Leert eure goldenen Becher zu Grund
„Dunkel“, singt Mahlers „Lied von der Erde“, „ist das Leben“. Und wie dunkel zumal jetzt. Hätten nämlich das Schicksal und der Gott, den es nicht gibt, es gut mit ihm gemeint, wäre der einzigartige Dichter, Tonkünstler, Graphiker und Weltbetrachter Ror Wolf heute 90 Jahre alt geworden, und ich ließe es mir nicht nehmen, ihm – in welchem Rahmen auch immer – zu gratulieren.
—Wie arg dieser sehr große Mann, dieses Genie, diese Ausnahmeerscheinung der deutschsprachigen Literatur fehlt, wie sehr ich den Meister und Freund vermisse: Darüber schreibe ich im Juliheft von KONKRET ausführlich. Weit schöner und erheblicher freilich ist der Beitrag des Verlags Schöffling & Co. zum Wolf-Jubiläum.
—Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie öffnet in das Herz und die Seele Ror Wolfs einen Blick, der mich bei der Lektüre immer wieder vor Schmerz und Glück seufzen ließ (auch darüber mehr in KONKRET). Ich hänge mich bestimmt nicht aus dem Fenster, wenn ich feststelle: Dies ist die bedeutendste literarische Entdeckung des Jahres, eine Sensation, eine Fundgrube, ein schieres Wunder an Selbstbeobachtung, Lebenserörterung und Sprachkunst.
—Auch wenn es uns leider nicht möglich ist, Ror Wolf zu seinem 90sten zu beschenken, bietet es einen gewissen Trost, daß er – freigebig wie nur je ein Genie, wie es das Wesen genialer Menschen ist – uns Hinterbliebenen ein solches Geschenk beschert. Und weil er nicht mehr da ist, um unseren Dank zu empfangen, möchte ich wenigstens dem Verleger Klaus Schöffling, der die Tagebücher sorgsam edierte und nutzreich kommentierte, für seine Arbeit und sein unerschütterliches Engagement innig danken.
—Damit Sie eine Ahnung bekommen, welch riesige Schatztruhe an poetischen „Reichskleinodien“ (Karl Kraus) dieses Buch ist, schreibe ich gleich drei – ganz zufällig gewählte – Notate ab. Und später werde ich auf Wolf, den Dichter, den Meister, den Freund einen trinken, und vielleicht werde ich singen, weil es jetzt sein muß. Und weinen werde ich vermutlich auch. Denn dunkel ist der Tod.
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16. November 1971
Ich versuche, mit Schnaps das Leben zu verkürzen. Ein schleimiger Rundblick. Ölgestank aus den Raffinerien vor dem Fenster in der Ferne. Das unablässige Vorbeischieben von Automobilen, das Rauschen, die Autobahnen Kreuzungen Kreisel die Brücken, tags nachts morgens abends von allen Seiten nach allen Seiten. Öltanks, Schornsteine, schleimiger oder sülziger Himmel, auch bei Sonnenschein. Nur manchmal ist es ganz anders.
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25. August 1978
Ich habe natürlich lernen müssen, mit mir auszukommen: die Gespräche, die ich mit mir führe, sind ziemlich luftig, alles fliegt mir aus dem Mund heraus. Schreiben übrigens ist keine Ersatzhandlung, es ist vielmehr eine Handlung, die jede Ersatzhandlung ausschließt.
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18. Juli 1985
Ich sei der einzige Mensch, der sie ernst genommen hätte, sagt sie. Ich nehme jeden ernst, sage ich, das ist Berufsprinzip. Ich beobachte Menschen.
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Photo: Verlag Schöffling & Co.
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Mittwoch, 29. Juni 2022 13:09
Ein sehr guter Grund, dass ich mir das nächste konkret-Heft kaufe. vielen Dank für Ihren Text!
PS: Louis Wu ist der besagte Held der Ringwelt-Romane.
Es ist gut 30 Jahre her, daß ich „Ringwelt“ gelesen habe – aber den Louis Wu habe ich mir gemerkt. Freudige Schlußfolgerung: Ich habe KEIN Alzheimer-Syndrom! – Danke für Ihren netten Kommentar und Ihre geteilte Freude am Werk Ror Wolfs! KS