Archiv für die Abteilung 'Litterarische Lustbarkeiten'

Das vorstellbare Glück. Ein Geburtstagsgruß

Montag, 29. Juni 2015 23:25

Ror Wolf, der bedeutendste deutschsprachige Dichter unserer Zeit, begeht heute seinen 83. Geburtstag. Das ist für jeden, der sich aus Literatur etwas macht, eine Freude, und an einem Tag wie diesem, der vor Katastrophenmeldungen nachgerade dröhnt, sogar ein Trost. Wolfs Dichtung bietet einer Welt, die ihren Wahnsinn immer schlechter verbirgt, weiterhin die Stirn; und es besteht kein Zweifel daran, wer sich beim Zusammenstoß eine Beule holen wird. Obwohl Ror Wolf explizit politische Texte niemals verfaßt und seinen Abscheu vor jederlei Ideologie wiederholt erklärt hat, steht seine Kunst für das Unbestechliche, Eigenwillige, Integre, Widerständige, das in der Einen Welt der Neoliberalen immer seltener und daher immer nötiger wird. Es schadet niemandem, sich ein Beispiel an Wolfs Konsequenz, Mut und Souveränität zu nehmen.

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Du bist der Boß!

Dienstag, 16. Juni 2015 22:56

Rowohlt_Trauerkraehen_01_(c)_Kay_Sokolowsky

Spontane Trauerkundgebung für Harry Rowohlt in der Osdorfer Feldmark (Hamburg)

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Kein Bär von geringem, sondern einer von eminentem Verstand hat sich leider, leider für immer in den Hundertmorgenwald zurückgezogen. Er verstand ungewöhnlich viel, zum Beispiel vom Geschichtenerzählen. Doch am meisten von der Sprache, aus der die Poesie zieht, was Sprache werden soll. Harry Rowohlt konnte gegen gewaltige Kleinigkeiten wie ein Satzzeichen polemisieren wie hierzulande sonst nur Gremliza und Henscheid. Und wahrte dabei stets einen warmen Ton, so, wie man es sich von einem großen Bären wünscht.

Ich habe einige Male mit dem bedeutenden Mann geplaudert, nie sehr lange. Kollegial, weiter nichts. Und ich möchte mich jetzt backpfeifen dafür, Rowohlt nie gesagt zu haben, wieviel Spaß und Bewunderung mir seine Übertragungen der Robert-Crumb- und Gilbert-Shelton-Comics seit dreieinhalb Jahrzehnten bereiten, wie oft ich Wendungen daraus benutze, etwa diese: „Puha, der Kammerjäger muß auf die Pirsch!“ Versemmelt, Sokolowsky, setzen, sechs.

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Mars in oppositio

Samstag, 4. April 2015 23:59

Kay Sokolowsky hat bereits vor längerer Zeit (ca. Herbst ‘89) die Hoffnung aufgegeben, seine Meinung könne mehrheitsfähig werden. Die allgemeine Einverstandenheit mit dem Status quo erscheint ihm seit dem Fall der Mauer wie eine neue, viel mächtigere, weil unsichtbare Wand, an der er sich beim Versuch, sie einzurennen, nichts als Beulen und Kopfweh holen kann (und geholt hat). Was Sokolowsky allerdings nicht davon abhält, immer wieder dagegenzupoltern.

Ähnlich fest auf dem eisernen Thron wie heute saß der Kaputtalismus seit seiner Gründerzeit nicht; und anders als damals ist keine soziale Bewegung in Sicht, die ihm das Plündern und Verwüsten sauer machen könnte. Syriza? Ach je. Podemos? Schön wär‘s. Der Abgang der Marktwirtschaft ist weiter weg als ein (s.iunten) bemannter Flug zum Mars.

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Schniefenpsychologie

Dienstag, 3. März 2015 23:18

Eisrotz_(c)_Kay_SokolowskyIn Dan Simmons‘ prächtigem Abenteuerschauerhistorien-
schmöker Terror hat eine eher beschauliche Szene mich besonders, gleichsam synästhetisch beeindruckt. Denn ich las sie das erste Mal, als ich genauso fies verschnupft war wie dieser Tage. Die Passage beschrieb und beschreibt die Verstopfung meines Kopfes, den Geschmack in meinem Mund, das Geklump in meinem Hals und den Glitsch in meiner Nase besser, als ich es selber könnte.

Zur Vorgeschichte: Der britische Marineleutnant John Irving hat eine junge Eskimofrau kennengelernt. Sie spendiert ihm aus Gastfreundschaft einen ordentlichen Streifen Robbenspeck; und der halbverhungerte, mit seinen Kameraden seit Monaten im arktischen Packeis gefangene Seemann greift nicht bloß aus Höflichkeit zu.

Es schmeckte wie ein seit zehn Wochen toter Karpfen, der unter den Abwasserrohren von Woolwich aus dem Schlamm der Themse gegraben worden war. Irving hatte das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben, und setzte bereits an, den Bissen halb zerkauten Specks auf den Boden des Schneehauses zu spucken. (…)
Zu seinem Entsetzen sah er, daß die Eskimofrau andeutete, er möge noch mehr von dem köstlichen Speck verzehren.
Immer noch lächelnd schnitt er sich ein Stück ab und schluckte es hinunter. So mußte es sich anfühlen, wenn man sich einen riesigen Klumpen Nasenschleim eines anderen Geschöpfs in den Mund steckte.

Und nun wissen Sie, wie‘s mir derzeit geht. Ich bin mir selbst mein anderes Geschöpf.

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Congratulazione, adorato dott. Jürgen Roth,

Montag, 16. Februar 2015 19:50

Der Gratulant (hier an einem der schönsten Orte Frankens) wehrt in ungespielter Bescheidenheit die Komplimente ab

Der Gratulant (hier an einem der schönsten Orte Frankens) wehrt in ungespielter, doch unnötiger Bescheidenheit die Komplimente ab

et bon anniversaire, geschätzter Kollege, Всего наилучшего!, verständiger Genosse, happy birthday, lieber Freund – laß mich mal auf den Hocker steigen, Großer, und Dich kräftig umarmen! (Was ichDir fürs frische Lebensjahr wünsche, bleibt im stillen, danngeht‘s auch in Erfüllung.)

Hat mein Weblog Leser, die Dich noch nicht kennen und schätzen? Sollte es so sein, habe ich etwas falsch gemacht. Darum weise ich jetzt nachdrücklich auf Dein und Matthias Egersdörfers herz- und hirnerweiterndes Buch Die Reise durch Franken hin. Das mir in diesem grauen Winter immer wieder mal wie ein guter Schnaps war, ein Trost nämlich und eine Stärkung.

Aber so ergeht’s mir ja stets mit Deinen Schriften, lieber Freund. Denn sie geben den ganzen Mann, sind witzig, hochintelligent, reflektiert, geradeaus; sanft und melancholisch angesichts des Schwachen und Bedrohten, erbarmungslos, doch niemals ungerecht gegen das, was man sich hierzulande von den Eliten, ja, was man sich in diesem albernen Land überhaupt an „Eliten“ bieten lassen muß.

Gleichsam in einer Nußschale aufgehoben sind Deine Stärken und Dein Stil, Deine tadellose Haltung und Dein vorbildliches Deutsch, alter Kombattant, in Deiner jüngsten, mirakulös zwischen Wehmut und Wut oszillierenden, simultan zu Tränen des Zorns und der Nostalgie aufrührenden Taz-Glosse über die Entseelung des Würzburger Hauptbahnhofs.

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Bleibt erschüttert, widersteht: Piwitt zum 80sten

Mittwoch, 28. Januar 2015 23:51

Piwitt_Mond_80_(c)_Kay_Sokolowsky

Wintermond für HPP

Wieviel ich ihm verdanke, als Leser und als Autor … Was er mir beigebracht hat über die nötige Haltung, im Leben sowohl als auf dem Papier … Welchen Trost ich noch seinen bitteren Notizen abgewinne (hat er sie doch in einer Weise verfaßt, die an Lakonie und tänzerischer Gewandtheit schwerlich zu übertreffen ist) … Und weshalb ich mir viel darauf einbilde, ihn duzen zu dürfen …: Das wäre einen ausgreifenden, für dieses Blog leider zu langen Aufsatz wert.

Hermann Peter Piwitt, der heute 80 Jahre alt wird, ist nicht bloß einer der scharfsinnigsten Chronisten der bundesdeutschen Verhältnisse (etwas Erhellenderes über den Crash sämtlicher 68er-Utopien als Piwitts Roman Die Gärten im März von 1979 wird man in der Hochliteratur kaum finden). Piwitt ist vor allem ein echter Dichter, ein wohlgeratener Sohn seiner schönen Mutter Sprache, und, das kommt auch unter echten Poeten selten vor: eingerader Typ.

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Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten, Selbstbespiegelung | Kommentare (0) | Autor:

Empfehlung des Hauses: Klang, Klug-, Klarheit

Dienstag, 27. Januar 2015 23:35

Wolf_RWW_Nachrichten_aus_der-bewohnten_Welt_(c)_Schöffling_Verlag

(c) Schöffling & Co.

Sollte mich mal einer fragen: „Was haben deine Lieblingsdichter gemeinsam?“ – dann könnte ich wie aus der Pfefferpistole geschossen antworten: Bei allen habe ich den Wunsch, irgendwann genauso schön schreiben zu können wie sie. Den semantischen Geröllhaufen, grammatischen Widerborstigkeiten, stilistischen Fallstricken (Metapher, Metonymie, Masche) ebenso souverän ausweichen zu können. Genauso musikalisch und taktbewußt die Sätze anlegen, ebenso planvoll die Form und den Inhalt in ein fruchtbares Bett legen zu können. Meine drei Heiligen Meister sind (in fremder Sprache) Gustave Flaubert, Vladimir Nabokov und William Shakespeare; die deutscher Zunge heißen Karl Kraus, Arno Schmidt und: Ror Wolf.

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Zwischen Kaffeestunde und Schlummertrunk

Sonntag, 25. Januar 2015 23:12

Der_heilige_Antonius_von_Padua_72_(c)_Wikimedia_commons_Moros

Himmelfahrt mit Schweinchen (W. Busch)

Es gäbe heute, liebe Leserin, lieber Leser, einiges zu glossieren und im „Abfall“ zu sortieren. Etwa die überraschende Vorverlegung des Pegida-Aufmarschs von Montagabend auf Sonntagnachmittag. Die Pegidazis sollten laut ihren Leithammeln so die Möglichkeit erhalten, Herbert Grönemeyer beim morgigen „Bürgerfest für Weltoffenheit“ für umme beobachten zu dürfen. Das haben diese Trottel nun davon, daß sie Roland Kaiser unter den Bann gestellt haben – sie müssen sich noch schlimmere Musik anhören. Dank sei der karmischen Gerechtigkeit!

Ich könnte mir vielleicht auch den einen und den anderen unappetitlichen Gedanken machen über die 37 Millionen Bakterien, die ein einziger Mensch pro Minute in seiner Umgebung verteilt, und weshalb dieser Mensch im Bus stets genau neben mir stehen muß. Aber mein Schnupfen kommt nicht von Keimen, sondern von Viren, und man soll nicht alles aufs Karma schieben. Also widmen wir uns an diesem kalten, feuchten, sternlosen Winterabend etwas anderem und wirklich erfreulichen – der Ausgefuchstheit und Komikkanonfestigkeit der „Abfall“-Leser.

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