Janusgaben (1)

Ich mag das vergehende Jahr in meinem Blog nicht mit der elenden Seuche beenden, und ich möchte das neue nicht mit dem Alpdruck unserer Zeit beginnen. Lieber zeige ich Ihnen und mir zwei Geschenke an den alten Gott Janus, die ich mit der Bitte um Gnade auf seinen Altar lege. Es handelt sich um zwei Texte, die ich zum Besten zähle, was ich jemals schrieb. Heute, passend zum Datum, ein Nachruf, den ich selbst nicht wiederlesen kann, ohne daß mir die Augen schwimmen. Morgen ein kurzer literarischer Essay, der exakt so makellos, tiefgründig und erhellend ist, wie ich es mir für jeden meiner Essays – meistens vergeblich – wünsche. Ich hoffe, daß der Gott und zumal Sie Gefallen daran finden.
Und ich hoffe noch mehr, daß bald (bald!) wieder eine Zeit sein möge, in der ich mein Talent ausschließlich solchen Themen widmen kann, statt es in der Protokollierung des waltenden Wahnsinns zu erschöpfen. KS


Augenblicke

Man sieht Filme, und manchmal werfen sie einen Blick zurück.

Manchmal ist da ein Bild, das einen verfolgt bis in Träume hinein. Manchmal bleibt die Welt einfach stehen vor der Kamera, und die Welt wird zu Film, und danach bewegt sich die Welt anders als vorher, und das liegt daran, daß ein außergewöhnlicher Schauspieler mit einem raren Regisseur zusammentraf. Und manchmal ist da noch mehr, und das heißt Genie, und ein Bann liegt auf bestimmten Bildern, der sich nie wieder löst.

Da ist zum Beispiel dieser unendlich triste Himmel über den unerhört schäbigen Wohnblöcken, und dort, an einer Straßenecke, da lehnt er, in einer knappen Fliegerjacke, und wir sehen auf ihn hinab, und wir hören dazu diese unerträglich schöne Musik von Leonard Bernstein, dieses ergreifende Hornmotiv, das man so schwer je vergessen wird wie diesen Blick aus diesen zugeschwollenen Augen, die die Augen sind eines Verlierers aus Passion.

Und im nächsten Augenblick ist da ein schweres Halbdunkel in einem Büro voll schwerer Möbel und schwerem Rauch, und im Zentrum dieses Dämmers sitzt wie eine große schwarze schwere Spinne wiederum er, viel älter jetzt, mit hängenden Backen, und von draußen dröhnt eine Tarantella herein, und in all der Düsternis leuchten nur seine weltallkalten Augen, die jetzt die Augen sind eines geborenen Herrschers, und es blitzt sein Siegelring auf, den er zum Kuss reicht mit einer vor lauter Macht wie ermüdeten Geste.

Und nun ist ein anderes Halbdunkel und plötzlich ein wie polierter wuchtiger Glatzkopf, und eine Hand wischt den Schweiß von dieser kahlen Haut, und man sieht diesen Mund, diesen unverschämt sinnlichen Mund, und man sieht diese Augen, die jetzt voller Trauer sind über ihre hypnotische Macht und über die suggestive Macht dieses Mundes, und von außen dringen die Geräusche eines Dschungels hinein, in dem nur solche Raubtiere überleben können wie dieser Mann, und diese Überlegenheit erfüllt ihn selbst mit namenlosem Horror, ihn, den absoluten Machthaber wider Willen.

Und im folgenden Moment taucht er mitten im Lärm von Paris auf, seine blonden Haare schütter, sein muskulöser Körper an der Schwelle zum Verfall, und seine unvergleichlichen Augen sehen in ein Nichts, in dem sogar die äußerste Lust versinken und verschwinden wird, und sein unwiderstehlicher Mund ist zu schwach geworden für ein letztes Wort, und seine immer noch kräftige Hand rafft den gelben Mantel vor der Brust zusammen mit der mürben Geste eines Mandarins, der in Ungnade fiel vor dem Kaiser und nun das Gewand fest ergreift, um nicht nackt zu treten vor den Henker, aber er wirkt dabei nur noch entblößter und hoffnungsferner.

Man sieht Filme, und manchmal werfen sie einen Blick zurück, und manchmal sieht man auf der Leinwand einem Ereignis zu, das größer ist als der Film, in dem es stattfindet, und man weiß, daß diese Sensation mit einem Menschen zu tun hat, der geschaffen ist für die Leinwand und für all das, was wir auf sie projizieren neben dem Licht aus dem Projektor. Und nicht der Film sieht dich an, sondern er, dieser Mensch, dieser Mann, und auch wenn er fort ist, wird er immer da sein, im Licht auf der Leinwand, nein, in den Schatten zwischen all dem Licht, und erst sein Tod erinnert daran, daß auch er, sogar er kleiner war als das, was die Kamera aus ihm machte, aus ihm und seinem Körper und seinen Gesten und seinen Augen, aus ihm –: Marlon Brando, geboren am 3. April 1924 in Omaha, Nebraska, gestorben am 8. Juli 2004 in Los Angeles, Kalifornien.

Eigenartig, daß ein Schauspieler wie er so selten Glück hatte mit seinen Filmen. „Die Faust im Nacken“, natürlich, „Der Pate“, selbstverständlich, „Apocalypse Now“, kein Zweifel, „Der letzte Tango in Paris“, klar –: Das bleibt bestehen und wirkt weiter und legt vehement Zeugnis ab von einer mimischen Kraft, die ihresgleichen kaum gehabt hat im 20. Jahrhundert. Aber dagegen: „Désirée“, „Das kleine Teehaus“, „Sayonara“, „Der Mann in der Schlangenhaut“, „Meuterei auf der Bounty“, „Morituri“, „Die Gräfin von Hongkong“, „Spiegelbild im Goldenen Auge“ … Konfektionsware im besten Fall und meistens nicht mal das, sondern einfach Schrott und längst vergessen, wäre nicht er, Brando, das Gravitationszentrum dieser Filme.

Richard Schickel, der 1991 mit Brando, A Life In Our Times das klügste, diskreteste und zugleich verliebteste Buch über den Star veröffentlichte, bemerkt darin über die lange und peinliche Durststrecke, die des Schauspielers Karriere in den 60er Jahren durchschlich: „Häufig erweckt er den Eindruck, als versuche er lediglich, das Bestmögliche aus einer schlechten Rolle zu machen … Doch das Wort, das seine Arbeit in diesem Zeitraum am besten trifft, ist ‚depressiv‘. Dieser Begriff enthält zahlreiche medizinische Symptome, die für seine Arbeit auf der Leinwand kennzeichnend sind: mangelnde durchgängige Konzentration, unerklärliche Wutausbrüche, geringe erotische Energie, unaufhörliche Ablenkbarkeit.“

Diese finsteren Jahre in Marlon Brandos Laufbahn entsprechen ziemlich genau der Zeitspanne, in der das alte Studiosystem des amerikanischen Films unterging, die Kräfte des New Hollywood aber noch zu jung waren, um den Laden zu übernehmen. Das aufregende Kino, das so viel besser zu Brandos Ingenium gepaßt hätte, war in England, Schweden, Italien und Frankreich zu Hause, und wiewohl z. B. die Rädelsführer der Nouvelle vague dieses 100-Megawatt-Kraftwerk von einem Schauspieler aus der Ferne vergötterten, war er ihnen schlicht zu teuer.

Das änderte sich erst, als Marlon Brando bei den US-Produzenten als Kassengift verschrien war und als ein Star, dessen – angebliche – Allüren ganze Filmfirmen in den Ruin treiben konnten: Die Neuverfilmung der „Bounty“-Geschichte 1962 wurde zwar durchaus nicht seinetwegen zum Multimillionen-Dollar-Grab. Aber er, der seine Verachtung für das Star-Unwesen und die politisch-moralische Verlogenheit Hollywoods oft genug geäußert hatte, mußte nun dafür büßen, daß sein Talent und seine künstlerische Integrität fast alles überragten, was ihn in Tinseltown umgab. „Hollywood“, stellte der Regisseur Arthur Penn damals sehr richtig fest, „liebt es, jemanden auf das Star-Podest zu heben und ihn dann zu demontieren. Bei jemandem wie Brando, der ein überaus kreativer Mensch ist, glaube ich, daß sie entsetzliche Angst vor ihm haben.“

Spätestens mit „Candy“ (1967) schien das Genie erledigt und ausrangiert. Aber so einfach ging‘s nun doch nicht. Der Italiener Gillo Pontecorvo engagierte Brando 1968 für den durchaus marxistischen Film „Queimada“ und gewährte ihm mit der Rolle eines britischen Spions in der Karibik des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, das Image, das Hollywood ihm verpaßt hatte, endlich loszuwerden.

Die großen Rollen des jungen Brando von „Endstation Sehnsucht“ (1951) bis „Der Besessene“ (1961) lebten vor allem vom Antagonismus zwischen seiner enormen erotischen Ausstrahlung und der Angst, die so viel sexuelles Charisma in einer rasend prüden Gesellschaft erzeugt. Die Filme, die Brando drehte, arbeiteten sich vor allem daran ab, die Versuchung, die er darstellte, zu domestizieren („Die Faust im Nacken“) oder gleich lächerlich zu machen („Das kleine Teehaus“). Was James Dean oder Montgomery Clift nur versprachen, das konnte er zweifellos halten; und wenn Brando in „Der Wilde“ auf die Frage, wogegen er denn rebelliere, antwortete: „Was haben Sie denn anzubieten?“, dann war das nicht nur ein saucooler Spruch, sondern auch eine zutreffende Formulierung für die ebenso ziellose wie überwältigende Virilität, die aus diesem Gesicht und diesem Körper ins versteinerte Amerika Eisenhowers hineinbrach wie ein Erdstoß.

In „Queimada“ hat die hypertrophe Adoleszenz ein Ende. Brando ist über die „Bounty“-Katastrophe erwachsen geworden – und noch weniger denn je mit den Verhältnissen, wie sie sind, zu vereinbaren. Im Auftrag seiner englischen Dienstherren stiftet William Walker alias Brando in einer portugiesischen Kolonie eine Revolution an. Die gelingt, und zwar nur zu gut, und als die Rebellen auch den Briten gefährlich werden, organisiert Walker eine brutale Gegen-Revolte.

Die Rolle, die Marlon Brando hier spielt, ist eine ziemlich präzise Metapher für sein eigenes Star-Leben in Hollywood. Die ungeheure Vitalität, mit der er vormals das industrielle Studiosystem erschüttert hatte, stand ja von Anfang an in Diensten eben dieses Systems, und als die Meister der Meinung und die Herren der Filmfirmen es so wünschten, war Brando loyal genug, sich selbst zu denunzieren und seine einzigartige physische Aura zu travestieren. Der „Bounty“-Schiffbruch markierte den Sieg des alten Hollywood über seinen vermutlich größten Antipoden – ein Pyrrhussieg allerdings, an dem dieses alte Hollywood einige Jahre später zu Grunde ging. Nicht viel anders als der Agent William Walker, der nach seinem Sieg über die Revolution, die er einst anzettelte, ermordet wird. „Ein Lächeln“, schreibt Richard Schickel, „irgendwo zwischen Ironie und Seligkeit angesiedelt, spielt um (Walkers) Lippen, als er das Leben aushaucht.“

Durch „Queimada“ wurde Brando frei für das größte Comeback, das je einem ausgemusterten Hollywood-Star gelungen ist. Die hohe Intelligenz und das erstaunliche politische Bewußtsein, die er schon als junger Star artikuliert hatte, aber auch die Schizophrenie von Star-Status und simultaner Sympathie für die Depravierten, der eminente Zynismus also, mit dem Marlon Brando sein Handwerk betreiben mußte, wird fortan zum Thema seiner Figuren.

Und statt deshalb vollends ausrangiert zu werden, erhält der größte amerikanische Schauspieler des 20. Jahrhunderts einen Oscar für seine Darstellung des Paten Vito Corleone. Er mußte freilich seine außerordentliche Schönheit hinter Fettwülsten und Falten und Hamsterbacken verbergen, um als der wache und kluge Kopf erkannt und verehrt zu werden, der er stets gewesen ist. Ein Jahr später, in „Der letzte Tango von Paris“ (1972), inszeniert dann weniger Regisseur Bertolucci als Brando selbst den endgültigen Abschied von der enormen erotischen Aura, die ihn zum Star gemacht, aber seine noch viel größere mimische Präsenz lange Jahre verdeckt hatte.

Es war Marlon Brando, der den Weg bereitete für Darsteller wie Robert De Niro, Dustin Hoffman und Al Pacino, der ambivalenten Schauspielernaturen unserer Tage wie Nicolas Cage, Sean Penn oder Ewan McGregor einen Weg wies zwischen Kommerz und Kunst, indem er ein Star war und sich zugleich allem Star-Rummel entzog.

Man sieht Filme, und manchmal, wie gesagt, werfen sie einen Blick zurück. Und auf einmal sehen wir wieder diesen Mann mit dem hinreißenden Profil und dem raubtiergleichen Leib, wir sehen ihn wieder unter diesem unendlich tristen Himmel inmitten dieser unerhört schäbigen Wohnblöcke, und dort, an einer staubgrauen Straßenecke, dort lehnt er immer noch in seiner knappen Fliegerjacke, und wir sehen jetzt zu ihm hinauf, und wir hören dazu wieder diese unerträglich schöne Musik von Leonard Bernstein und dieses unbeschreiblich ergreifende Hornmotiv, und er lächelt uns an mit seinem unverschämt schönen Mund; und wir wissen: Er bleibt.

Zuerst erschienen in KONKRET 8/2004.

Photo: Marlon Brando publicity for One-Eyed Jacks“,
by None visible/Paramount Pictures [Public domain],
via Wikimedia Commons


Freitag, 31. Dezember 2021 0:01
Abteilung: Director's Cut, Moving Movies

Ein Kommentar

  1. 1

    Lieber Herr Sokolowsky,
    schönen Dank für diesen Artikel und das Foto.
    In den 50er Jahren durfte ich in der Sonntgsmatinée den S/w Film von Shakespeares „Julius Cesar“ sehen. Die Rede, die Brando neben dem Leichnam des ermordeten Julius Ceasar hielt ist mir noch heute unvergeßlich. Eigentlich „schwärmte“ ich für James Mason, der den Brutus spielte, aber am Ende der Rede war Marc Anton mein Held.Kann man sich einen besseren Römer vorstellen? Er war ein Bild von einem Mann, ein unglaublich guter Schauspieler und ein vollendeter Römer. Eigentlich war er meine erste Liebe. Später sah ich jeden seiner Filme. Danke für den Artikel. Es tut mir gut, auch bei jemandem wie Ihnen dieselbe Liebe zu diesem besonderen Menschen zu spüren.

    Danke für die lobenden Worte, über die ich mich sehr freue! – Ihre Schwärmerei für den großen James Mason teile ich übrigens vollauf. Und eines, immerhin, hatte er Brando voraus: die gleichsam bronzene Schönheit seiner Stimme. KS

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