Indian Summer, c/o Hamburg (2): Trugbild

Was bisher geschah.

Je näher das Rotkehlchen dem Ahorn kam, desto mehr staunte es über die Pracht und den Glanz des mächtigen Baums. Es hörte den Wind durchs gelbrote Laub rauschen und brausen und bildete sich ein, das seien die Verdauungs-
geräusche des gewaltigen Artgenossen. Weil die Manteuffelstraße menschenleer und der Omnibus, der Robins Neugier geweckt hatte, längst durchs Tor der Militärakademie verschwunden war, gab es für den Vogel nur eine Erklärung: Der Ahorn hatte alle Fußgänger und Autos, die hier sonst unterwegs waren, verschlungen. Mit Maden und Larven würde der Gigant sich kaum satt essen können. Robin empfand bei dieser Erkenntnis solchen Stolz auf den Ahorn, auf sich selbst und auf seine Gattung im allgemeinen, daß er am liebsten gesungen hätte. Aber dafür fehlte ihm beim Torkeln durch die quirlige Luft leider der Atem. Es wurde Zeit zu landen.

Robin umkreiste den Ahorn einmal und noch einmal und hoffte, daß der Baum ihm irgendwas sagen würde. Erst als das Rotkehlchen die letzte Kraft aus den Flügelchen schwinden fühlte, hörte es im Geraschel und Geprassel der Blätter diese Worte: „Schlauköpfchen, willst du‘s kuschelig haben? Schau, schau, hier ist‘s traulich zum Sitzen, ziemlich lauschig auch, rasch, husch rein!“ Kaum zwei Sekunden später klammerten Robins grashalmdünne Krallen sich an eine der astdicken Federn seines neuen besten Freundes, und weil der Vogel so erschöpft war, konnte er „Danke“ nur denken, nicht sagen.

Im Kopf eines Rotkehlchens ist naturgemäß wenig Platz, und darum kann ein einziger Irrtum, egal wie offensichtlich er ist, jeden Zweifel mühelos verdrängen. Für Robin, der stets so tat, als habe er niemals Lothar geheißen, waren Zweifel ohnehin lästige Gäste. Daher wunderte es ihn überhaupt nicht, daß die Daunen seines Freundes wie Ahornblätter aussahen und dessen einziges Bein tief in der Erde steckte.

Statt dessen wartete er, bis sein Atem ruhiger ging und sein Herz bloß noch zweihundert Mal in der Minute schlug. Und dann begann Robin ein Lied zu singen, das er zuletzt gesungen hatte, als er von seinem legendären Hauseinbruch ins Gebüsch zurückgekehrt war. Der Wind trug die strahlenden Töne weithin über das Viertel. In seinem Haus aus Laub und Gras erwachte ein gewisser Igel, dachte: „Was hat der Bekloppte denn jetzt schon wieder ausgefressen?“, schlief aber gleich wieder ein. Die Drosseldame Dagmar hörte den Gesang ebenfalls und wollte dagegenhalten, doch ihr fiel auf die Schnelle nichts ein. Das machte sie für den Rest des Tages noch kiebiger als sonst. Nur der Amselmann in der alten Eiche pfiff eine Melodie zurück, die freilich aus dem Violinkonzert von Alban Berg geklaut war, und das wurde ihm bald selber peinlich.

Auch der General und der Oberst vernahmen Robins Triumphlied. Sie erwarteten den kleinen Prahlhans schon seit Stunden, und deshalb stand es mit ihrer Laune nicht zum Besten. Außerdem begann die sensationelle Sehenswürdigkeit, mit der sie Robin anlocken wollten, sie allmählich zu langweilen. Und weil so einfältige Wesen, wie Ringeltauben es sind, sich normalerweise nie langweilen, schürte die ungewohnte Empfindung ihren Zorn. Übrigens hätten sie ihre Wette verloren: Eine Gewehrpatrone hatte Robin tatsächlich schon einmal gesehen. Wann und wo, erzähle ich euch bei anderer Gelegenheit. Konrad, die Hausmaus, kennt die Geschichte übrigens auch, und für ein paar Sonnenblumenkerne plaudert er sie sofort aus, obwohl Robin ihm einen Schwur abgenommen hat, sie nie, nie, nie zu verraten. Aber was kümmert einen Quantenphysiker ein heiliger Eid? „Bloß eine Frage des Informationszustandes“, sagt der, verstaut die Kerne und fängt an zu quatschen.

Die beiden Tauben plumpsten durch die Windböen zum Ahorn, in dem Robin gerade die fünfte Strophe seines Liedes anstimmte. Darin ging es um dieselben Themen wie in den vorigen vier: „Schaut her, schaut her, schaut her – ich bin hier, ich bin hier, ich bin hier – nehmt euch in acht, nehmt euch in acht, nehmt euch in acht!“ Bei schöner Musik sind Worte eben Nebensache.

Doch trotz der Lautstärke, mit der Robin schmetterte, gelang es dem Oberst und seinem General nicht, das Früchtchen auf seinem Ast im Ahorn zu entdecken. Denn zwischen den abertausend flammenfarbenen Blättern des Baums löste Robins markante Brust sich auf wie ein Tropfen im Ozean. Für einige Momente kam es den Tauben vor, als sänge der Ahorn, und sie glaubten, ein Rotkehlchen vor sich zu sehen, das noch höher, viel höher aufragte als der hohe Zaun um die Militärakademie.

Weil aber das Gehirn von Ringeltauben Anfälle von Phantasie und Aberglauben nicht lange aushält, fingen sie an zu schreien: „He, Robin, wir haben etwas zu klären!“ Aber das Rotkehlchen sang einfach weiter: sechste Strophe, Refrain – der ging schlicht: „Ich, ich, ich“ –, siebte Strophe, Refrain, achte Strophe, Refrain … Derweil glotzten die Tauben so verzweifelt nach dem Platz, wo ihr Widersacher sich versteckt hielt, daß ihnen bestimmt die Augen rot geworden wären, wenn die nicht sowieso diese Farbe gehabt hätten.

Sie schimpften noch eine Weile, doch weil Robin nicht müde wurde, seine endlose Melodie zu flöten, gaben sie schließlich auf und flogen hinüber zur todkranken Kiefer, wo sie sich sonst mit dem Rotkehlchen trafen. Auch dort bekamen sie es nicht zu Gesicht. Und als sie ein-
schliefen, hatten sie fast vergessen, was sie überhaupt von ihm wollten.

Wird fortgesetzt.


Mittwoch, 24. Oktober 2012 23:14
Abteilung: Erzählungen, Timmis Freunde

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