Janusgaben (2)

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des „Abfall“ ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Impfstatus ein glückliches neues Jahr. KS


Bartlebys Konsequenz
Nichts mehr tun, nicht einmal darüber Auskunft geben, warum man nichts tut, sich weder fügen noch wehren und trotzdem in gar nichts sich fügen und alles abwehren: Das ist die äußerste Verweigerung, und ihr Held heißt seit mehr als anderthalb Jahrhunderten, seit Herman Melville ihn erschuf: Bartleby. Der junge Mann – farblos ordentlich, mitleiderregend anständig, rettungslos verlassen – wird als Kopist in einer Anwaltskanzlei an der Wall-Street angestellt und erledigt zu Beginn auch brav seine trostlose Arbeit: Doch er schrieb immerfort stumm, bleich, mechanisch. Am dritten Tag seiner Beschäftigung allerdings entzieht er sich erstmals einer Anordnung, und zwar mit einer der berühmtesten Phrasen der Weltliteratur: I would prefer not to.

Mit „Ich möchte lieber nicht“, hat Jürgen Krug in seiner vorzüglichen Neuübersetzung [Insel, Frankfurt a. M. 2004] diesen Satz eingedeutscht; das etwas geschraubte „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun“ anderer Übertragungen paßt aber auch. Bartleby sagt nie „nein“, weil er gar nicht die Situation zuläßt, in der er nein sagen müßte. Er erhält einen Auftrag, doch statt ihn nicht auszuführen, legt er seinem Dienstherrn – der zugleich der namenlose Ich-Erzähler von Bartleby, der Schreiber ist – nah, es sei besser, ihn mit Aufträgen zu verschonen. Bartleby verweigert nicht bloß die Arbeit, er verweigert sich selbst, und das mit jedem Tag in der Kanzlei mehr. Erst hilft er nicht beim Korrekturlesen der Kopien. Dann drückt er sich vor Botengängen. Er mag auch nicht über sich Auskunft geben. Schließlich stellt er das Abschreiben ein.

Sein Brotherr gerät in Wut, ohne Bartleby damit beeindrucken zu können. Er versucht es mit Sympathie und erreicht wieder nichts. Er rätselt über Bartlebys Motive und findet doch bloß Erklärungen, die nichts erklären. Der blasse junge Mann kommt ihm wahlweise verrückt vor, augenleidend, vom Leben zerschmettert, doch das sind Entschuldigungen, die der Chef im Namen seines renitenten Angestellten erfindet. Bartleby zieht es vor, sich für nichts zu entschuldigen. Die stoische Stringenz dieser Haltung beeindruckt den Advokaten zutiefst: Nicht einen Augenblick vermochte man sich vorzustellen, daß Bartleby ein unmoralischer Mensch sei. Der Kopist benimmt sich sonderlich, ja ungehörig, doch die Noblesse des Ich möchte lieber nicht überwältigt den Anwalt stets aufs neue. Kein Lamento, keine aufrührerischen Reden, ja nicht einmal der Anschein von Hintergedanken, nur: Ich möchte lieber nicht. Bartleby, der in der Kanzlei sogar übernachtet, wird zu einem stummen Einrichtungsstück in meinem Zimmer, bald zu einem Mühlstein, und trotzdem tat er mir leid.

Endlich feuert der Anwalt den nutzlosen Knecht. Doch Bartleby zieht es vor, die Kanzlei nicht zu verlassen. Sein Chef bekommt Lust, ihn zu erschießen, besinnt sich aber rasch auf seine Christenpflicht und läßt ihn gewähren: Der arme Mensch, der arme Mensch! dachte ich, er meint es ja nicht böse; und außerdem hat er schwere Zeiten erlebt, und man muß Nachsicht mit ihm haben. Bartleby freilich läßt nie ein Wort fallen, aus dem sich schließen ließe, er habe schwere Zeiten erlebt und sei ohne böse Gedanken. Er zieht es vor, alles für sich zu behalten: Meinungen, Erlebnisse, Arbeitskraft.

Bartlebys Kollegen, die Kopisten Turkey („Truthahn“) und Nippers („Zange“), würden ihm gern an die Wäsche gehen, aber der Anwalt gebietet ihnen Einhalt. Auch den Plan, die Polizei einzuschalten, verwirft er rasch. Zuletzt hat er eine Idee, deren Ausführung sein Gewissen, glaubt er, am wenigsten belasten dürfte: Da er mich nicht verlassen will, muß ich ihn verlassen. Ich werde meine Kanzleiräume wechseln. So leicht jedoch wird der Anwalt den Schreiber nicht los. Der Nachmieter beschwert sich bei ihm über Bartleby, den unbeweglichen Bewohner der Büroräume, doch mit innerem Zittern lehnt der Anwalt jede Verantwortung für Bartleby ab.

Der nun von der Polizei auf die Straße gesetzt wird. Wo Bartleby aber nicht bleibt: Er beginnt, im Treppenhaus des Kanzleigebäudes herumzulungern. Sein Ex-Chef, der befürchtet, in der Zeitung bloßgestellt zu werden, kehrt in die alte Behausung zurück und redet auf Bartleby ein, sich, wenn schon nicht als Kopist, so doch in einem anderem Gewerbe zu betätigen – als Verkäufer oder Schankkellner vielleicht. Bartleby erwidert, dies würde ihm ganz und gar nicht gefallen; doch ich bin, wie bereits gesagt, nicht wählerisch. Er möchte lieber überhaupt keine Veränderung vornehmen.

Also wird die Veränderung an ihm vorgenommen. Man sperrt ihn ins Untersuchungsgefängnis von New York, die so genannten „Tombs“ (Gräber). Bartleby, der unter keiner ehrenrührigen Anklage stand, wehrt sich nicht dagegen. Er zieht es jetzt auch vor, nicht mehr zu essen. Etwas später stirbt Bartleby auf dem Gefängnishof, und der Erzähler sieht ihn ein letztes Mal: Am Fuße der Mauer erblickte ich den abgezehrten Bartleby, merkwürdig zusammengekauert, die Knie angezogen, wobei er auf der Seite lag und sein Kopf die kalten Steine berührte.

Bartleby, der Schreiber war Herman Melvilles erste Novelle. Zwei Jahre nach dem kolossalen Mißerfolg von Moby-Dick, ein Jahr nach dem Desaster seines Romans Pierre, war Melvilles Stern, mit Taipi und Weißjacke hell erstrahlt, schon wieder verloschen. Der erst 34 Jahre alte Dichter, vormals von den Verlegern hofiert, mußte jetzt Brotarbeiten annehmen. Bartleby erschien 1853 in der Novemberausgabe von „Putnam‘s Monthly Magazine“ und brachte Melville, der wahrlich besseres gewöhnt war, 85 Dollar ein. Als er die Geschichte 1856 im Buch Die Piazza-Erzählungen wieder veröffentlichte, war der Verdienst sogar noch schlechter. Einiges von der Verzweiflung des Autors über seine beruflichen Niederlagen ist in Bartleby eingeflossen: Der junge Mann, der eines Tages keine Lust mehr hat, für vier Cent je Folioseite die Feder kratzen zu lassen, darf durchaus als Schatten seines Schöpfers verstanden werden.

Doch Melville hält sich nicht lange mit sich selbst auf. Bartlebys strikte Weigerung, an dem Leben, das man ihm aufzwingen will, teilzunehmen, hat keinen Grund außer dem einen: Ich möchte lieber nicht. Er ist nicht wählerisch, weil er gar keine Wahl hat. Er tritt in die Dienste des Anwalts, um zu sterben, und die Kanzlei soll seine Gruft werden. Bartleby hat den Ort gut ausgesucht: Auf der einen Seite öffnen sich die Fenster zu einem Lichtschacht, auf der anderen zu einer Brandmauer: Der Aussicht fehlte, was die Landschaftsmaler „Leben“ nennen. Man vergönnt ihm zwar nicht, in diesem Mausoleum den Tod zu finden, aber in ein Gefängnis gesperrt zu werden, das „Tombs“ genannt wird, ist ein akzeptabler Ersatz.

Bartleby hat keine Vergangenheit, und damit er auch keine Zukunft haben muß, verzichtet er auf die Gegenwart. Stunden-, tagelang steht er bloß da, versunken in Mauerträumereien: Sein Leben ist gegen die Wand gefahren, weil das Leben in dieser Welt von lauter Wänden beschränkt wird, und er hat es aufgegeben, sich daran den Kopf einzurennen. Sein Dienstherr empfindet nicht nur Mitleid für Bartleby; er bewundert ihn insgeheim: Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen ist, daß die bequemste Lebensweise die beste darstellt. Ein Opportunist also, ohne irgendeinen Ehrgeiz außer dem, sich mit niemandem zu streiten. Nicht einmal mit seinem eigenwilligen Angestellten.

Melvilles Novelle spielt mit großer Delikatesse auf die Passion Christi an, eine Geschichte, die den überzeugten Heiden Melville weniger aus religiösen denn aus philosophischen Gründen ungeheuer faszinierte. Lieber nicht leben als so leben; völlige Passivität in einen Akt äußersten Widerstandes verwandeln; das Schicksal geschehen lassen statt sich ihm gehorsam unterwerfen –: Für Melville war das die größte denkbare Heldentat und der tiefere Sinn des christlichen Martyriums. Er hat den ergreifendsten Charakter seines millenaren Romans Moby-Dick, den Ersten Maat Starbuck, und den Titelhelden seiner letzten Erzählung Billy Budd als Christusfiguren in diesem sehr blasphemischen Sinne gestaltet, doch nirgendwo ist die Metapher ihm so diskret und ironisch gelungen wie in Bartleby. Der Anwalt, der es anderen überläßt, Bartleby zu drangsalieren, um sein Gewissen nicht zu belasten, markiert dabei den Pontius Pilatus, Nippers und Turkey übernehmen die Rollen der beiden mit Christus gekreuzigten Verbrecher, und Bartlebys Todespose ähnelt aufs Haar einer Pietà, freilich ohne daß der Verstorbene sein Haupt in den Schoß der Mutter betten darf.

Die große Amerikanistin Elizabeth Hardwick schreibt über Melvilles Novelle, sie sei „ein Werk von strengem Minimalismus, philosophischer Gelassenheit, radikaler literarischer Gestalt, äußerster Verzweiflung und zudem von vollendeter Erzählweise“. Tatsächlich hatte der Dichter seine Motive selten so gut im Griff wie in Bartleby: Die Geschichte aus der Wall-Street, der „umzäunten Straße“, ist eine Geschichte, in der die ganze Welt nur mehr aus Wänden besteht, von den Mauern um die Kanzlei bis zur Mauer, an der Bartleby seinen letzten Atemzug tut. Herman Melvilles sonst vor Bildern, Allegorien und Ekstasen überbordender Stil ist heruntertemperiert auf das Phlegma und den schlichten Geist des Ich-Erzählers, hat sich zugleich auch angepaßt an die durch keine Assoziation und keine Metapher mehr zu sprengende Hoffnungslosigkeit des Helden. Die verhaßte Begrenztheit, in Zeilen wie Inhalten, die das Schreiben für ein gefälliges Monatsmagazin ihm aufzwang, wird von Melville ebenso genial wie sarkastisch in die Novelle überführt: Bartleby redet nur das Nötigste – wie sein Schöpfer –, und als Erzähler tritt ein Mann auf, dessen Horizont den eines typischen Putnam‘s-Leser keineswegs übersteigt. Herman Melville besaß ein ausgeprägtes Faible für solche grimmigen Scherze.

Erst im Finale – das Hardwick völlig zu Unrecht „herrlich“ nennt – wird Melville vor der eigenen Courage bange. Er klärt das Rätsel um Bartlebys Vergangenheit auf und nimmt der enigmatischsten Figur, die er je beschrieb, dadurch einiges von ihrem Nimbus. Dieser Schluß auch dürfte Eckhard Henscheid, einen Bewunderer von Melvilles Novelle, dazu gebracht haben, sie „alles andere als vollkommen“ zu nennen. Doch sie ist vollkommen – die mißratenen, wie angeklebt nicht nur wirkenden Schlußabsätze einmal ignoriert. Henscheid betont ja selbst, „Melvilles Erzählung“ gehöre „zu den ganz großen, bewegenden, rührenden“. Und es ist natürlich kein Zufall, daß der Teppichverkäufer Alfred Leobold in Henscheids Roman Geht in Ordnung – sowieso — genau Bartleby mehr als nur flüchtig ähnelt, wenn er sich lieber schweigsam zu Tode säuft statt weiterhin brav seine Arbeit zu erledigen,

Herman Melville starb 1891. Er war als Dichter längst vergessen, und es dauerte drei lange Jahrzehnte, ehe man sein Werk wieder entdeckte. Deshalb wäre es historiographisch etwas gewagt, Bartleby zum Ahnherrn gewisser Figuren im Werk Robert Walsers, Franz Kafkas oder Italo Svevos zu ernennen. Doch das Elend des Angestelltendaseins und den einzigen friedlichen Ausweg aus diesem falschen Leben vor allen anderen entdeckt zu haben, erlaubt es immerhin, Melville als ein Genie zu bewundern, das einfach zu früh auf die Welt kam. Der eigentümlichen Magie und Aktualität seiner bedeutendsten Novelle hat dies sowieso nicht geschadet: Oh, Bartleby! Oh, Menschheit!

Zuerst erschienen in LITERATUR KONKRET 2005.


Samstag, 1. Januar 2022 1:00
Abteilung: Director's Cut, Litterarische Lustbarkeiten

6 Kommentare

  1. 1

    Bartleby’s extrovertiertes Spiegelbild, Ignatius Reilly, der sich den Verhältnissen verweigert, indem er ihnen seinen Willen aufzwingt, findet sich im großartigen komischen Roman „A Confederacy of Dunces“ von John Kennedy Toole.

    Lieber Arno Matthias, so, wie Sie Ignatius Reilly beschreiben, ist er nicht das „Spiegelbild“, sondern das absolute Gegenteil von Bartleby. Für die Buchempfehlung danke ich trotzdem. KS

  2. 2

    Da hab ich ihn ja endlich, meinen guten Vorsatz fürs neue Jahr: „Ich möchte lieber nicht“. Danke für die literarische Anregung! Das konkretere Sich-schweigsam-zu-Tode-Saufen hätte übrigens auch seinen Reiz, aber das möchte ich dann doch lieber (noch) nicht in Angriff nehmen. Auch wenn’s mir absehbar scheint, dass gewisse deutsche Realitäten auch 2022 nur besoffen zu ertragen sein werden.
    Ganz sicher bin ich allerdings, dass ich mir in diesem Jahr die Weihnachts- bzw. Neujahrsschleimereien von Frank-Olaf Schlzmeier ersparen werde. Die hatte ich mir tatsächlich alle beide angetan, und das stocknüchtern, mein Fehler. Es war recht schlimm. Als Neujahrsansprechenden viel leichter ertragen hätte ich übrigens den Herrn Özdemir. Als Redetext hätte mir sein „Wir sind hier in Deutschland. Ich rede gerade. Bitte Maul halten. Danke!“ jedenfalls vollauf genügt. Das Wesentliche kurz und unmissverständlich auf den Punkt gebracht, gemeint wie gesagt, grundehrlich, ganz ohne Heuchelei. Da weiß man immerhin, was man hat bzw. woran man ist mit seinen Regierer*innen.
    PS.
    Dir und den Deinen, lieber Kay, wünsch ich nur das Allerbeste fürs neue Jahr. Und mir wünsch ich natürlich, dass Du auch weiterhin nicht schweigst. Danke.

    Lieber Kai, vielen Dank für den guten Wunsch, den ich gern mit Gleichem erwidere! – Und, nein: Ich hab zwar nicht immer Lust zu reden, aber ich würde es vorziehen, nicht zu schweigen. KS

  3. 3

    Lieber Kay Sokolowsky,
    eine Frage, die ich seit Jahrzehnten nicht nur mir, auch anderen bei jeder sich bietenden, nicht selten herbei geführten Gelegenheit stelle, die über die Jahre, ohne je eine befriedigende Antwort erhalten zu haben, zu einer resignativen Feststellung verkommen ist: Warum lassen wir uns das alles eigentlich gefallen?
    Beim Lesen Ihrer wundervollen Arbeit dämmerte es zunächst, dann wurde es immer heller: jetzt weiß ich, wer mir diesen Floh in den Kopf gesetzt hat. Auch dafür meinen Dank, aber ganz besonderen für Ihr Janusgeschenk und die Hoffnung auf einen Ausgang und ein Ende.

    Lieber Udo Theiss, ich danke für die freundlichen Worte! KS

  4. 4

    In meiner Metaphernwelt ist ein Spiegelbild „das Gegenteil in einer Hinsicht (links-rechts-Tausch, internalisierende vs. externalisierende Konfliktabwehr), bei ansonsten vielen Gemeinsamkeiten“. Wir meinen also dasselbe.
    Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei beiden Büchern um gut geschriebene Krankenakten handelt, dass beide Helden nicht als Vorbild taugen. Oder ist Identifikation nötig, um sich nicht wie ein Voyeur zu fühlen?

    Lieber Arno Matthias, nein, wir meinen nicht dasselbe, und Sie sollten Ihre „Metaphernwelt“ (drolliges Wort) dringend renovieren: Wäre ein Spiegelbild ein echtes Gegenteil, dann machte es aus weiß auch schwarz, aus oben unten, und Sie hätten beim Rasieren große Probleme.
    Daß „Bartleby der Schreiber“ eine „gut geschriebene Krankenakte“ sei, ist, mit Verlaub, dummes Zeug. Haben Sie meinen kleinen Essay überhaupt gelesen? Mir kommen Zweifel. Es ist übrigens völlig ausgeschlossen, daß irgendein Leser sich bei der zutiefst rührenden Geschichte Bartlebys wie ein Voyeur fühlen könnte.
    Und, schließlich, die Identifikation mit Bartleby – sie ist per se unmöglich, weil Bartleby eine durch und durch rätselhafte, unerklärliche Figur ist. KS

  5. 5

    Das Studium in Leipzig in den 80er Jahren war sehr verschult, es gab eine Anwesenheitspflicht für die Veranstaltungen. Meine Freundin erschien eines Tages zum Seminar und wurde vom Professor gefragt, warum sie beim letzten Seminar nicht erschienen war. Sie sagte, sie konnte nicht kommen, sie hatte keine Lust. Der Professor akzeptierte das anstandslos und ich hatte etwas fürs Leben gelernt.
    Der grosse Soziologe Peter Brückner hat viel darüber nachgedacht, warum die Menschen in autoritären und repressiven Systemen die wenigen Freiräume, die sie haben, nicht nur ungenutzt lassen, sondern regelrecht meiden. Wissen Sie darauf eine Antwort, lieber KS?

    Lieber Andreas Schmid, nein, ich kann das auch nicht abschließend beantworten. Aber für die Duckmäuserei ohne Not, den Gehorsam ohne Befehl und die Unterwerfung aus freien Stücken haben Adorno und Horkheimer in „Dialektik der Aufklärung“ eine These geliefert, die recht hilfreich ist:
    „Der ökonomische Apparat stattet schon selbsttätig, vor der totalen Planung, die Waren mit den Werten aus, die über das Verhalten der Menschen entscheiden. Seit mit dem Ende des freien Tausches die Waren ihre ökonomischen Qualitäten einbüßten bis auf den Fetischcharakter, breitet dieser wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten sich aus. Durch die ungezählten Agenten der Massenproduktion und ihrer Kultur werden die genormten Verhaltensweisen dem Einzelnen als die allein natürlichen, anständigen, vernünftigen aufgeprägt. Er bestimmt sich nur noch als Sache, als statistisches Element, als success or failure. Sein Maßstab ist die Selbsterhaltung, die gelungene oder mißlungene Angleichung an die Objektivität seiner Funktion und die Muster, die ihr gesetzt sind.“
    Und nun kommt die entscheidende Schlußfolgerung:
    „Alles andere, Idee und Kriminalität, erfährt die Kraft des Kollektivs, das von der Schulklasse bis zur Gewerkschaft aufpaßt.“
    KS

  6. 6

    Soeben der Februar-Konkret entommen, dass Sie aus beruflichen Gründen mehr als 600 Seiten Michel Houellebeq haben lesen müssen. Was für ein schöner Kontrast dazu hier auf Ihrem Blog und eine Leseempfehlung, auf die ich mich freue. Bereis bekannt ist mir der von Ihnen erwähnte Henscheid-Roman, in welchem nach „I prefer not to.“ der wahrscheinlich zweitschönste Satz aus der Geschichte der Weltliteratur zu finden ist: “ … dass es in der Welt zwei Möglichkeiten gibt, mit einigermaßen sensationellen Empfindungen in einen menschlichen Körper einzudringen: den Beischlaf und die Kugel in den eigenen Kopf.“ Da könnte sich Houellebecq mit seinem drögen Ficki Ficki-Kontrovers-Quatsch eine Scheibe abschneiden, bzw. kann er wohl nicht …

    Danke für Ihr nettes Kompliment! – Das Henscheid-Zitat stammt allerdings nicht aus einem Roman, sondern einem Essay des Meisters. – Die Houellebecq-Lektüre war übrigens eine richtig harte Geduldprobe, vergleichbar allenfalls mit der Betrachtung eines Films von Mario Sixtus. KS

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