Schnipsel: Silvester 2019


Gestern begriff ich, daß morgen ein neues Jahr beginnt.

Deshalb habe ich heute eine abgegrabbelte Kladde nach Texten durchgeflöht, die irgendwie zum Finis/Initium anni passen. Und, hallo!, ich fand einige Stückchen, die den Druck nicht verdient haben, aber hier, in dieser Art Notizbuch, eine passable Figur machen.

Sie, liebe Leserin, werter Leser, können die Fragmente und Fetzen gern brav in Reihe lesen (eine gewisse Komposition habe ich ihnen gegönnt), bevor sie zum schönsten Textstück gelangen, das ich Ihnen eingangs 2020 anzubieten habe. Dieses großartige Zeugnis der Menschlichkeit stammt nicht von mir, sondern von Frauen, die vor knapp zwei Jahrhunderten die Diabolik des beginnenden industriellen Kaputtalismus besser verstanden als so gut wie alle Insassen des vollendeten „Strafplaneten Erde“ (Dietrich zur Nedden) heute.

Falls Sie keine Zeit für mein Gestotter haben, rasen Sie mit dem Cursor südwärts, bis Sie diese Überschrift erreichen: „Die Weisheit der Weiber“. Daß ähnliche Stimmen 2020 das übliche Geschwätz, Geschnatter und Gedröhn übertönen, daß, zum Beispiel, Bernie Sanders das Monstrump ablöst: Erhoffe ich, weil es sonst keine Hoffnung gibt für die Spezies, die es verkackt hat, und für die Biosphäre, in der es, noch, Millionen wertvollere Spezies als unsere gibt.

Ich wünsche den Lesern dieses Blogs ein besseres neues Jahr, als das alte eins war, und danke von Herzen für Ihre Aufmerksamkeit, Ihren Zuspruch und die vielen klugen Kommentare!

***

Kein Gleichnis
Abends entzünde ich wie jeden Abend die große Kerze in der großen Laterne auf dem Balkontisch, der voller Körner liegt, die von den Blaumeisen aus dem Futterhäuschen geworfen wurden. Der lange Docht der großen Kerze in der großen Laterne flackert und rußt, als hätte er keine Lust zu brennen, als wäre er für irgendwelche Symbolik heute nicht zu haben.

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Die Metapher des Jahrzehnts
„Sie bieten keine offenen Wunden in den Schnittstellen an.“
Steffen Simon (ARD) im Live-Kommentar
zum WM-Spiel England-Tunesien, 18.6.2018

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Nehmt dies, Verhaltensforscher!
Meine Neigung, beim Schneiden von Zwiebeln wie ein Zweijähriger zu heulen, der auf dem Wickeltisch vergessen wurde, ist eine der wenigen Konstanten in meinem Leben. Andere sind angenehmer. Gleich welche Tricks ich probiere, sie schlagen nicht an. Weder fließendes Wasser (Messer verglitscht, tiefer Schnitt) noch Schweißerbrille (Lächerlichkeit plus schlechte Sicht) lösten das Problem.

Und wie es so geht: Irgendwann liefen mir die Augen schon, wenn ich Zwiebeln nur ansah. Die Sache mit Pawlow, falls Sie verstehen. Der Zwiebelanblick ist die Glocke, die Körpersaft aus mir preßt, obgleich ich nichts zu beweinen habe.

Manchmal bilde ich mir ein, das Geflenne, das Rotz-und-Wasser-Heulen beim Zwiebeln habe esoterische Motive. Es sei ein Ausdruck meines Über-Ichs, ein Schluchzen der Scham und des Entsetzens über mich selbst, wenn ich die Schalotte skalpiere, die rote oder gelbe Zwiebel spalte, zerhacke, zerreibe … Daß ich beim Tranchieren von Fleisch noch nie geweint habe, hat vielleicht mit diesem C. G. Jung zu tun.

Wie auch immer: Ich pflege eine unglückliche Affäre mit der Königin der feinen Küche, der Nährmutter der scharfen Typen. Harry Rowohlt erzählt in seiner ewigschönen Autobiographie In Schlucken-zwei-Spechte, wie er als armer Buchhandelslehrling in Zürich ohne Zwiebeln kaum überlebt hätte:

Rohe Zwiebeln sind sehr gut gegen Hungergefühle, deshalb essen arme Leute rohe Zwiebeln. Und außerdem sind sie köstlich.

Erfahrungen der Not mußte ich glücklicherweise nicht machen, um zu einem Verehrer der Zwiebel zu werden, mir reichten die Freuden deutscher Kleinbürgerküche. Die schwarzgebrannten Zwiebelringe, in denen die Hühnerleber gart, und hernach alles hineingemust ins Kartoffelpüree … Das Zwiebelhack auf dem Mettbrötchen … Die mit Käse verbackenen Ringe der Zwiebeln auf der Suppe … Ich lasse für so was fast alles stehen außer, vielleicht, Gulasch mit – logo – reichlich Zwiebeln drin.

An meiner Liebe zur Zwiebel ist kein Zweifel. Doch wie vergilt sie‘s mir? Mit Tränen. Da fällt mir ein: In einer Uncle-Scrooge-Geschichte von Carl Barks steht auf dem Schreibtisch des entenschnabelharten Fantastilliardärs ein Schälchen Zwiebelsaft bereit. Mit Tropfen aus dieser Schale kann sogar ein Egoist wie Scrooge McDuck so tun, als wäre er eine menschliche Ente. Pfefferspray oder CS-Gas würden nämlich die Netzhaut beschädigen.

***

Acht letzte Fragen
• Warum heißt es GlücksPILZ, aber PechVOGEL?
• Warum GEHT die Sonne auf und STEHT dann am Himmel?
• Warum hat ein Witz einen BART, aber Mario BARTH keinen Witz?
• Warum BLÜHT die Hoffnung, während die Gefahr WÄCHST?
• Warum ist Bildung eine RESSOURCE, die deutsche Bildungspolitik jedoch
MÜLL?
• Warum STEIGT der Nebel, wenn die Landschaft in ihm LIEGT?
• Warum können HERZEN aus Stein nie, doch MARMOR, STEIN und EISEN
brechen?

• Warum leben Leute, die keine Ahnung haben, hinterm MOND und trotzdem
scheint ihnen die SONNE aus dem Arsch?

***

Zeitgenössisches Kindergebet
Liebe Göttin, hab dich gerne
wie den Papa und die Sterne!
Liebe Göttin, hast du Zeit
für mich in deiner Ewigkeit?
Liebe Göttin, sei mir lieb,
dann wirds abends später trüb.

***

Die Weisheit der Weiber
„Wer ein Produkt verkauft, behält seine Person. Aber wer seine Arbeitskraft verkauft, verkauft sich selbst, verliert die Rechte freier Menschen und wird der Vasall riesiger Fabriken einer Geldaristokratie, die jeden zu vernichten droht, der ihr Recht auf Versklavung und Unterdrückung infragestellt. Wer in diesen Knochenmühlen arbeitet, dem sollten sie auch gehören, Menschen sollten nicht den Status von Maschinen haben, die von Privatdespoten beherrscht werden, welche auf demokratischem Boden monarchische Prinzipien errichten und in einem neuen Wirtschaftsfeudalismus Freiheit und Rechte, Zivilisation, Gesundheit, Moral und Verstand unterdrücken.“

Aus den „Factory Tracts“, in denen die Fabrikarbeiterinnen von Lowell in Massachusetts ihre Arbeitsbedingungen schildern (1845).
Aufgelesen in Noam Chomsky:
Requiem für den amerikanischen Traum
(2017).

Photo: „Silvester II. and the Devil Cod. Pal. germ. 137 f216v“
[Public domain],
via Wikimedia commons

7 Kommentare

  1. 1

    Frohes neues, hochgeschätzter Blogger, und danke für die jetzt erstmal nur überflogenen Jahresendschnipsel!
    Ich schreib nur, weil Sie Pawlow erwähnen, und mir zu dem erst letztens ein hübscher Witz begegnet ist: Pawlow sitzt abends mit seinen Kollegen in der Wirtschaft. Als der Koch auf die Glocke in der Durchreiche haut, weil irgendein Gericht fertig ist, springt Pawlow auf und ruft: „Mist! Ich hab vergessen, die Hunde zu füttern!“

    Spitzenwitz – gebellten Dank dafür! KS

  2. 2

    Die „Weiber“, das sei hiermit erwähnt, waren die „Lowell Mill Girls“ bzw. genauer „Lowell Female Labor Reform Association“. Wenn ich es auf die Schnelle richtig recherchiert habe, zumindest in den USA der erste selbstverwaltete Zusammenschluss von Fabrikarbeiterinnen. Early proletarian woman power. Auch sehr schön:
    Oh! isn’t it a pity, such a pretty girl as I
    Should be sent to the factory to pine away and die?
    Oh! I cannot be a slave, I will not be a slave,
    For I’m so fond of liberty,
    That I cannot be a slave.

    Ich danke für die hilfreiche Information und das prachtvolle Kampflied! KS

  3. 3

    „Alles muss raus!“ Da ich noch 1 Zentner „Frohes neues Jahr“ im Keller herumliegen habe, gebe ich Dir hiervon jetzt 50 kg. (!!!)

    Und von mir gibt’s eine Zwanzigsteltonne retour – vielen Dank! KS

  4. 4

    Ganz ohne irgendeinen Zusammenhang, nur weil ich weiß, daß Sie das genauso rühren wird wie mich:
    https://twitter.com/JocAPhotography/status/1213953298836971525
    Schönen Gruß!

    O ja, Sie haben mich richtig eingeschätzt! Und sicherlich auch den „Abfall“-Lesern, die in der Kommentarspalte rumluschern, eine Herzensfreude bereitet. Sonst sollen die hier bloß nicht mehr luschern! – Danke, Herr Remane! KS

  5. 5

    Ich habe übrigens die Bildunterschrift der obigen Illustration entziffert:
    „Wie Papst Silvester einmal den Satan im Wettangeln besiegte.“

    Ich denke, daß die Geschichte des Hochmittelalters nun umgeschrieben werden muß. KS

  6. 6

    Warum sieht der Papst aus wie Schulz?
    Das ist doch unheimlich.

    Wie Chulz? Aber der trägt doch eine Brille. – Und an wen erinnert Sie der Teufel rechts vom Papst? KS

  7. 7

    Der Teufel?
    Ganz klar: öffentlich-rechtlicher Rundfunk.
    Wobei die Zuordnung der verschiedenen Gesichter nicht mehr in mein Fach fällt.
    Grüße

    Damit geht die Frage ans Publikum: Wer erkennt mehr? KS

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