Wenn all dies vorbei ist

In grauer Vorzeit, als der Begriff „soziales Netzwerk“ noch nicht von Facebook, Twitter, Instagram, Tiktok usw. usurpiert und verdreckt wurde, stand für eine wahrhaft freie soziale Vernetzung vor allem die „Blogosphäre“. Autoren, die unzensiert, in eigener Regie, unbelastet von „Likes“ und dubiosen Algorithmen Weblogs publizierten, verwiesen auf andere Autoren, die ebenfalls ihr eigenes Ding drehten, formten Allianzen auf Zeit, waren Sender und Empfänger zugleich. Es gab keine Einmischung durch anonyme Bots, und der illiterate Mob, der sich heute bei Facebook, Twitter, Instagram, Tiktok usw. auskotzt, blieb vor der Tür, weil die Schwelle zu einem selbstverwalteten Blog den meisten Mobstern ebenso zu hoch ist wie eine ordentliche Grammatik oder ein genuiner Gedanke.

Obwohl die Blogosphäre Geschichte ist, sollte sie als Utopie weiter gepflegt werden. Auch Facebook, Twitter, Instagram, Tiktok usw. wird es nicht ewig geben; und, wer weiß, vielleicht gelingt es irgendwann einmal, aus den verbliebenen autononomen Autoren-Blogs ein soziales Netzwerk zu erschaffen, das nur den Vernetzten gehört, nicht den Vernetzern. Daher hat es mich aufrichtig gefreut, als Oliver Driesen, Herr des literarischen Weblogs „TWASBO Magazin“, mich vor ein paar Wochen kontaktierte und eine ungezwungene Kollaboration vorschlug.

Denn Driesen ist ein Autor, der seine Zwetschgen und Worte beisammen hat, dem Stil und Form mindestens so wichtig sind wie der Inhalt, der echten Esprit besitzt und dem Humanismus kein Fremdwort, sondern eine Verpflichtung ist. Sein gleichermaßen verspielt wie geschmackvoll gestaltetes „TWASBO“ ist mehr als einen Besuch und auf jeden Fall Ihre Zeit und Aufmerksamkeit wert, lieber Leser und geschätzte Leserin.

Ich fühle mich ordentlich geschmeichelt, daß Oliver Driesen einen der besseren Texte aus meiner Art Notizbuch gepflückt und heute als Gastbeitrag auf seine Seite gestellt hat. Und es ehrt mich, gleichzeitig eines seiner schönsten Gedichte in meinem Weblog präsentieren zu dürfen. Dieses wohlgeformte, anrührende Stück, das erstmals im Juni 2020 erschien, drückt einen Mut und eine Zuversicht aus, die meinem seit einiger Zeit viel zu düstren „Abfall“ nur guttun können.

Kay Sokolowsky

♦♦♦



Wenn all dies vorbei ist
Von Oliver Driesen

Wenn all dies vorbei ist,

wenn wir sämtliche Eskalationsstufen genommen haben, die erst noch vor uns liegen,

wenn kollabiert, was wir heute erst aufsteigen sehen und was uns entweder einverleibt oder verstößt,

wenn zerplatzt, was unser Denken und Reden und Leben enger und enger macht, hohler und lauter, schriller und kälter,

dann werden wir ein anderes Lesen und Schreiben wiederentdecken.

***

Dann werden wir von Neuem lernen, wie sich das anfühlt: Dinge nicht deswegen schreiben, weil sie opportun erscheinen.

Nicht, weil sie Profit versprechen oder Quoten, Likes oder Smiley-Emojis.

Nicht, weil sie dem Zeitgeist schöntun und mit den Wölfen heulen.

Nicht, weil sie einer vermeintlich höheren Moral entspringen, die besserem Wissen und ehrlicher Lebenserfahrung nicht standhielte und gerade deswegen umso verbissener behauptet werden muss.

Nicht, weil sie eine Agenda befördern, eine Autorität stützen, ein Narrativ verfestigen.

Nicht, weil sie die Position ihres Autors im sozialen Kontrollnetz seiner Peers bestätigen und absichern.

Nicht, weil sie Punkte auf der Social Scorecard einer immer obskureren, allumfassenden digitalen Kontrollinstanz bringen.

***

Sondern wir werden Dinge wieder schreiben, weil sie sich wahr anfühlen.

Weil sie nach bestem Wissen und Gewissen die Wirklichkeit am ehrlichsten abbilden.

Weil sie Menschen anregen sollen, statt sie erziehen zu wollen.

Weil sie das Offensichtliche nicht ausblenden und das Gewollte nicht vorspiegeln.

Weil sie den Missbrauchern der Macht widerstehen und die Dunkelheit erhellen.

Weil sie sich der Dummheit in den Weg stellen und sagen: Sieh her, du kannst es wissen. Du musst nicht so bleiben.

Weil sie unbequem sind.

Weil sie Fragen aufwerfen, ohne Antworten vorzugeben.

Weil sie – neben all diesen Zwecken – der Schönheit des Wortes huldigen und der Liebe zur Sprache.

***

Und dann, wenn all dies vorbei ist, werden wir wieder lernen, wie das ist: Dinge zu lesen, die nicht falsch und hinterhältig klingen.

Die keinen schalen Beigeschmack nach Propaganda hinterlassen.

Die nicht wirken wie vergiftete Pfeile und verlogene Schwärmerei.

Die nicht das Auge schmerzen durch nachlässige Wortwahl und billige Phrasen, falsche Vergleiche und kurze Gedanken.

Die nicht auf der Schleimspur der gefälligen Lüge daherkriechen.

Die nicht klingen wie computergenerierte Textsimulationen oder Ausgeburten aus dem Satzbaukasten einer künstlichen Marketing-Intelligenz.

***

Sondern die uns weiterlesen lassen wollen um des Lesens willen.

Die uns vom wahren Klang der Welt erzählen, im Großen wie im Kleinen.

Die uns auf Gedankenflüge schicken, statt uns Angst zu machen und in Haft zu halten.

Die aus Worten Universen bauen und uns groß zu träumen wagen lassen.

Die uns in eine stille Zwiesprache versetzen mit Figuren jenseits unseres Horizonts.

Die uns frei machen.

***

Wenn all dies vorbei ist.

Geduld, nur Geduld.

Photo: Oliver Driesen


Samstag, 11. Dezember 2021 18:00
Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten, SARS-CoV-2, Sokolowsky anderswo

3 Kommentare

  1. 1

    Schade drum, ich konnte nicht zu Ende lesen. Meine Tränen haben es verhindert.

    Ein zweiter Versuch lohnt sich definitiv – die Schlußverse geben Ihnen Grund zu lächeln. KS

  2. 2

    „Das Netz“, die „Blogosphäre“, ein „e commerce“, „soziale Netzwerke“, „online communities“, „Netzpolitik“, „Cyberwar“, „Cybercrime“, der ganze Zeugs, der uns da seit ca. über 20 Jahren und zunehmend riesenhafter, krakenartiger und metastasenhafter um die Ohren west, mit allen seinen Vor- und Nachteilen (Aufsatzthema: „Schildere kurz Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken des www“), was ist das alles, letztendlich:
    Abfallprodukt des militärisch-industriellen Komplexes. Ein Kommunikationssystems für den Atomkrieg, von niemand andrem erfunden als dem US-Militär. Und natürlich finanziert von der dortigen Allgemeinheit. Und eines Tages der weltweiten Allgemeinheit zur Verfügung gestellt.
    Wiederholen und nochmal kurz sacken lassen: ein tool für den Fall der Fälle, den Atomkrieg. Schluck.
    Waren „wir“ vorher unglücklicher, weil wir diese janusköpfige Erfindung nicht nutzen konnten ?
    Ich bezweifle das.
    Am Schluß bleibt nur wieder die oede Weisheit: Der Krieg ist der Vater vieler Dinge.

    Sie haben den Teil übersprungen, in dem mehrere kluge Wissenschaftler auf die Idee kamen, aus dem weithin ungenutzten dezentralen Datennetzwerk des Militärs ein eigenes Kommunikationsmittel zu basteln. Das wieder unter Kontrolle zu bringen seither der Herzenswunsch aller Regenten ist. Aber sie kriegen die Kontrolle nur durch Zensur hin, nicht technisch: Das ist ja der Partisanencharme dezentraler Netzwerke. Die Blogosphäre machte aus dem Schwert eine Pflugschar – wenn ich auch mal pathetisch werden darf. KS

  3. 3

    Sehr geehrter Herr Sokolowsky,
    ich habe das TWASBO-Magazin heute vor dem Genuss Ihres Textes und dem Gedicht von Herr Driesen neu für mich entdeckt und bin stolz darauf, den guten Eindruck seiner Texte mit Ihnen teilen zu dürfen. Wie Sie ja treffend in Ihrem Kommentar-Freischaltungstext erwähnten, ich bin nicht in Allem seiner Meinung – aber es liest sich sehr gut, ausgewogen und grenzt vor allem nicht aus! Ein gar nicht mehr so verbreitetes Gut in diesen Zeiten… Wer hätte es Weihnachten 2019 gedacht?

    Ja, wer? Nicht mal Karl Lauterbach, glaube ich. KS

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