Nachgetragenes zu den Rothkehlchen



Tief in der Nacht lese ich noch einmal durch, was ich über mein aktuelles Lieblingsbuch geschrieben habe, und finde, natürlich, in jeder dunklen Ecke liegengebliebene Fehler und Wortwiederholungen, Wortwiederholungen, Wortwiederholungen! Vielleicht sollte ich es halten wie der Mainstream und einen Scheiß drauf geben. Aber dann müßte ich auf die Sprache an sich scheißen; so verbittert bin ich noch nicht. Was ich nicht zuletzt Büchern wie der famosen Kritik der Vögel verdanke. – Zurück zur Journalnotiz.

Just während ich das Finale mit dem Rotkehlchen und den Elstern und dem schmelzenden Balkonvoyeur kontrolliere, beginnt – Blick auf die Systemuhr: „2:30“ – im Hof mein neuer Freund ein Lied zu singen, mit dem er auf jedem Folkfestival als Top-act auftreten könnte. Und hört gar nicht mehr auf. Um diese gottverlassene Zeit! Bei Wikipedia dt. finden sich einige Erklärungen für dieses außerplanmäßige Virtuosentum. Zumal der Hinweis auf den Stadtlärm leuchtet mir sogleich ein: Am Tag dröhnte infernalischer Baustellenkrach (die Großkita gegenüber wird renoviert) durch Fenster und Betonwände.

Dennoch – es ist sehr spät, und ich bin abergläubisch wie alle Welt – dennoch rede ich mir ein, das Rotkehlchen flöte sein Notturno nur für mich. Will‘s mir vergelten, daß ich es in meinem Blog erwähne und preise und praktisch jeder nun nachlesen kann, welch ein Spitzenmusikant es ist.

Viele Rotkehlchen haben bekanntlich ein Smartphone im Nest. Und wer besorgt ihnen das auf arttypisch krumme Tour? Die Elstern, versteht sich, u.ia. die beiden, die in der Stammbuche meines Singersongwriters ihren Horst zusammenklöppeln.

Lesen Sie die Kritik der Vögel, und solche Halluzinationen werden ihnen weniger seltsam vorkommen. Schauen Sie mal hier:

„Elstern“, fuhr er fort, „bedienen sich bedenkenlos an gedeckten Tischen und partizipieren aufs forscheste und unverfrorenste an den Gaben der Natur. Das war so nicht vorgesehen! Elstern sind nicht zu retten! Diese Barbaren gehören zur Rechenschaft gezogen!“

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Die Reaktion der Autoren auf meine Rezension fiel aus, wie ich‘s mir erhoffte, also: nicht peinlich, sondern angenehm berührt. Den Dank für mein Notat habe ich mir jedoch verbeten (ich schrieb ja bloß, was ist). Die Kritik der Vögel erzwingt, gepriesen zu werden. Und wo schon derart viel im Umlauf ist, was nichts taugt, was einem das Leben vergällt durch die schiere Anmaßung der Veröffentlichung, da lobt der Kulturbetriebsverächter nur zu gern ein Stück in höchstem Ton, welches zur üblichen Jauche des Welthirns ein ähnlich gespanntes Verhältnis hat wie ich. Ein Stück, das gut riecht und schmeckt, das die Seele nährt.

Den signierten Bierfilz aus Neuendettelsau soll ich übrigens beizeiten erhalten. Sobald er ankommt, setzt es es einen Blogpost mit Beweisbild.

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Thomas Mann erklärt in seiner weiterhin sehr bedenkenswerten Glosse „Bruder Hitler“ von 1939:

Liebe und Haß sind große Affekte; aber eben als Affekt unterschätzt man gewöhnlich jenes Verhalten, in dem beide sich aufs eigentümlichste vereinen, nämlich das Interesse. Man unterschätzt damit zugleich seine Moralität. Es ist mit dem Interesse ein sebstdisziplinierter Trieb, es sind humoristisch-asketische Ansätze zum Wiedererkennen, zur Identifikation, zum Solidaritätsbekenntnis verbunden, die ich dem Haß als moralisch überlegen empfinde.

Mann spricht hier über sein eigenes ästhetisches Programm, aber eine sehr ähnliche Ästhetik prägt auch Kritik der Vögel. Und wird, wenn ich so dreist sein darf, besser durchgehalten von den Roths als jemals von dem lübschen Feingeist. Aber das werden unsere akuten Großkritiker leider wieder nicht wahrnehmen.

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Das große Glück, die agnostische Spiritualität, die ein Mensch finden kann, der ohne Eigennutz, ohne die Erwartung einer „Interaktion“, ohne jeden bourgeoisen Nutzen die außermenschliche Sphäre beobachtet –; der Scharfsinn und die Überparteilichkeit wiederum, die der Liebhaber der „kleinen“ Angelegenheiten, der Bewunderer des noch nicht in den Verwertungsschredder gekippten Lebens mitbringt, wenn es eine Spezies zu betrachen gilt, die sich selbst und einen ganzen Erdball ruiniert hat mit ihrer Idiotie und ihrem ziemlich lustlosen, doch stramm organisierten Sadismus –:

Also, dies weltliche Glück, diese Transzendenz ohne Pfaffentum, diese Perspektive eines Himmels, der kein Kindermärchen, sondern eine von den meisten Menschen mißachtete Wirklichkeit ist, sie ergreifen mich in den Vogelportraits der Herren Roth am tiefsten. Wenn Dichtung eine Aufgabe haben sollte (ich bin nicht sicher), dann ja wohl und ausschließlich diese: Sie möge uns die richtigen Worte schenken, die uns so oft fehlen. Falls das große Wortspiel uns außerdem zum Lächeln, Gackern, Stirnrunzeln, Heulen bringt – wie Kritik der Vögel für und für –, dann wird es auch ein Dokument des besseren Teils, der im Wort „Humanität“ steckt.

À pro pos „Humanität“ – Dr. R. (Frankfurt) hat mir einen Videoclip empfohlen, in dem ein Buntspecht etwas tut, was den allermeisten Menschen nie einfallen würde, was ihnen unvorstellbar ist. Schauen Sie sich das Filmchen bitte an und suchen Sie danach Ausdrücke für das Mirakel an der Spatzenfütterungsstation. Es wird gar nicht leicht werden! Par bonheur stehen alle schönen, passenden Wörter zum Nachschlagen in (Schlußgong:) Kritik der Vögel.


 


Donnerstag, 30. März 2017 23:04
Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten, Selbstbespiegelung, Timmis Freunde

6 Kommentare

  1. 1

    Diesen wunderschönen Beitrag habe ich bei der Veröffentlichung verpaßt. Das Spechtvideo ist unglaublich!
    Ideale Gelegenheit auch, um auf eine höchst anrührende Reportage hinzuweisen, die gerade mal wieder in der Mediathek aufgetaucht ist: Die Rückkehr des Wiedehopfs über einen österreichischen Eigenbrötler, der sich der Wiederansiedlung des Wiedehopfs gewidmet hat, einfach, weil er diesen Vogel liebt (wie es jeder fühlende Mensch tun sollte):
    http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=45710

    Ich habe mir aus Zeitnot erst mal nur die erste Viertelstunde ansehen können, doch ich freue mich sehr darauf, das Stück in Ruhe anzugucken. Mille grazie für diesen Hinweis! KS

  2. 2

    PS: Ich habe die Doku auch auf YouTube gefunden; da veschwindet sie nicht so schnell wie aus der 3sat-Mediathek.
    https://www.youtube.com/watch?v=i6kxnVZVFxo
    PPS: Und vielleicht sollte man doch lieber bei 3Sat schauen (bzw. über MediathekView runterladen), denn der YouTube-Uploader teilt auch Videos von Martin Sellner. Da möchte man dann ja nun doch keine Klicks generieren.

    Möchte man nicht; andererseits dürfte der Uploader ein politisch eher unbedarfter Natur- und Gartenfreund sein und gar nicht wissen, was für ein Kerl dieser Sellner ist. Oder bin ich grad etwas zu generös gestimmt? Die Leser mögen es mir mitteilen. KS

  3. 3

    Ich glaube, es ist eigentlich schon immer gut, generös gestimmt zu sein. Gleichzeitig trieft dieses Sellner-Video derart von Haß … Aber ich wollte eigtl. nur ein – zum spatzenfütternden Specht, nicht zum haßpredigenden Sellner – passendes Fundstück ablegen. Der wundervolle Specht nämlich hat mich inspiriert, endlich mal in Kropotkins Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt hineinzuschauen (ein seit Jahren aufgeschobenes Unterfangen), nur um dort gleich im Vorwort diese wunderbare Passage zu finden:

    „Die Bedeutung des Faktors der gegenseitigen Hilfe — wenn seine Allgemeinheit nur bewiesen werden könnte« — entging nicht einem Naturforschergenie wie Goethe. Als Eckermann einst Goethe erzählte — es war im Jahre 1827 —, daß ihm zwei kleine, flügge gewordene Zaunkönige davongeflogen seien und daß er sie am nächsten Tage in dem Nest eines Rotkehlchens gefunden hatte, das die beiden mit seinen eigenen Jungen zusammen fütterte, geriet Goethe über dieses Faktum in förmliche Erregung. Er sah darin die Bestätigung seiner pantheistischen Anschauungen und sagte: »Wäre es wirklich, daß dieses Füttern eines Fremden als etwas Allgemeingesetzliches durch die Natur ginge, so wäre damit manches Rätsel gelöst.« Er kam am gleichen Tage auf die Angelegenheit zurück und legte es Eckermann dringend nahe, eine Spezialstudie über diesen Gegenstand zu machen, und fügte hinzu, er würde sicherlich »zu ganz unschätzbaren Resultaten« gelangen. Leider wurde diese Studie niemals gemacht. Immerhin ist es aber möglich, daß Brehm, der in seinen Werken eine solche Fülle von Material bezüglich der gegenseitigen Hilfe unter Tieren aufgehäuft hat, durch Goethes Bemerkung angeregt worden ist.“ (https://archive.org/stream/bub_gb_sxwiAAAAMAAJ#page/n13/mode/2up)

    Das Buch Kropotkins sollte jeder mal gelesen haben, der den Schul- und Uni-Darwinismus für verbindlich bzw. die letzte Wahrheit hält. Es ist außerdem – wie das schöne Zitat erweist – vorzüglich geschrieben. Danke dafür! KS

  4. 4

    Wie praktisch! Jetzt es gibt es Kropotkins wunderbares Buch, das ich inzwischen gelesen habe (wie Post aus einer fernen Zeit, als der Glaube an das Gute im Menschen noch geholfen hat), als kostenloses eBook:
    https://www.mobileread.com/forums/showthread.php?t=294669

    Danke für diesen Hinweis! – Als alter Freund und Verbündeter der Kleinverlage möchte ich aber nicht versäumen, die vorzügliche Holzausgabe des Trotzdem-Verlags zu empfehlen, und zwar jenen „Abfall“-Lesern, die es sich noch nicht abgewöhnt haben und auch leisten können, für Bücher, die’s wirklich wert sind, etwas zu bezahlen:

    http://www.trotzdem-verlag.de/node/15
    KS

  5. 5

    Danke für den Hinweis! Ich kaufe auch sehr gerne echte Bücher und bin froh, wenn sie von Kleinverlagen stammen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich es sehr genieße, immer eine Bibliothek auf meinem E-Reader mit mir herumtragen zu können.
    Aber was Kleinverlage angeht: Ihre sprachliche Schönheit verdankt die deutsche Fassung von Kropotkins Buch nicht zuletzt der Übersetzung Gustav Landauers; und dessen Werke werden ausgezeichnet kommentiert herausgegeben bei – tata – einem Kleinverlag: http://www.edition-av.de/gl.htm

    Was abermals belegt: Die Leser sind dieses Blogs sind belesener und klüger als der Blogger. Was den Blogger wiederum mit aufrechtem Stolz erfüllt. KS

  6. 6

    Oje, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich hätte den gesamten Landauer gelesen. *errötsmiley* Ich habe nur einen Band, aber daher weiß ich, daß man diese Edition empfehlen kann. Und bei dem, was der Blogger hier schreibt und zitiert, gilt für das Belesenheits- und Klugheitskompliment: right back atcha.

    Lieber Peter Remane, ginge es nach mir, hätte ich ausschließlich solche Leser wie Sie. Bussi! KS

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