Totale: Krieg (3)


Dann aber, nach einigen Invasionstagen, wurde der Moloch aufmüpfig und ließ seine Moderatoren erstmals nach dem „Sinn“ der Angriffe fragen. Es ging jedoch nicht um tote Serben, sondern um die Abwesenheit einer fernsehgerechten „Erzählung“ dieses Krieges. Das „Briefing“-Ritual schön und gut, jetzt allerdings wurde es Zeit fürs Melodram: Wo, bitteschön, blieben die toten Helden, wo die trauernden Kriegerwitwen, wo, zum Henker, die Leichenberge, von denen der Verteidigungsminister so enthusiastisch erzählte? Im Golfkrieg mochten die Restlichtaufnahmen vom Bagdader Nachthimmel noch genügt haben, die Kundschaft bei der Stange zu halten; doch nun war es Zeit für einen neuen Hut.

Die Militärs – denen es nur recht sein konnte, wenn sie ihr Geschäft unter Ausschluß der Öffentlichkeit erledigen durften – zeigten sich prompt noch sturer und untersagten jegliche Interviews mit niederen Dienstgraden, die an den Einsätzen beteiligt waren. Doch dann rollten die ersten Flüchtlingstrecks nach Albanien, und der Moloch stellte sein Nörgeln umgehend ein. Der Krieg hatte ein „menschliches Gesicht” bekommen, „Schicksale“ produziert, die das Gemüt bewegen, Geschichten verfertigt, die gruseln, ohne zuviel Grauen zu verbreiten – von „Massakern“ wurde weiterhin ja nur geredet, Bilder brachten auch die „Deportierten“ nicht mit, Gott sei Dank. Die Mythographie des Kosovokrieges konnte nach dem Ritter (Nato-Jets) und dem Drachen (Milošević) jetzt endlich auch das Opfer zeigen, zu dessen Rettung jener ausgezogen war, „die Kosovaren“. Fortan zerfiel die Berichterstattung in „erschütternde“ Massenszenen, vorzugsweise aus der Hand gefilmt – die sich, drehte man den Ton ab, allerdings ausnahmen wie eine schlechte Woodstock-Reminiszenz –, „nüchterne“ Standkamerabilder aus dem Befehlsbunker und, düster, anonym, „unecht“, Minisequenzen brennender jugoslawischer Städte, deren Irrealität noch verstärkt wurde durch die Dauereinblendung „serbisches Fernsehen“.

Die prononcierte, penetrante Skepsis der Nachrichtensendungen gegen genau jene Bilder, die als einzige zeigten, daß der Nato-Krieg weder „sauber“ noch „präzise“ geführt wurde, war nur zum kleineren Teil als Alibi für die freiwillige Unterwerfung unter das Informationsdiktat der Allianz zu deuten. Im Mythos, den der Moloch aus der „Kampagne“ wob, mußte am Ende auch er selber vorkommen, jedoch zweigestaltig, als guter und als böser „Zeuge“. Das „authentische Bild“, das es nie gab und dessen Zweifelhaftigkeit mittlerweile, nach „Jurassic Park“ und „Titanic“, selbst dem dümmeren Teil des Publikums schwant, über das zu gebieten aber die wichtigste Illusion des Fernsehens ist, läßt sich nurmehr beschwören – und wo der einen Partei vorgeworfen wird, sie leiste fortwährend Meineid, können die Bilder der anderen doch gar nicht gelogen sein. Indem die gleichgeschalteten Anstalten des Westens nicht müde wurden, auf die Gleichschaltung des „serbischen Staatsfernsehens“ hinzuweisen, konnten sie selbst „objektiv“ und „kritisch“ wirken, indem die Propagandisten von Wickert über Niemetz bis Kloeppel keine einzige schmierige Floskel ausließen, wenn es das „Leid“, das „unsägliche Elend“ der „Kosovaren“ zu beweinen galt, durften sie die durchaus sachlichen Meldungen der jugoslawischen „Kollegen“ von weiteren Bombentoten sogleich als Propaganda denunzieren.

Der Moloch warb für den „gerechten Krieg“ mit einer Vehemenz, die den Warlords geradezu abverlangte, ihre anfangs durchaus gemessene, fast abgeklärte Sprache – so gedämpft und kreidesanft wie am ersten Kriegstag hat man Maulheld Gerhard Schröder noch nie reden hören und wird man ihn auch nicht mehr hören bis zur nächsten „Intervention“ –, all das euphemistische Gefasel zu vergessen und ihre Statements radikal zu emotionalisieren. Nur wer am grellsten belferte, bekam den Clip nach dem Aufmacher aus den Flüchtlingslagern – aber da mochte Scharping sich noch so sehr abmühen, die Abmoderation setzte mühelos einen drauf. Synchron mit der Destruktionswut der Nato wuchsen die Vernichtungswünsche der Anchormen. „Der Ruf nach Bodentruppen wird immer lauter“, verkündeten sie, doch am lautesten riefen sie selbst. Marktführer dabei war, wieder einmal, RTL.

Hier trugen ausnahmslos alle Journalisten einen Stahlhelm und mit Stolz. Offenbar vom Ehrgeiz beseelt, die „UFA-Wochenschau“ fürs Fernsehen zu revitalisieren, inszenierten sie „News“, in denen Kriegsgegner ausschließlich als „Radikale“ oder „Weltfremde“ vorkamen, zivile Opfer des Bombardements zu „tragischen Fehlern“ der Nato erklärt wurden – wobei „Tragik“ nicht die Toten meinte, sondern den Imageschaden der tapfren Friedensflieger –, Flüchtlinge allesamt „Vertriebene“ hießen, lieber noch: „Deportierte“, Lager aber „Camps“; und das „beste“ Camp war natürlich das der Bundeswehr in Tetovo. Wochenlang stellte der Sender – der seit zwei Jahren in der Eigenwerbung droht: „Wir zeigen’s Ihnen!“ – die geilsten Tötungsmaschinen der Allianz vor, schwärmte ungeniert von „Wunderwaffen“, die „sich bereits im Vietnamkrieg bewährt haben“, kamen Treffer der Nato vorzugsweise als Zeichentrick-Explosionen auf einer Landkarte vor, was die sterilen Kill-views aus Brüssel vollends entwirklichte, und die durchgeknallten Hetzer glaubten wohl selbst daran, daß „den härtesten Job in diesem Krieg“ nicht etwa Belgrader Feuerwehrleute hatten, die zerschmetterte Hausmeister und verkohlte Putzfrauen aus Bombentrichtern kratzten, sondern die „Bomberpiloten“, die ungefährdet aus 12 Kilometern Höhe Wohnblocks flachwalzten.

RTL setzt seit seiner Gründung Maßstäbe fürs hiesige Fernsehen; das darf dem Sender zugestanden werden. Und auch beim Untergang der Welt, wie wir sie kannten, war RTL Avantgarde, der die Konkurrenz treu nachfolgte. Eine Benefiz-Sendung der ARD am 3. Mai zugunsten der Bombenopf–, ach was: der „vertriebenen Kosovaren“ machte auf mit einem langen, tränenreichen Bericht über Not und Angst der „Flüchtlingskinder“, der zu Beginn und zum Schluß mit der Titelmusik von „Forrest Gump“ unterlegt war. Es paßt nichts mehr zusammen, aber die forcierte Mythographie des kommerziellen Schundfunks, die den Kosovokrieg gar nicht anders denn in Fragmenten, Miniaturen, Versatzstücken abbilden mag, um desto leichter alles in Kitsch, Soap und Truppentheater verwandeln zu können, hat zuletzt auch die Schnarchhähne der Öffentlich-Rechtlichen belehrt, daß im Fernsehen der Soundtrack einer Satire sehr wohl und korrekt auf ein Trauerstück geklebt werden kann. Dazu links oben dauernd die Nummer des „Spendentelefons“ eingeblendet, wohl nur zufällig mit den Jahreszahlen des „Unternehmens Barbarossa“ – 41 42 43 – ausgestattet, mit voller Absicht freilich gerahmt in das Logo von „T-Vote Call“. Nichts stimmt mehr, außer der Wirklichkeit des entfesselten Kapitalismus, außer im Fernsehen: So hat der Moloch es gern, und so wurde der Kosovokrieg zu einer Geschichte aus lauter Wiederholungen, Ritualen, Identitätsfesten und Werbeblöcken zwischen diversen „Tragödien“.

In einem fulminanten Aufsatz über die TV-„Wirklichkeit“ der „Kampagne“ schrieb Georg Seeßlen am 6. April [1999] in der „Taz”: „Unmerklich zunächst und doch unaufhaltsam wird aus der Wahrnehmung der zunächst so chaotischen Bilder, aus dem Genre, das aus der seriellen Wiederkehr der gleichen Bilder und ihrer Bedeutung entsteht, und schließlich der Erzählung, die ihnen abgerungen wurde, wieder eine Ideologie.“ Im selben Moment aber, da das, was gar nicht abgeschlossen ist, vielmehr endlose Wochen fortdauern wird, zur Ideologie gerinnt, lockt es kaum einen Hund noch hinterm Ofen hervor. Hatten die Privatsender von Anfang an keine Lust, ihre Programme durch „Spezial“-Sendungen zum Thema stören zu lassen, ging die Zahl der Sondersendungen im Staatsfunk kontinuierlich zurück, bis schließlich, am 50. Tag nach dem Massaker von Niš immerhin und dem Abriß der chinesischen Botschaft, trotz des Jubiläums überhaupt kein „Special“ die Abendruhe störte.

„Zum ersten Mal in meinem Leben mag ich die Nachrichten nicht mehr einstellen“, gab am 10. Mai Ralph Giordano in „Talk vor Mitternacht“ bekannt. Er wollte damit aber keineswegs sagen, daß er Propaganda und Heuchelei der Sendungen nicht länger ertrage und daß es schlicht obsolet sei, in den Fernsehnachrichten nach Nachrichten zu suchen. Die „entsetzlichen Szenen“ des „Flüchtlingselends“ seien, was seine Fassung überstieg. Er hatte gesehen, was nie gezeigt worden war; der totale Triumph der Ideologie, die erst die „Wahrheit“ der Bilder diktierte, dann den Mythos und das Genre erschuf und schließlich die Bilder nur mehr brauchte, um ihre, der Ideologie, „Wahrheit“ zu illustrieren, hatte mit einem alten Schwallkopf so wenig Schwierigkeiten wie mit einem Kriegsminister, der nicht mal radfahren kann. Dieser Triumph jedoch – der nicht zuletzt deshalb so leicht zu erringen war, weil die Fernsehmacher anderthalb Jahre zuvor, anläßlich der toten Diana, geschlossen den Verstand verloren hatten –, dieser totale und radikale Sieg der „Verblendung“ (Seeßlen) über die Realität wird das Ende des Luftkriegs überdauern. Das Fernsehen ist unwiderruflich zu der quasireligiösen, antirationalen, voraufklärerischen Anstalt geworden, die es in den meisten seiner Abteilungen längst war; und keiner stößt sich daran. Es sieht ja auch niemand mehr hin.

Zuerst erschienen in: Wie Dr. Joseph Fischer lernte, die Bombe zu lieben (Edition Tiamat 1999).

Photo: „Benz Automobile und Flugmotoren, 1915“,
by Benz & Cie. [Public domain], via Wikimedia Commons

2 Kommentare

  1. 1

    Lieber Kay Sokolowsky,
    die Erde meldet jetzt täglich mehr Vulkantätigkeit (sogar aus Frankreich), die Sonne verstärkte, bedrohliche Eruptionen, oder ist irgend etwas in der Luft, das die Hirne einnebelt, ich weiß nicht, was losgelassen ist, nur, mich hat es auch erwischt, ich will erklären ich will entschuldigen ich will betonen: ich empfinde es so:
    gut, daß Sie das Stück nicht verändert haben, es ist wie es ist: edel. Ein verwirrender Eindruck in Anbetracht des Stoffes aber nicht so zu verstehen, daß es ihn überhöht, nein, die anspruchsvolle Sprache macht sichtbar was er ist: Dreck. Abfall. Ich versuche es mit einem Beispiel aus der Warenwelt, mit der ich berufshalber zu tun habe: Laminat. Als Bodenbelag in Holz- oder Natursteinoptik mittels verlogener und betrügerischer Werbung, besser und billiger, an die Kunden gebrachter Sondermüll. Als besonders edel.
    Wenn ich in Verschwörungstheoriestimmung bin denke ich, das ist wie mit den technischen Produkten, die nach Ablauf der Garantiezeit, und da wird viel Aufwand betrieben, das zu optimieren, ihre Funktionstüchtigkeit einstellen und frühzeitig zu Müll werden. Die arbeitende Bevölkerung soll sich Laminat in ihre Wohnungen legen damit sie nach Ablauf ihrer produktiven Phase mit Hilfe der Emissionen sich pünktlich zur ewigen Ruhe bettet. Es muss die Sonnentätigkeit sein, ja. Danke möchte ich Ihnen doch nur sagen, ohne den Meister der Abfallentsorgung kommen wir alle frühzeitiger um in diesem ganzen Dreck. Danke.

    Lieber Udo Theiss, großes Merci für Ihr wohlformuliertes Lob und den klugen Kommentar! Ich glaube aber nicht, daß die Sonnenaktivität die Menschheit irre macht. Das schaffen der Kaputtalismus und seine herrschenden Knechte auch ohne kosmischen Beistand. KS

  2. 2

    Sehr geehrter Herr Sokolowsky,
    haben Sie vielen Dank für das Veröffentlichen des Textes an dieser Stelle. Die späte Geburt hielt mich 1999 noch davon ab, auch nur einen blassen Schimmer von diesen ungeheuerlichen Vorgängen zu haben; 2001, 2003 und (leider) ff. sah das schon anders aus. Eine hellsichtige Lehrkraft, die mir gut im Gedächtnis geblieben ist, merkte anno 2003 an, 9/11 sei der für meine Altersgruppe prägende Moment wie für Generationen davor Vietnam oder Tschernobyl. Dass das nur zur Hälfte stimmte und so gut wie alles, was dem 11. September folgte, im Drehbuch des Jugoslawienkrieges schon angelegt war, wäre ihr nach Lektüre Ihres Textes vielleicht auch noch aufgegangen.
    Meine erste Reaktion auf den russischen Einmarsch war, dass sie das russische Regime nun genau dort haben, wo sie es haben und hinschreiben wollten, in der Ecke und im Krieg nämlich, und mir war auch sofort klar, dass sämtliche klugen und besonnenen Stimmen, die auf die jahrzehntelange Vorgeschichte dieses Konflikts verwiesen hatten, in der nächsten Zeit nichtmal als Randnotiz Aufmerksamkeit erhalten würden.
    Ummünzen ließe sich übrigens nahezu jedes Urteil über das Medium Fernsehen auf die sog. sozialen Medien, deren konsequente Meidung mir heute mehr als zuvor als die einzig richtige, der geistigen Gesundheit zuträgliche Haltung erscheint. Wer doch hineinlinst, erlebt nicht nur Feindmarkierung und uniforme Gesinnung, sondern auch, wie Ideologie Widersprüche überdeckt, die einem förmlich ins Gesicht springen. Es werden nicht nur russische Kriegsgefangene – ob gefälscht oder nur inszeniert, dies allein ein Verbrechen gegen ihre Würde – in jämmerlicher Position vorgeführt, nämlich beim Telefongespräch mit ihrer Mutter, die nicht weiß, wo ihr gerade mal 19jähriger Sohn steckt. Es werden auch zwei Posts weiter die Aufnahmen von Drohnen bejubelt, die russische Fahrzeuge in Flammensäulen, die Insassen zu Aschehaufen und die Eltern zu Trauernden verwandeln. Dass der Jubelsong über die Drohnen nun bei Spotify abzurufen ist, dessen Chef gerade 30 Millionen des von ihm zusammengerafften Vermögens in Unternehmen zur Entwicklung militärischer KI versenkt – wie soll man das noch bezeichnen?
    Letzter Satz: Russland beschickt, so heißt es, „Trollfabriken“, um in den asozialen Medien für Verwirrung und Hass zu sorgen – der Westen ist da schon weiter, hier passiert das freiwillig und unentgeltlich.
    Allerletzter Satz: zur Lektüre sei der aktuelle Kommentar von Thomas Fischer im Spiegel empfohlen, der die deutsche Begeisterung für „Festungsstädte“ und Abwehrkämpfe durchleuchtet und, nicht für die Freiheit, wohl aber für das Leben, die Kapitulation empfiehlt.

    Sehr geehrter Jonas A, vielen Dank für Ihren hochgescheiten Kommentar und für die freundlichen Worte an mich! Zugleich bitte ich um Pardon, daß ich Ihren Beitrag heute erst freischalte; ich war, wenn Sie mir die faule Ausrede gestatten, von anderen Dingen abgelenkt.
    Tatsächlich ist der Jugoslawienkrieg eine Blaupause gewesen für alles, was seither an Kriegslügen und -verbrechen folgte. Gelegentlich scheint es mir, als hätte Putins Propagandaabteilung ein grimmiges Vergnügen daran, die Betrügereien, welche die Nato einst vormachte, zu travestieren. – Ihre hervorragend formulierte Empörung über den Menschenhaß, der sich wider den Russ‘ in den asozialen Netzwerken auskotzt, weist Sie als echten Humanisten aus. Ich empfinde einen gewissen Stolz darauf, daß kluge und hochherzige Menschen wie Sie mich lesen. KS

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