem Grundgesetz und der Wahrheit verpflichtet, nicht der Einschaltquote oder irgendwelchen Parteiwichteln, die in den Rundfunkräten sehr viel Entschädigung für äußerst wenig Aufwand kassieren. Feuchten Ochsendung wie den Capellans bekäme ich zwar auch dann vorgesetzt – Meinungspluralismus! –, aber ich könnte um etliches sicherer sein, daß der Floskelfladen nicht zum Gefallen des Kanzleramts ausgeschieden ward.

***

Inzwischen hat der „Abfall“-Leser Detlef H. fortgesetzt, was er Anfang April begann: freundlich gegen die Lockdown-Willkür protestieren und mit Andersgläubigen das Gespräch suchen. Ich bewundere ihn dafür, weil ich dergleichen Versöhnendes nicht vermag – aus genuiner Hitzköpfigkeit und aus blanker Wut über den Corona-Aberglauben. Herr H. hat mir eine gewaltige Menge Gesprächsbereitschaft voraus, und darum lasse ich ihn sehr gern erzählen, was er beim Ausüben seiner Toleranz erlebte. Er berichtet von einer Welt, die sich selbst nicht mehr versteht.
Folgende Schilderung schickte mir Herr H. Ende April:

Ich war an den letzten beiden Sonntagen wieder unterwegs. Vor einer Woche mit der Botschaft

Kindern Sport im Freien erlauben. Es schadet niemand!

Und heute, ermutigt durch die milden bis wohlwollenden Reaktionen derer, die mir begegnet waren, mit dem nach meinem Gefühl etwas provokanteren Spruch:

Zeit, daß Erwachsene ihr Lebensrisiko wieder selbst tragen. Keine weiteren Schulschließungen

Auf der Vorderseite trug ich das recycelte Plakat vom zweiten Spaziergang mit dem Spruch von den Menschen, denen man nicht verbieten sollte, sich im Freien zu treffen.

Komischerweise – sicher nur ein Zufall – liefen bisher alle vier Spaziergänge ungefähr nach der gleichen Dramaturgie ab: Zunächst eine ganze Weile gar keine, dann eine einzelne ablehnende Reaktion von Menschen, mit denen es dann aber keine Diskussion gibt. Dann einige zustimmende Gesten und Gesichtsausdrücke und, zum Ende des Spaziergangs, ein oder zwei längere Gespräche.

Heute war ich ganz allein unterwegs und es trug sich folgendes zu: Nach etwa einem Kilometer Weg schaute eine Frau auf mein Plakat. Ich blieb stehen und fragte sie, ob sie lesen wolle. Sie antwortete in gebrochenem Deutsch, daß sie Amerikanerin sei und den deutschen Spruch nicht verstehe. Darauf ging sie gleich weiter und ich hörte von hinten einen jungen Mann mit Lederjacke und Pelzkragen sagen: „It‘s not worth to understand“, womit er offensichtlich mein Plakat meinte. Eine weitere Diskussion fand dann aber nicht statt, worüber ich auch nicht böse war.

Dann schaute eine bescheiden wirkende ältere Dame, die ich erst ermuntern mußte zu lesen, mein Plakat an und sagte: „Na, das sagen sie mal denen da oben.“

Besonders gefreut habe ich mich über einen jungen Schwarzen mit Rasta-Locken auf einem Mountain-Bike, der beim Überholen die „Daumen-nach-oben-Geste“ machte und dann locker und cool entschwand. Ebenso die neutrale bis wohlwollende Reaktion dreier weiblicher Teenager, die mit einer Ukulele unterwegs waren und vielleicht verstanden, daß sie die Menschen sein könnten, die sich abends im Freien treffen.

Gegen Ende der Runde kam dann von der anderen Straßenseite ein sehr gepflegt wirkender Mann mit hochwertiger Kleidung und „seriösem“ Aussehen auf mich zu mit den Worten: „Jetzt haben sie mein Interesse geweckt, ich möchte das jetzt mal lesen“.

Er war ehrlich interessiert und fragte mich nach den Reaktionen der Menschen, denen ich begegne. Es entwickelte sich ein längeres Gespräch. Der Mann war der Meinung, daß die Situation der Kinder bestimmt nicht einfach wäre, daß aber die Regierung das doch wohl auch im Blick hätte. Dann kam das Gespräch irgendwie auf die Rolle der Medien. Das war, nachdem ich ihm gesagt hatte, daß ja nun die Kassiererinnen im Supermarkt seit einem Jahr klaglos arbeiteten und ich es merkwürdig fände, daß in den Medien gar keine Berichte darüber kämen, wie viele von denen denn nun ernsthaft erkrankt seien.

Er sagte dann (keine Übertreibung, ehrlich), es sei wichtig, daß wir den Qualitätsmedien unbedingt vertrauen, weil wir sonst „ins Schlingern“ kämen. Da frage ich mich nun, warum er extra von der anderen Straßenseite kam. Vielleicht war er doch schon ein wenig am Schlingern … Ein Bekannter schicke ihm immer obskure Links zum Thema Corona, den hätte er wohl schon „verloren“, der läse inzwischen wohl gar keine normalen Zeitungen mehr. Dann erzählte er mir, daß er die „Süddeutsche Zeitung“ bevorzuge, welcher er mehr vertraue als unserer Lokalzeitung.

Ich habe ihm dann nicht gesagt, daß ich neben dem „Spiegel“ ausgerechnet diese Zeitung gar nicht mehr lese, weil sie mir besonders auf die Nerven geht. Online-Versionen von „Zeit“, „Welt“, „FAZ“ und ÖR-Fernsehen reichen mir. Dann kann ich mir die beiden genannten, meiner Meinung nach besonders üblen Erzeugnisse nicht auch noch antun. Im Nachhinein ärgere ich mich, daß mir nicht einfiel, ihn auf Herrn Prantl anzusprechen. Der hat ja noch ganz vernünftige Ansichten, insbesondere zum neuen Infektionsschutzgesetz.

Der Mann war aber offen, gesprächsbereit und freundlich und erzählte mir am Ende, daß er sich selber vorstellen könne, auch mal mit so einem Plakat rumzulaufen. Er wirkte nicht unbedingt ängstlich. Als er mich dann fragte: „Aber glauben sie denn wirklich, daß das was bringt, was sie hier machen?“ – habe ich ihm wahrheitsgemäß erklärt, daß ich erstens glaube, daß es tatsächlich ein klein wenig was bringt, daß ich es aber auch für mich selber mache:

Weil ich, wenn ich nur Fernsehen schaue, mich manchmal frage ob nur ich normal bin und alle anderen spinnen. Daß ich daher das Bedürfnis habe, zu erfahren, wie die große schweigende Mehrheit tickt, und daß ich es zum Beispiel beruhigend finde, die oft in den Nachrichten vorkommenden empörten Intensiv-Pflegekräfte, von denen es in unserer Stadt mit drei großen Kliniken bestimmt auch viele gibt, bei meinen Spaziergängen in der Realität noch nicht entdeckt zu haben.

Übrigens war, was ich ebenfalls erfreulich fand, unser Gespräch für einige Vorbeikommende eine Gelegenheit, ohne Gefahr von mir angesprochen zu werden, die Plakate zu lesen und zumindest dem Tonfall des Gesprächs zu lauschen.

Es war ein von mir positiv empfundener Abschluß des Spaziergangs.


Und das hier erzählt Herr H. über eine Solo-Demo Mitte Mai:

Heute war ich wieder allein unterwegs. Der Plakat-Spruch lautete dieses Mal:

Schweiz kann es, Schweden kann es! Kinder brauchen Regelunterricht!

Ich bin mir nicht sicher, ob die Passanten, die selber wenig mit Kindern zu tun haben, überhaupt wissen, daß zur Zeit bei uns ein Wechselunterricht in der Schule stattfindet, also jeweils mit einem Tag Abstand Schule und nicht Schule. An den Schultagen wird morgens zuerst mit den Stäbchen getestet, wofür schon mal ein großer Teil der ersten Stunde gebraucht wird. An den Tagen zu Hause gibt es dann keinen Distanzunterricht per Internet, da die Lehrer ja mit der anderen Hälfte der Klasse beschäftigt sind. In anderen Teilen des Landes haben wir aber nach wie vor kompletten Distanzunterricht. Die Regel lautet: Ab „Inzidenz“ 100 Wechselunterricht, ab 165 Distanzunterricht. Das heißt aber keineswegs, daß bei unter 100 automatisch Regelunterricht stattfindet. Das Kriterium, wann vom Wechselunterricht in den Regelunterricht gewechselt wird, ist eine Art Staatsgeheimnis. Meine Frau konnte es auch durch mehrere Telefonate und E-Mails nicht herausfinden.

Folgendes trug sich heute zu: Gleich zu Beginn kamen zwei kleine Mädchen im Grundschulalter, deren Eltern ich nirgends sah, auf mich zu und zeigten sich interessiert. Sie konnten schon lesen, hatten aber den Sinn des Spruches nicht ganz verstanden. Nachdem ich es ihnen erklärt hatte, waren sie der Meinung, es wäre besser, jeden Tag zur Schule zu gehen.

Es waren überhaupt bei dem Sonnenschein sehr viele Familien mit noch sehr kleinen Kindern bis zum Kindergartenalter unterwegs. Für diese schien das Problem Wechselunterricht/Distanzunterricht noch so weit weg zu sein, daß sie sich nicht weiter für mich interessierten. Gelesen haben sie aber schon.

Nach etwa einem Kilometer rauschte dann ein mittelalter Mann auf dem Fahrrad an mir vorbei, der mir im Vorbeifahren „Arschloch“ zurief. Auf meine Nachfrage „Wie bitte!?“, die ich meiner Meinung nach nicht übertrieben aggressiv, aber der Ansprache angemessen an ihn richtete, entfernte er sich, ohne mich weiter zu beachten. Solche Fälle kenne ich ja nun inzwischen schon, es kommt bei jedem Spaziergang einmal vor.

–Ein Mann im Rentenalter las das Plakat und sagte dann: „Na, als ob wir keine anderen Probleme hätten!“ Ich antwortete, daß das schon sehr wichtig sei. Aber er wollte davon nichts mehr hören und ging weiter.

Danach gab es manchmal freundliche Gesichter. Eine Frau vom Typ „gestandene Mutter mit erwachsenen Kindern“ wollte das Plakat lesen, überlegte eine Weile und signalisierte dann mit der „Daumen-nach-oben-Geste“ Zustimmung.

Dann begegnete ich einer sehr alten Frau mit ganz krummem Rücken und FFP2-Maske. Sie nahm sich viel Zeit zu lesen und sagte dann sehr bedächtig: „Eigentlich glaube ich, daß Sie Recht haben.“ Das fand ich sehr schön. Vor allem, daß sie überhaupt auf mich zukam und sich auseinandersetzte. Sie war ganz klar und nicht verwirrt, ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob sie wirklich genau verstanden hatte, worum es ging.

Etwas schwieriger war es mit einem Ehepaar mittleren Alters: Die Frau las das Plakat aufmerksam und sagte dann: „Das stimmt ja mit dem Unterricht, aber sie brauchen auch gesunde Lehrer“. Ich sagte ihr, daß es diese in der Schweiz und in Schweden offensichtlich nach wie vor gäbe. Darauf antwortete sie: „Waren sie schon einmal in der Schule, sie müßten nur mal einen Monat dort sein, dann würden sie anders sprechen“. Ich versuchte noch, das Gespräch weiterzuführen und sie zu fragen, was ihrer Meinung nach passiert, wenn man einen Monat dort ist. Aber sie hatte keine Lust mehr und wurde auch von ihrem Ehemann fortgezogen, dem das Gespräch wohl etwas unangenehm war.

Danach passierte nichts besonderes mehr.

Wird fortgesetzt.


Donnerstag, 27. Mai 2021 18:28
Abteilung: Man schreit deutsh, Qualitätsjournalismus, SARS-CoV-2

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