Jahresend-Post



Das Älterwerden, liebe Leserin, geschätzter Leser, ist für niemand ein Vergnügen. Denn es hat bloß einen Bonus und sonst nur Mali. Über die Nachteile könnte ich Ihnen viel erzählen, das Sie eh schon wissen, könnte eine Mauer aus Klagen errichten, die freilich keinen beeindruckte. Also konzentriere ich mich auf den einzigen Vorteil des Entjüngens, und der heißt: Skepsis aus Erfahrung.

Wenn zum Beispiel irgendsoein Cum-Ex-und-Hopp-Kanzler sich hinstellt und von einer „Zeitenwende“ schnarrt, dann glaube ich ihm sowieso kein Wort und speziell dieses nicht. Mir sind in den vier Jahrzehnten meiner Adoleszenz so oft „Epochenwechsel“, ein „neues Kapitel der Geschichte“ oder ein „Aufbruch ins Ungewisse“ versprochen bzw. angedroht worden, daß mir dieses Pathos schon aus den Ohren kommt, bevor es reinschmiert. So lange die Menschheit im Wahn des Kaputtalismus gebannt ist, gibt es keinen Anlaß – das habe ich über meine vielen Jahre gelernt –, von der Änderung der Symptome auf eine Besserung der Krankheit zu schließen.

Vielmehr gilt, was Bruce Gold in Joseph Hellers ungeheuer komischem Roman Gut wie Gold (1976) konstatiert: „Veränderung = Verschlechterung.“ Ein Dreckskrieg wie der Rußlands gegen die Ukraine wendet nicht die Zeiten, sondern belegt aufs Schlimmste, in welche Richtung sie sich seit Dekaden bewegen – um nur das Beispiel zu geben.

Allerdings hat Mr. Gold nur recht, so weit es um die unmenschlich großen, die makroökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Rahmen der Wertverwertung geht. Im Kleinen und Menschlichen können Veränderungen durchaus Verbesserungen sein. Das hoffe ich jedenfalls für diese Neuerung in meinem Leben: Mit dem Jahreswechsel beende ich meinen Status als „freier ungeschützter Unternehmer“ (Ror Wolf) und begebe mich – nicht zum ersten Mal – in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Der Teil des „Abfall“-Publikums, der auch meine Auftritte an anderer Stelle beobachtet, ahnt wahrscheinlich, was ich andeute.

Jedenfalls führt diese Veränderung auch zu einer in meinem Weblog. Ich werde künftig an diesem Ort noch mehr privatisieren und noch weniger publizieren. Es hat sich hier in jüngerer Zeit allerdings und sowieso nicht viel getan. Einem treuen und empathischen Leser, den über den „Abfall“ kennenzulernen ich das Vergnügen hatte, schrieb ich neulich, daß ich „einfach verdrossen und maulfaul war, weil mir das Bloggen so fürchterlich sinnlos vorkam“. Er zürnte mir und erwiderte: „Damit setzt Du Dich sehr dem Verdacht nach fishing for compliments aus.“

Selbstverständlich: keine Selbstkritik, die nicht um Lob bettelt, und sei es für den „Mut“, sich selber in Frage zu stellen. Aber das ändert (haha) kaum etwas an der Korrektheit der Kritik: Die Wirkungslosigkeit meiner Blogposts wird allenfalls von der Primitivität des Kommentar-Tools übertroffen. Aber ich beklage mich nicht, wirklich nicht – ich habe es ganz genau so gewollt.

(Stimme aus dem halbleeren Saal:) „Und welches Andenken werden Sie dem Jahr 2022 bewahren?“ – Ein schreiend schlechtes. Trotzdem durfte ich privat einiges Schönes und Beglückendes erfahren. Doch darüber schweige ich, weil, bei allem Respekt, Sie nicht alles wissen müssen. – (Stimme:) „Oooch …“ – Na schön, ich will Ihnen, wertes Publikum, immerhin verraten, welches der gelungenste Satz war, den ich im abgelaufenen Jahr schrieb (und ich habe 2022 sehr viele Sätze geschrieben). Wie alle wirklich gelungenen Sätze war er plötzlich da, wahrhaftig ein Blitz oder wenigstens Funke im Geist, und ich mußte nichts an ihm ändern, weil er seinen Gedanken makellos auf den Punkt bringt. Dieser Satz eignet sich übrigens auch hervorragend als Neujahrswunsch, und darum schreibe ich ihn hier noch einmal auf:

Es gibt nur eine gute Nachricht von der Front: daß keine Front mehr ist.

Alles Gute für 2023 und vielen Dank für Ihr Interesse, Ihren Zuspruch und Ihren Tadel!



Ja, Herrschaftszeiten, Sie sind ja immer noch hier! Na schön, also gut, bittesehr – dann bekommen Sie jetzt den elegantesten Rausschmeißer, der jemals komponiert wurde, vom größten Jazzmusiker der Weltgeschichte serviert. Arrivederci!


Samstag, 31. Dezember 2022 17:51
Abteilung: Inside "Abfall", Selbstbespiegelung, Sokolowsky anderswo

7 Kommentare

  1. 1

    Hallo Herr Sokolowsky, Ihnen alles Gute für Ihr kommendes abhängiges Beschäftigungsverhältnis, ich bin gespannt, worum es sich handelt. Ebenso auch Ihnen alles Gute für 2023. Vielen Dank für Ihre Jahresend-Post, wie immer ein Vergnügen von Ihnen zu lesen. Louis Wu

    Und mir ist es ein Vergnügen, solche netten Kommentare zu lesen – vielen Dank für die schönen Wünsche! (Wo ich ab morgen arbeiten werde, ist spätestens in drei Wochen kein Geheimnis mehr.) KS

  2. 2

    Hui … da soll noch einmal eine*r sagen, dass sich zu Neujahr eh nie was ändert! Ich hoffe aber sehr, Sie bleiben – allen Zeiten- und sonstigen Wenden zum Trotz – weiterhin ‚konkret‘ als fleißiger Autor erhalten?
    So oder so, und gerne auch ganz ohne Anlass: Alles Gute!

    Merci! Und ich kann Ihnen versprechen, ohne zuviel zu versprechen: Ich werde KONKRET garantiert als Autor erhalten bleiben. KS

  3. 3

    Lieber Kay Sokolowsky!
    Ja, das ist Dreckskrieg und ja, Russland macht sich damit schuldig. Allerdings ist es kein Krieg gegen die Ukraine. Es begann als Operation zum Schutz der russischen Bevölkerung im Donbas und hatte zusätzlich zum Ziel, die an die Macht geputschte Faschistenregierung in Kiew daran zu hindern, die Ukraine atomar zu bewaffnen und den Beitritt zur NATO zu vollziehen. Inzwischen ist es ein Krieg gegen die NATO geworden. Alles keine Berechtigungen, einen Krieg zu führen, aber der Vollständigkeit halber hier erwähnt.
    Was Ihre Wirkung mit diesem Blog betrifft, möchte ich Ihnen widersprechen. Es ist nicht die Zahl der Leser, die eine Wirkung belegt, sondern der schlichte Fakt, dass eine Stimme der Vernunft von denen, die Ohren haben auch gehört wird. Sie haben eine ganze Schar von sehr intelligenten Lesern angezogen und das Lesen der Kommentare hier ist oft mindestens so bereichernd wie Ihre Beiträge. Ich hoffe, Sie lassen uns nicht im Stich, ich benötige von Zeit zu Zeit Beistand in dieser infantilen Welt.
    Herzlich
    Andreas Schmid

    Nein, im Stich werde ich weder Sie noch dieses Weblog lassen. Ich werde einfach nicht mehr viel Zeit dafür haben. – Für das schöne Lob, ich sei eine Stimme der Vernunft, danke ich. Allerdings denke ich manchmal, ich sei eher ein Pfeifen im Walde. KS

  4. 4

    Lieber Kay Sokolowsky,
    ich bin gerne im Wald, wenn möglich täglich. Obwohl sich mir als jungem Menschen, es kann eigentlich nur James Fenimore Cooper gewesen sein, der mir diese Szene in den Hinterkopf geschrieben hat, in der er der Geborgenheit, die so ein Wald bietet, die Gefahr gegenüberstellt, daß, ohne jede Vorwarnung, man jederzeit von einem Baumriesen erschlagen werden kann. Er beschreibt das sehr detailreich, auch die Geräusche, auf die es zu achten gilt, will man aus einem Urwald lebend wieder heraus kommen, daß ich ihm das geglaubt habe. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, warum ein Baumriese, einfach so, ohne Einwirkung von starken Winden oder einer Axt oder Säge, umfallen sollte. Angst ist es nicht, die er mir damit gemacht hat, eher Respekt, ein trau nicht dem vermeintlichen Frieden, sei immer auf der Hut. Am 19. Oktober letzten Jahres habe ich es dann selbst erlebt. Völlig ungefährlich in diesem Fall, völlige Windstille, eine altersschwache Pappel, die, gut 2 Meter über dem Boden, einfach umknickte. Ungefährlich in diesem Fall, weil es sehr langsam vor sich ging und ihre Krone sich in umstehenden anderer Bäume verfing, die ihren Fall bei etwa 45° zunächst bremsten und erst ein paar Stunden später, nachdem auf der Rückseite des Knicks das Holz und die Rinde nach und nach aufriß, sich zersplitterte (was für Töne), legte sich der Stamm, wieder mit Geräuschen, die einem Respekt einflößen, langsam, wie in Zeitlupe, in die Horizontale.
    Das fällt mir ein zu Ihrem „Pfeifen im Walde“. Und noch viel mehr, aber das kann sich hier jede und jeder selber denken. Ich wünsche Ihnen alles Gute und auch dem Verlag, daß er gut genug dasteht, Sie für Ihre Arbeit auch halbwegs angemessen bezahlen zu können.
    Herzlichst
    Udo Theiss

    Lieber Udo Theiss, ich danke für die schöne Waldgeschichte! Und für die guten Wünsche auch. Was meine Bezahlung betrifft – nun, es wäre sicherlich lukrativer, mich wie so viele Kollegen bestechen zu lassen. Aber ich schlafe sowieso nicht gut, da bleib ich lieber integer und freu mich, eine Arbeit, die mir gefällt, auch bezahlt zu bekommen. KS

  5. 5

    Ein bisschen irritierte mich das Schild in seiner – zum Glück nur scheinbaren – Endgültigkeit schon, bangte ich doch um eine der wenigen Oasen, die man in der www Geisteswüste ansteuern kann, aber da dem nun nicht so ist, gibt es für 23 doch noch Anlass zur Vorfreude.
    Bestes wünscht
    Thomas Schweighäuser
    PS: Man ahnt bei Schwell- und Schwallbegriffen wie „Zeitenwende“ tatsächlich, dass der Wendehammer eher nach Kreisverkehr aussieht.

    Ich danke für die besten Wünsche! Und ich hoffe, dass ich Ihre Vorfreude nicht enttäuschen werde. KS

  6. 6

    PS: Das Zitat von Ror Wolf stammt doch aus einem, nein: dem erfreulichsten Buch, das ich 22 las, seinem Tagebuch, oder? Wenn alles mit rechten Dingen zugehen wird, liegt es in 10 Jahren auf vielen Nachttischen als ebenso komisches wie sprachgewaltiges Geschichtsbuch aus dem Blickwinkel eines der größten Dichter der BRD, über deren Geistesleben man alles weiß, wenn man von ca. vierzehn Zuhörern in Viersen liest.

    Lieber Thomas Schweighäuser, Sie sind mir als Autor bereits hochsympathisch. Aber was Sie hier über Wolf und sein Tagebuch schreiben, dehnt die Sympathie aufs Allgemeinmenschliche aus. Auch der alte Meister hätte es mit großem Behagen gelesen, da bin ich sicher. – Ich weiß gerade nicht, ob der „freie ungeschützte Unternehmer“ im Tagebuch vorkommt; in Interviews hat Ror Wolf die Formulierung jedenfalls ein paar Mal benutzt. KS

  7. 7

    Lieber Kay,

    deine Blogposts mögen wirkungslos sein, was den Verlauf des Krieges in der Ukraine, die Auswüchse des Kaputtalismus (schönes Wort), den menschengemachten Klimawandel und andere Widrigkeiten angeht, sie sind aber keineswegs wirkungslos, was die Erhellung und Unterhaltung deiner Leserschaft angeht. Insofern hoffe ich, dass du den Abfall aus der Warenwelt nicht vollends in den Abfall des Internets wirfst.
    Jedenfalls gutes Gelingen im Abhängigkeitsverhältnis, das dir hoffentlich ausreichend Zeit für die Dinge und Menschen lässt, die du liebst.
    Und auf ein Wiedersehen in diesem Jahr.
    Herzliche Grüße aus Ottensen,
    Volker

    Lieber Volker, ich danke Dir sehr für Deine guten Worte; sie wärmen mein altes Herz. – Nein, der „Abfall“ wird weiterhin vor sich hinmüllen, auch wenn er in der kommenden Zeit nicht eben überlaufen wird. Und: ja, es ist höchste Zeit, daß wir uns wiedersehen.
    Nur die besten Grüße aus dem schlimmen Teil von Osdorf,
    Kay

Kommentar abgeben (Kommentare unter Moderation - Regeln siehe HIER)

Math Captcha *Zeitlimit überschritten. Bitte füllen Sie das Captcha noch einmal aus.