Pandemie? Syndemie!

Am 7. Mai publizierte die französische Tageszeitung „Le Monde“ einen Offenen Brief, gezeichnet von Wissenschaftlern diverser Disziplinen sowie Interessenvertretern sozialer Organisationen. Darin fordern die Verfasser ein generelles Umdenken in der Corona-Seuchenabwehr und benennen die verheerenden Schäden, die das bislang waltende, stumpf=brutale Hygieneregime hinterlassen hat.
Weil sowohl Analyse und Kritik der Experten als auch ihre Vorschläge zur Besserung nahtlos auf deutsche Verhältnisse angewandt werden können, gebe ich der Resolution in meinem Weblog nur zu gern einen Platz.
Sie, liebe Leser, werte Leserinnen, bitte ich, das Memorandum weiterzuverteilen; es ist ein Bedenken und eine Diskussion in höchstem Grad wert.
KS

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Vor allem: nicht schaden“
Für Anti-Covid-19-Maßnahmen, die im Einklang
mit dem obersten Grundsatz der Medizin stehen

Die Infektion mit dem Coronavirus kann nicht das einzige Kriterium sein, um den Gesundheitszustand einer Bevölkerung festzustellen. Für die WHO ist Gesundheit „der Zustand des körperlichen, geistigen, sozialen Wohlbefindens und besteht nicht nur in der Abwesenheit einer Krankheit oder einer Behinderung“.

Richard Horton, Chefredakteur der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ aus Großbritannien, erinnert daran, daß Covid-19 nicht bloß eine pandemische Infektion ist. Es handelt sich vor allem um eine Syndemie, in der die Wechselwirkungen zwischen Infektionserkrankung, nicht übertragbaren Krankheiten und Alter zu einer Verschlimmerung der Symptome und einer verschlechterten Prognose der Infektionserkrankung selbst führen.

Bereits bestehende chronische Krankheiten befördern die Durchseuchung und die Schwere des Verlaufs, und die Verbreitung dieser nicht übertragbaren Krankeiten wiederum ist gesellschaftlich abgestuft. Sie nehmen in dem Maße zu, in dem das ökonomische und soziale Kapital der Einzelnen abnimmt.

Diese soziale Abstufung wird ebenfalls vom Begriff der Syndemie erfaßt: Die ökonomisch schwächsten Bevölkerungsgruppen, in denen sich andere Krankheiten häufen, sind diejenigen, die unter Covid-19 und der Covid-19-Politik am meisten zu leiden haben.

Indem wir das Schwergewicht der Maßnahmen auf Verminderung der Virusübertragung legen und diese Maßnahmen auf alle und überall anwenden, ohne die Schwächen, Bedürfnisse und Fähigkeiten der Einzelnen einzukalkulieren, ist unser Blick auf die Gesundheit eingeschränkt und verlieren wir, was das Coronavirus betrifft, an Effizienz. Mittlerweile warnen wissenschaftliche Studien davor, daß die erlassenen Restriktionen dazu beitragen können, die ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten zu erhöhen, ja, neue zu erzeugen. Wie eine Mehrheit der von der Zeitschrift „Nature“ befragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es einschätzt, ist nicht ausgeschlossen, daß das Virus endemisch wird und jedes Jahr wiederkehrt, gerade so wie zahlreiche virale Atemwegserkrankungen, etwa die Grippe oder das Humane Respiratorische Synzytial-Virus.

Daher muß jetzt ein Paradigmenwechsel stattfinden. Es ist an der Zeit, die Covid-zentrierte medizinische Herangehensweise durch einen differenzierten und ausgeglichenen Blick auf die öffentliche Gesundheit zu ersetzen, der die Gesundheit in allen ihren Aspekten beachtet, eingeschlossen den Umweltaspekt und den Aspekt des jeweiligen Lebensalters.

Sind die Kinder von Covid-19 und seinen schweren Verläufen weniger oft befallen als der Rest der Bevölkerung, haben die Gesundheitskrise und ihr Management doch schwere Auswirkungen auf sie. Ihre Entwicklung, ihre Lebensqualität und ihre körperliche und geistige Gesundheit sind erheblich betroffen, vor allem von der aufgeschobenen medizinischen Versorgung und präventiven Behandlung, von der Verschlechterung ihrer schulischen Bedingungen und der Möglichkeiten, die ihnen das familiäre Umfeld sonst bietet. Kinder sind überdies besonders der Unterernährung, dem stumpfen Herumsitzen, den Bildschirmen, den häuslichen Unfällen und innerfamiliärer Gewalt ausgeliefert.

Die Schließung der schulischen und Freizeiteinrichtungen während des ersten Lockdown hat die je nach sozialer und räumlicher Herkunft von enormen Ungleichheiten gekennzeichneten Probleme weiter vertieft. Diejenigen Kinder, die am meisten unter der Strategie zu leiden hatten, welche zwischen März und April 2020 herrschte, waren genau die, die ohnehin die verwundbarsten sind: Solche, die vom Sozialamt, in prekären Familien, bei alleinerziehenden Elternteilen, in miserablen Behausungen leben und Gefahr laufen, Gewalt und Vernachlässigung ertragen zu müssen, ebenso behinderte und kranke Kinder. Bestimmungen, die allzu leichtfertig die Schließung der Bildungseinrichtungen vorsahen, sollten wir nun kritisch prüfen, wenn es darum geht, eine aktuelle Strategie angesichts der Coronavirus-Mutanten zu entwerfen.

Allgemein gesprochen haben die Wirtschaftskrise, das Ansteigen der Arbeitslosigkeit und das Absinken in die Armut einen erheblichen Einfluß auf die Gesundheit und auf lange Sicht auch auf die Bevölkerung, vor allem auf die ökonomisch Schwächsten und die Jungen, die studieren oder gerade erst auf den Arbeitsmarkt gelangen. Der Zugang zu einer Beschäftigung stellt tatsächlich eine wesentliche Determinante [Bestimmungsgröße] der Gesundheit dar. Und übrigens bleibt die Schließung der kulturellen, touristischen oder Sporteinrichtungen nicht ohne Folgen auf das körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden der Französinnen und Franzosen.

In Anbetracht des soeben Festgestellten wäre es geboten, daß die verfügten Maßnahmen auf dem Prinzip eines verhältnismäßigen Universalismus [universalisme proportionné] ruhen. Der verhältnismäßige Universalismus ordnet seine Aktionen zugleich allgemein und gezielt an. Er schließt Maßnahmen in sich, die der jeweiligen Vulnerabilität [Anfälligkeit], den jeweiligen Bedürfnissen und Fähigkeiten, den Berufen und den Lebensräumen angepaßt sind.

Der verhältnismäßige Universalismus sollte das Fundament eines jeden medizinisch-sozialen oder vorbeugenden Vorgehens sein. Er würde der gesamten Bevölkerung den Zugang zu den Präventions- und Pflegeprogrammen erlauben, indem er gleichzeitig ein besonderes Augenmerk auf alle hätte, die ein höheres Risiko – hier der Ansteckung durch das Coronavirus – haben. Er würde außerdem die Anpassung der Maßnahmen auf lokale Besonderheiten ermöglichen (was die Verbreitung des Virus, die Vulnerabiliät, das Angebot von Vorsorge und Versorgung usw. betrifft).

Die derzeitigen Maßnahmen zeigen, die Impfung ausgenommen, eine wenig verhältnismäßige Gesundheitsstrategie, die dazu neigt, die Risiken, denen der oder die Einzelne ausgesetzt ist, ebenso auszublenden wie die regionalen und lokalen Gegebenheiten, die Lebens- und Arbeitsräume. Dem Risiko angemessene Verhaltensweisen – Priorität der Impfung der vom Virus besonders gefährdeten Personen, der Fachkräfte, die mit ihnen Kontakt haben, Einrichtung des Arbeitsplatzes je nach Risikofaktor, an die jeweiligen Umstände angepaßte Abstandsregeln – sollten jeweils durchdacht und der Bevölkerung vorgeschlagen, nicht aufgedrängt werden.

Es ist noch immer Zeit, einen neuen Gesellschaftsvertrag nach Maßgabe des Grundsatzes der Medizin – „vor allem nicht schaden“ – zu schließen und von Maßnahmen abzusehen, die mehr Schaden als Nutzen verursachen.

Erstunterzeichner:
Alice Desbiolles, Amtsärztin und Epidemiologin; Patrick Castel, Forschungsleiter, Staatlicher Verband der Politischen Wissenschaften (FNSP); Christèle Gras-Le-Guen, Präsidentin der französischen Gesellschaft für Pädiatrie; Christine Ferron, Generalbevollmächtigte der Staatlichen Verbands für Erziehung und Gesundheit; Cynthia Fleury, ordentliche Professorin am Lehrstuhl für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Nationalen Konservatorium der schönen und angewandten Künste; Emmanuel Hirsch, Professor für medizinische Ethik, Universität Paris-Saclay; Jean-Michel Delile, Psychiater, Präsident des Verbandes für Suchtkrankheiten; Gilles Raguin, Infektiologe, Präsident des Institutional Review Board am Pasteur-Institut; Pascale Ribes, Präsident des Verbands der Behinderten APF France; Emmanuel Rusch, Professor für öffentliche Gesundheit, Universität von Tours, Präsident der französischen Gesellschaft für öffentliche Gesundheit.
[Insgesamt 39 Ärzte und Forscher sowie Vertreter von Betroffenenverbänden]

Le Monde, 7. Mai 2021
Übersetzung: Stefan Ripplinger

Photo: „Kalliope De negen muzen (serietitel),
RP-P-OB-10.115“, by Rijksmuseum [CC0],
via Wikimedia Commons


Samstag, 15. Mai 2021 0:39
Abteilung: SARS-CoV-2

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