Verrat wird Tugend, Lüge Pflicht
Der niedersächsischen Landtagsabgeordneten Elke Twesten – vormals Grüne, ab sofort CDU – ist zu danken für die Klarstellung, was wir im Jahr 2017 unter einer
bürgerlichen Grundstruktur
zu verstehen haben.
—Der schwer angefressene Nochminiprä Stephan Weil führt aus, was dieser Struktur zugrunde liegt:
Daß eine Abgeordnete aus eigennützigen Gründen eine Fraktion verläßt und damit die von den Wählerinnen und Wählern gewünschte Mehrheit im niedersächsischen Landtag verändert, betrachte ich als unsäglich und schädlich für die Demokratie. Dies gilt umso mehr, als ohnehin in etwas mehr als fünf Monaten Neuwahlen anstehen würden.
—Wenn die CDU sich dieses Verhalten zunutze macht, beteiligt sie sich aktiv an der Mißachtung des Wählerwillens.
Heute.de, 4.8.2017
Weniger staatsmännisch formuliert es der Miesepeter in Kiel:
SPD-Vize Ralf Stegner nannte die Entscheidung Twestens „unanständig“
Spiegel online, 4.8.2017
Eine weitere Präzisierung der Merkmale bürgerlicher Grundstruktur liefert SPD-Generalsekretär Hubertus Heil:
Die Politikerin stelle „in ihrer verletzten Eitelkeit und in ihrem Frust ihre persönlichen Interessen vor das Wohl des Landes“ […].
Heute.de, 4.8.2017
Wie Karl Marx in seinem – auch literarischen – Meisterstück Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte die Bourgeoisie 1852 beschrieb, so sind ihre Erben von heute erst recht:
Das allgemeine Wahlrecht scheint nur einen Augenblick überlebt zu haben, damit es eigenhändig vor den Augen aller Welt sein Testament mache und im Namen des Volkes selbst erkläre: „Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht.“ […]
—Der Auswurf der bürgerlichen Gesellschaft bildet schließlich die heilige Phalanx der Ordnung, und Held Krapülinski zieht in die Tuilerien ein als „Retter der Gesellschaft“. […]
—Indem also die Bourgeoisie, was sie früher als „liberal“ gefeiert, jetzt als „sozialistisch“ verketzert, gesteht sie ein, daß ihr eignes Interesse gebietet, sie der Gefahr des Selbstregierens zu überheben, daß um die Ruhe im Lande herzustellen, vor allem ihr Bourgeoisparlament zur Ruhe gebracht, um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; daß die Privatbourgois nur fortfahren können, die andern Klassen zu exploitieren und sich ungetrübt des Eigentums, der Familie, der Religion und der Ordnung zu erfreuen, unter der Bedingung, daß ihre Klasse neben den andern Klassen zu gleicher politischer Nichtigkeit verdammt werde […].
Aus MdL Twesten heuchelt der Geist ihrer Klasse, ihr erbärmlich egoistisches Verhalten ist die bürgerliche Grundstruktur. Bei der Pressekonferenz, die sie mit ihrem neuen Spießgesellen, dem CDU-Fraktionschef im niedersächsischen Landtag Björn Thümler, am Freitagmittag abhielt, öffnete Twesten ihr Herz bzw. das, was eine Bourgeois an dessen Stelle hat:
[Sie] sei auch schon lange eine „bekennende Anhängerin von Schwarz-Grün“.
—Mit Blick auf die Grünen spricht sie von einem „längeren Entfremdungsprozess“. Seit Jahren habe sie sich angesichts der politischen Ausrichtung aber auch wegen innerparteilicher Umgangsweisen bei den Grünen gefragt, ob sie in ihrer Partei noch richtig sei.
FAZ.net, 4.8.2017
„Schon lange“? „Seit Jahren“? Das ist aber interessant. Am 20. Januar 2017 teilte Twesten nämlich noch über ihren offiziellen Twitter-Account einen Tweet des grünen Landesverbandes über den „richtigen Weg“; und solch volles Einverständnis läßt eine Entfremdung zwischen Partei und Mitglied nicht mal als Prozeß erkennen:
Also hat Twesten entweder vor acht Monaten gelogen oder gestern, doch ist die Frage des Datums der bürgerlichen Struktur im Grunde egal. Vor mehr als 70 Jahren notierte Adorno über Masken wie diese:
Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales zu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, daß einem nichts an ihm liegt, daß man seiner nicht bedarf, daß einem gleichgültig ist, was er über einen denkt. Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann.
Minima Moralia
Das Funktionspersonal, das die Grünen heute charakterisiert, hat Adorno bis ins Detail vorausgeahnt:
Die Bürger haben ihre Naivetät verloren und sind darüber ganz verstockt und böse geworden. Die bewahrende Hand, die immer noch ihr Gärtchen hegt und pflegt, als ob es nicht längst zum „lot“ geworden wäre, aber den unbekannten Eindringling ängstlich fernhält, ist bereits die, welche dem politischen Flüchtling das Asyl verweigert. Als objektiv bedrohte werden die Machthaber und ihr Anhang subjektiv vollends unmenschlich. So kommt die Klasse zu sich selbst und macht den zerstörenden Willen des Weltlaufs sich zu eigen. Die Bürger leben fort wie Unheil drohende Gespenster.
a. a. O.
Was ein Leben selbst dem Schein nach schwerlich ist.
—Nun allerdings bin ich gespannt, wann Palmer zur AfD, Fegebank zur FDP und die gesamte grüne Partei zum Teufel gehen wird. Nicht „ob“ – wann.
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Photo: „Nicolas Dings – Der Lügner Detail“,
by OS Meyer (Own work) [CC BY-SA 3.0],
via Wikimedia Commons
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Sonntag, 6. August 2017 14:53
Ich bezweifle, daß es für die zuletzt Genannten nötig sein wird, das Parteibuch zu wechseln, schließlich repäsentieren sie lt. Urwahl mindestens zwei Drittel der Grünen. Wer die dann wählt, der wird das schon so wollen …
Bin ja selten mit Hugo [Müller-Vogg, d. Admin] einer Meinung, Hier aber, denke ich, liegt er ziemlich richtig.
Erstaunt war ich jedoch beim Hören des Interviews dieser Dame im DLF. Seit angeblich 20 Jahren in der Politik, aber sich die Fähigkeit erhalten habend, keinen klaren Satz formulieren zu können. Noch peinlicher als diese unsägliche Kultursenatordarstellerin. Da es vorrangig um einen Versorgungsfall gehen dürfte, gehe ich mal davon aus, daß demnächst die schon immer in ihrem tiefsten Inneren schlummernden europäischen Ideen mit einem entsprechenden CDU-Mandat beauftragt werden.
Das alles natürlich nur sinnvoll und zielführend, weil eine Mehrheit gekippt wurde und die N***-CDU (!) sich kurz nach der BTW einen größeren Merkel-Push erhoffen kann. Bleibt abschließend nur die Frage, ob das Gewissen auch so geplagt hätte, wenn es im Vorfeld zu einer Parteinominierung gekommen wäre. Hätte der Seitenwechsel überhaupt stattgefunden, und nur ein Hahn gekräht, wenn die Regierungsmehrheit komfortabler gewesen wäre? Hallo, Weber Max: Gesinnung oder Verantwortung?
Auch wahr:
Welche Kultursenatorin meinen Sie? Fegebank ist doch – was ich weit grotesker finde bei dieser universal gedankenfreien Frau – zuständig für Wissenschaft und Forschung. An den Hamburger Hochschulen dürfte die Erste Assistentin Olaf Scholz‘ ungefähr so beliebt sein „wie das, was die Katze von draußen reinbringt“ (Kurt Vonnegut). KS
Eine Bitte, lieber TT (was soll diese Abkürzung eigentlich bedeuten, wenn ich fragen darf – Sie müssen natürlich nicht antworten) – belassen Sie es beim Edieren bei Kursivierungen. Sie würden mir dadurch die Bearbeitung Ihrer Kommentare beträchtlich erleichtern (im Augenblick erreichen Sie mit Ihrer anerkennenswerten Mühe leider das Gegenteil). – An einer Stelle mußte ich Sie zensieren, die könnte veröffentlicht nämlich teuer werden, jedenfalls in den Hamburger Gerichtsgrenzen. Ich bitte um Ihr Verständnis und sage vorab Dank! Der Admin
Dienstag, 8. August 2017 8:21
Derartige Wechsel zum politischen Gegner bzw. Klassenfeind gehören schon lange zum politischen Allta:
Wir erinnern uns.
Christine Scheel, Ex-MdB, Grüne, war eine Zeit lang im Vorstand der HEAG Südhessische Energie AG. Seit September 2013 ist Scheel Mitglied im Aufsichtsrat der Naturstrom AG sowie seit Oktober 2016 Aufsichtsratsmitglied der Capital Stage AG.
Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen und von 2002 bis 2005 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, wurde nach Ende der Schröder-Regierung Mitglied im Beirat der Energie Baden-Württemberg (EnBW), einem der größten Energieversorgungsunternehmen und Kernkraftwerksbetreiber Deutschlands.
Andrea Fischer – Grüne- wurde nach der Bundestagswahl 1998 am 27. Oktober 1998 als Bundesministerin für Gesundheit in die von Bundeskanzler Gerhard Schröder geführte Bundesregierung berufen. Seit 2006 arbeitet sie bei der PR-Agentur Pleon (laut Eigenwerbung „Europas größte Agenturgruppe“) in München und leitet dort den medizinisch-pharmazeutischen Bereich Healthcare. Seit April 2006 ist Fischer Mitherausgeberin der „GesundheitsNachrichten“, einem Fachblatt der Gesundheitsindustrie.
Marianne Tritz, Grüne, bis 2005 MdB, von 2008 bis 2012 2008 war sie als Geschäftsführerin zum neugegründeten Deutschen Zigarettenverband tätig. Frau Tritz ist seit dem 1. Mai 2013 Geschäftsführerin des Gesamtverbands Dämmstoffindustrie.
Gunda Röstel, ehemalige Sprecherin des Bundesvorstandes B90/Grüne, brachte auch ihr Schäfchen ins Trockene: Im Oktober 2000 wurde Röstel Managerin für Projektentwicklung und Unternehmensstrategie bei der Gelsenwasser AG, damals ein Tochterunternehmen von E.ON, ab 2003 im Eigentum der Dortmunder und der Bochumer Stadtwerke. Seit Juli 2004 ist sie kaufmännische Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden GmbH. Als Vertreterin des Landes Baden-Württemberg wurde sie im April 2011 in den Aufsichtsrat der EnBW gewählt.
Birgit Fischer, SPD, ehemalige Ministerin für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie ist seit dem 1. Mai 2011 Hauptgeschäftsführerin beim Verband forschender Arzneimittelhersteller.
Guido Reil, SPD-Stadtrat in Essen, wechselte 2016 zur AfD.
Joschka Fischer, heute Berater von RWE, Siemens und BMW – ja BMW!!!
Sonntagabend im ZDF-„Sommerinterview“ mit Bettina Schausten regte sich Cem Özdemir über den Auto-Lobbyisten Eckart von Klaeden (CDU), Leiter des Bereichs Politik und Außenbeziehungen der Daimler AG, auf. Hätte er doch besser geschwiegen.
Vielen Dank für diese bunte Liste der Korruptheit! KS
Und bitte entschuldigen Sie, daß ich Ihren Kommentar heute erst freischalte; ich war, sozusagen, absent. Der Admin.
Sonntag, 13. August 2017 12:07
Wäre der Blogbeitrag unter der Rubrik „Bored beyond belief“ nicht besser aufgehoben? Wieso sich 2017 über Dinge aufregen, die spätestens 1983 schon jeder wissen konnte?
Wieso sich noch über den Kaputtalismus aufregen, wo doch spätestens 1848 jeder bescheid wissen konnte? Warum überhaupt eine Meinung vertreten, wenn sie sich seit drei Jahrzehnten nicht geändert hat? Wie, scheint’s, bei Ihnen. KS
Mittwoch, 16. August 2017 19:35
@ Lebowski:
Der Michel vergißt zu schnell.
Der Mensch generell. KS
Donnerstag, 17. August 2017 6:28
Und bald fährt er zur Höll‘. (Wenn er denn so weitermacht, der Mensch.)
Ich glaube eher, daß er schon drin sitzt. KS