Archiv für die Abteilung 'Die beste aller Welten'

Kennzeichen D O : Skepsis

Donnerstag, 19. März 2015 23:59

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Ein Ziel des alten demokratischen Sozialismus und Liberalismus ist in Dortmund heute erreicht: die Säkularisierung oder, besser, Dechristianisierung des Orts. Wenn die eindrucksvollste Kirche der Stadt, St. Marien, mitsamt ihren berühmten spätmittelalterlichen Altartafeln des Conrad von Soest an einem Montag geschlossen bleibt – dann hat die Inhaberin der Filiale resigniert vor dem Verschwinden christlicher Transzendenz aus dem Weichbild der Stadt.

Die unmittelbare Nachbarin des Baus, die Kirche St. Reinoldi, ist zu großen Teilen eine neuestzeitliche Replik. Noch vor der Reformationszeit hatte der Bau des Originals begonnen, und er ward erst im Barock vollendet. Es genügte eine Nacht, um dieses Denkmal christlichen Bürgersinns zu pulverisieren. Nach seiner Zertrümmerung durch englische und amerikanische Bomben am 6.iOktober 1944 lag es da wie ein Symbol für den niedergeworfenen deutschen Imperialismus und Mordwahn. Er war ein passendes Symbol, dieser Tempel, und gerecht getroffen.

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Die beste aller Welten (11): Marktwerte …

Dienstag, 10. März 2015 23:59

… angepaßt an den Status Quo.

1) Wer arbeitet, soll auch nicht essen. Beispiel:

Eine Woche Urlaub im Jahr, das können sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts mehr als eine Million Erwerbstätige nicht leisten. (…)
Birgit N. zum Beispiel steht 30 Stunden die Woche an der Rezeption eines Berliner Hotels, die Frühschicht beginnt um sieben Uhr. Dabei muss sie immer top aussehen. Niemand darf bemerken, dass die Empfangsdame nur ein Paar Schuhe hat. (…)
Ihre Mutter hat sie seit mehr als vier Jahren nicht gesehen, die wohnt 600 Kilometer entfernt. Eine Fahrt – zu teuer. Doch Arbeit verweigern, weil es sich nicht mehr lohnt? „Nein, auf keinen Fall“, sagt N. Dann sei die Chance auf eine Vollzeitstelle erst recht vertan.
(Süddeutsche, 9.3.2015)

2) Bildung führt in die Armut. Beispiel:

Architekten, die für 1500 Euro brutto Vollzeit arbeiten. Grafikdesigner, die als Selbständige einen monatlichen Gewinn von 200 Euro ausweisen und deswegen aufstocken müssen. Absolventen, die in Werbeagenturen oder großen Verlagen ganze Kampagnen leiten – für ein Praktikumsgehalt von 500iEuro im Monat. (…)
„Einige meiner Kunden nehmen die Arbeitgeber auch noch in Schutz“, sagt [ein Vermittler eines Berliner Jobcenters]. „Es sei im Moment eben eine schwierige Situation, und das Renommee eines großen Namens sei doch auch viel wert, heißt es dann.“
(Süddeutsche, 9.3.2015)

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Freiheit? Wie Sie meinen.

Mittwoch, 18. Februar 2015 23:59

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„Die spitze Feder“(c) Satyricos

Gestern abend habe ich hier (bzw. etwas weiter unten) einige fundiert unsachliche Glossen zur angewandten Postdemokratie in Hamburg veröffentlicht. Die Texte, die jetzt im Blog zu lesen sind, weichen an vier Stellen erheblich von der roheren Fassung ab. Das hatte dreimal rechtliche Gründe, die letzte Streichung war außerdem Stil und Geschmack geschuldet.

Während dieses Akts der Selbstknebelung habe ich mich nicht zum ersten Mal gefragt, woher so viele Leute die Einbildung nehmen, in Deutschland könne jeder immer alles sagen, was er meint, schreiben, was er denkt. Vom Gummiparagraphen der „Beamtenbeleidigung“ haben sie offenbar so wenig läuten hören wie von Herbert Marcuses Terminus „Repressive Toleranz“.

Tatsächlich gibt es nur eine, eher kleine Zensurbehörde in der BRD, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM). Man nimmt sie kaum als Zensurbehörde wahr. Denn sie bannt nicht das Werk selbst, sondern allein dessen Vertrieb an Minderjährige. Das ist ein Prachtexempel für repressive Toleranz in der Praxis. Gewiß, gewiß, weit, weit weg von einer Reichsschrifttumkammer, einer Glawlit, einem Index Librorum Prohibitorum etc. Aber das war nicht immer so und muß auch nicht so bleiben. Weil die BPjM grundsätzlich ethisch, nicht wissenschaftlich, argumentiert, kann sie alles indizieren, was kulturell aktuell nicht behagt. Ein einziges dem Philister in der Zwölferjury mißliebiges Wort, nur ein seine Sehkraft überforderndes Bild: Und das Buch und der Film verschwinden für 25 Jahre im Giftschrank.

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Die beste aller Welten (10): Land of the free

Sonntag, 18. Januar 2015 21:43

Anfang Dezember wurde die Dokumentation eines US-Senatsausschusses über die Foltermethoden der CIA veröffentlicht. Der Bericht erscheint in deutscher Fassung morgen beim Westend Verlag. Auszüge des Reports sind auf der Website der Frankfurter Rundschau nachzulesen:

Verhörmethoden wie Schläge oder das „Walling“ (Gefangene werden gegen eine Wand geschleudert) wurden in Kombination eingesetzt, häufig verbunden mit Schlafentzug und Nacktheit. (…)
Die Methode des Waterboardings war körperlich schädlich; sie verursachte Krampfanfälle und Erbrechen. Abu Zubaydah zum Beispiel wurde „völlig unansprechbar, und aus seinem offenen, vollen Mund quollen Blasen“. (…)
Bei mindestens fünf Gefangenen wurden eine „rektale Rehydrierung“ oder rektale Einläufe vorgenommen, ohne dass dafür eine dokumentierte medizinische Notwendigkeit bestand. Die CIA setzte die Gefangenen in „Bäder“ mit Eiswasser. Die CIA versetzte mehrere Gefangene in den Glauben, sie würden den Gewahrsam der CIA nie mehr lebend verlassen, und einem Gefangenen wurde suggeriert, er werde die Einrichtung nur in einer sargförmigen Kiste verlassen. (…)
Während des gesamten Programms zeigten mehrere CIA-Gefangene, die den verschärften Verhörmethoden der CIA und länger dauernder Isolation unterworfen wurden, psychische und verhaltensmäßige Auffälligkeiten wie Halluzinationen, Paranoia, Schlaflosigkeit sowie Versuche der Selbstverletzung und Selbstverstümmelung.

And the star-spangled banner in triumph shall wave.

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Die beste aller Welten (9): Wachstumsberichte

Samstag, 3. Januar 2015 19:25

„Soziale Sicherheit und Bildungsgerechtigkeit für Kinder sollten in einer der reichsten Industrienationen der Welt eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Zehn Jahre nach Einführung der sog. Hartz IV-Gesetze ist aber festzustellen, daß sich insbesondere die Kinderarmut in Deutschland deutlich verschärft hat. Die Zahl der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen hat sich in den letzten zehn Jahren auf rund 2,8 Millionen mehr als verdoppelt.“

Aus einer Pressemitteilung des Deutschen Kinderhilfswerks
vom 29. Dezember 2014


„Die Deutsche Bank sieht große Chancen, im Geschäft mit sehr reichen Kunden hierzulande weiter zu wachsen. Das von der Bank in Deutschland verwaltete Vermögen sei seit 2009 jährlich um zwölf Prozent gestiegen und damit deutlich stärker als der hiesige Gesamtmarkt mit drei bis vier Prozent (…) Das Geldhaus verwaltet (…) in Deutschland insgesamt 117,6 Milliarden Euro und ist damit Marktführer vor der Commerzbank.“

Aus einem Artikel auf FAZ.net vom 3. Januar 2015

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Die beste aller Welten (8)

Freitag, 27. Juni 2014 0:15

In der Hamburger Morgenpost steht am 26. Juni dies auf Seite 8:

Emotionaler Verhandlungstag im Yagmur-Prozess. Als gestern Handy-Fotos des zu Tode geprügelten [dreijährigen; K. S.] Mädchens gezeigt wurden, weinte die angeklagte Mutter. […]

Auf den ersten Blick ganz normale Eltern mit einem ganz normalen Kind. Auf einigen Bildern aber sind dunkle Flecken in Yagmurs Gesicht und an den Beinen zu sehen. […]

Selbst eine Richterin ließen die Aufnahmen nicht kalt. Sie wirkte erschüttert, als die Bilder gezeigt wurden, und legte kurz die Hände vor das Gesicht.


Und das darf man in derselben Ausgabe auf den Seiten 6 und 7 lesen:

Anfang Mai war Gigi-Daniel Filip (26) aus Rumänien nach Neu-Wulmstorf (Landkreis Harburg) gekommen. In der Hoffnung auf ein gutes Auskommen, auf einen guten Job. Einen Job in der Fleischfabrik „Schwarz Cranz“ von „Wurstkönigin“ Kristin Schwarz. Doch nun steht Filip vor dem Nichts. Von seinem Gehalt hat er keinen Cent gesehen, wie er sagt.

„Ich kann meine Miete nicht mehr bezahlen, sollte für Mai eigentlich 700 Euro Gehalt bekommen“, sagt Filip […]. Viele Stunden habe er in der Wurstfabrik geschuftet, nun fühle er sich übers Ohr gehauen. […]

Neben Gigi-Daniel Filip fühlen sich auch andere Mitarbeiter um ihren Lohn betrogen. Und sie befürchten, daß sie von ihrem hart verdienten Geld nicht viel sehen werden. Denn gestern kam heraus: Das Subunternehmen „Birservice GmbH“ ist insolvent. […]

Gestern räumte ein Sprecher der Wurstfirma allerdings ein, daß man bereits im Oktober vergangenen Jahres über die schlechten Zustände in einer der Arbeiter-Unterkünfte von „Birservice“ informiert worden sei. Warum man die Zusammenarbeit nicht umgehend beendet hat, erklärt er so: „Frau Schwarz [die Wurstkönigin; K. S.] hat alle Unterkünfte inspiziert und diese eine schließen lassen. Sie hat sogar selbst neue Matratzen gekauft.“


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Die beste aller Welten (7)

Mittwoch, 30. April 2014 0:08

Annähernd 11.000 Euro muß ein Pizzalieferant aus Eberswalde an das Jobcenter Uckermark zahlen, weil er Mitarbeiter so schlecht entlohnt hat, daß diese auf ergänzende Hilfen vom Amt angewiesen waren. Ein entsprechendes Urteil des Amtsgerichts Eberswalde (2 Ca 428/13) ist nun rechtskräftig. Der beklagte Arbeitgeber hatte Stundenlöhne zwischen 1,59 und 3,46 Euro gezahlt und darauf verwiesen, daß seine Beschäftigten ja Trinkgelder bekämen.

Hinz & Kunzt. Das Hamburger Stadtmagazin. April 2014

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Die beste aller Welten (6)

Mittwoch, 23. April 2014 0:34

Aus einer Reportage – einem Meisterstück – von Christoph Hein in der FAZ:

„Das Essen war schrecklich. Jeden Tag der gleiche Brei. Oft war er verdorben“, erzählt Vasugi. „Manchmal fanden wir Kakerlaken darin. Manchmal haben die Männer ihre Zigarettenkippen hineingeworfen. Satt sind wir nie geworden.“ Vasugi war 13 Jahre alt, als ihr Vater sie einem Agenten der Textilfabrik übergab.

[…]

Die Fabrik ist von drei Meter hohen Mauern umgeben. Die Fenster zur Straße sind vergittert. Drinnen rattern unter dem fahlen Neonlicht Hunderte von Spindeln. Es ist mehr als 40 Grad heiß hier, laut. Gut 800 Menschen arbeiten in den Hallen. Vasugi wurde ihr Schlafplatz gezeigt, in einer der Baracken auf dem Hof. Zwölf Frauen in einem Raum voll Matratzen. „Im Monsun hat es hereingeregnet. Die Aufseher haben uns mit der Trillerpfeife geweckt. Für die Morgentoilette blieben uns fünf Minuten. Wir waren immer nach den Männern dran. Die haben sich einen Spaß daraus gemacht, uns beim Schlangestehen anzumachen, uns zu quälen.“

[…]

90 Prozent der Arbeiterinnen seien schon unterernährt, wenn sie kämen, sagt [der Arzt Jagadesh Kumar]. Viele hätten Tuberkulose und schon vorher Atembeschwerden, obwohl sie auf dem Land groß wurden. […] Und die Selbstmorde hinter den Fabrikmauern? „Nein, davon habe ich hier noch nichts gehört“, sagt der Arzt. Dann hat er es eilig, das Gespräch zu beenden.

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