Discovery Channel (5): Star Shaper

Für K. W.

Wenn das kein Zufall ist –: Am Nachmittag denke ich darüber nach, wieviel phantastischer unsere physische Realität ist als sämtliche Hokuspokuswelten der religiösen und anderer Fantasy-Literatur zusammen je sein können. Wieviel unglaublicher zum Beispiel die Wandelbarkeit der Elemente ist, die Transformation der Aggregatzustände vom Festen ins Flüssige zum Gas bis in die molekulare Desintegration, je nach Energiezufuhr –; wieviel unvorstellbarer ist dies, wenn eins sich‘s ausmalt, als die banale Idee, Eisen zu Gold zu schummeln!

Bestimmt kein Zufall –: Am Abend schaue ich mir die jüngsten Folgen der „Late Show with Stephen Colbert“ an, etwas querbeet, und plötzlich erscheint auf der Bühne des Ed-Sullivan-Theatre ein Mann, gut genährt, fröhlich wie Tom Bombadil, ein Springquell der Gedanken und der Begeisterung. Colbert will wissen, wie sein Gast den Spätwintersturm in New York City überstanden hat, aber der winkt ab: „Das ist nur kristallistiertes Wasser.“ Oh!, dies beschreibt perfekt, was mir vorhin verschwommen durch den Schädel schwappte – und das Publikum schnauft erstaunt. Wasser: ein Edelstein (als Schnee), ein Brei (als Wasser), ein Gespenst (als Dampf).

Das freundliche Superhirn heißt Neil deGrasse Tyson, ist Leiter des Hayden-Planetariums im Rose Center for Earth and Space und einer der bedeutendsten Astrophysiker unserer Zeit. Astrophysiker sind diejenigen Naturwissenschaftler, denen ich am liebsten zuhöre, sie sind meine Hohepriester und Gurus. Doch wie konnte dieser großartige, wortgewaltige, bildmächtige, inspirierte Pontifex der Erkenntnis mir bis heute entgehen? Neben DeGrasse Tyson wirkt sogar der sympathische Harald Lesch, bitte um Pardon, wie die Styroporverpackung eines Teleskops.

DeGrasse Tyson fühlt die Mirakel der Materie, ergötzt sich an den Zaubereien des Kosmos wie ein Kind, gibt den gigantischen Emanationen des Weltalls eine Sinnlichkeit, die unsere geringen Sinne erfassen können. Er begreift sie – achten Sie mal auf die geschmeidigen Skulpturen, die seine schönen Finger erzeugen!

Und sehen, hören Sie selbst, mit welcher Poesie der Kosmologe die Eisgeysire des Saturnmondes Enceladus beschwört (ab 2‘40“) – oder wie er nach einem SF-Dichter ruft (ab 5‘50“), der die vertrackten Verhältnisse im Trappist-1-System zu einer großen Erzählung formt. (Ich würde den Schmöker am liebsten von Stephen Baxter haben. Nein: Robert Charles Wilson!)


Und wie Mr. DeGrasse Tyson dann seine Entscheidung von 2006 verteidigt, Pluto
nicht länger als Planeten anzuerkennen – höchst einleuchtend, äußerst witzig (ab 2‘02“) – und wie ich bei mir denke: Kein Imperator in allen Zeiten der Menschheit war je nur ein Bruchteil so mächtig wie dieser ideale Repräsentant der Aufklärung, dieser Star Shaper, der kraft seines Verstandes und seiner Argumente Planeten auslöschen kann und Welten konstruiert.


Neil deGrasse Tyson ist – wie einst Olaf Stapledon – ein Mittler zwischen unserer Beschränktheit und der Unermeßlichkeit, die kosmische Denker spüren. Die solche wie er und die zumal seine herrlichen Hände für uns begreifen, zum Begreifen bilden. Dieser Mensch ist – wie Beethoven – einer der ganz, ganz raren Belege dafür, daß an Intelligenz etwas Erhabenes und Beglückendes ist. Daß die Epiphanie sich mit Empirie bestens verträgt, sofern eins die Augen und die Seele nur offenhält und keine dogmatischen Filter zuläßt.

Wären wir alle so klug und inspiriert wie Neil deGrasse Tyson, wir alle könnten das Göttliche der Welt ahnen, ohne eines Gottes zu bedürfen. Denn der Vatergott unserer Vorväter ist schlicht zu dumm, zu plump und zu einfallslos für dieses Universum der potentiell kristallisierten, liquiden, verdampften Atome. Achten Sie mal drauf, wenn Sie einen Eiswürfel in ein Glas Whisky fallen lassen: Es ist die Genesis in klein und viel größer. So viel größer.


Sonntag, 19. März 2017 0:43
Abteilung: Discovery Channel

3 Kommentare

  1. 1

    Es ist immer wieder wundervoll, ihm zu lauschen.
    Dies hier kannte ich noch nicht.
    Falls ich mit „K. W.“ gemeint bin: Danke für dieses Posting!
    Falls nicht: Danke für dieses Posting!

    Gern geschehen, in jedem Fall. KS

  2. 2

    Es gibt übrigens einen SF-Roman, der etwas Ähnliches zum Inhalt hat, wie eine Zivilisation in der Dämmerungszone jenes Exoplaneten, von dem Tyson spricht: „Auf dem Silbermond“ (1903) von Jerzey Zulawski – erster Teil einer Trilogie, dem 1910 „Der Sieger“ und 1911 „Die alte Erde“ folgten.
    Da entwickelt sich aus den Nachkommen der ersten Menschen auf dem Mond eine Gesellschaft, die auf der „Rückseite“ des Mondes lebt. Diese „Rückseite“ bekommt ja, wenn bei uns „Neumond“ ist, die volle Sonnenpower ab, bei „Vollmond“ nix.
    Jetzt ist es natürlich ca. 100 Jahre her, daß ich das Buch gelesen habe, weshalb ich mich nicht daran erinnere, ob Zulawski auf diesen Umstand eingegangen ist. Aber man könnte ja noch mal lesen. Es lohnt sich (wenn ich mich recht erinnere) auf jeden Fall, denn eines habe ich nie vergessen: Zu jener Zeit haben mich Landschaftsbeschreibungen in Romanen immer sehr gelangweilt. Nicht so die in „Auf dem Silbermond“. Die waren von großer Kraft, und ob die stimmten oder nicht, spielte mir keine Rolle. Außerdem handelt der Roman im letzten Kapitel mal eben die Entstehung eines Mythos um eine Heilsfigur, einen Messias ab.
    Spannend!
    Und wo gerade von Zufall die Rede ist:
    In der Nacht, bevor ich diesen Beitrag las, saß ich mit D. L. zusammen und erzählte ihm von einer neuen Faszination der Chemie, die mich ergriffen hätte. Ich hatte bei Volker Arzt über Pflanzen gelesen, u. a. über den Teufelszwirn, der ein Parasit der Tomate ist. Wenn der keimt, dann hat er drei Tage Zeit, eine Tomate zu finden, sonst geht er ein. Und obwohl Pflanzen keine Nase, keine Nerven und kein Gehirn haben, reagiert der Teufelszwirn auf den Geruch der Tomate, kann sie also quasi „riechen“. Chemie! schoß es mir durch den Kopf. Moleküle! Reaktionen! Spannend! Geil!
    Was könnte uns die Chemie über das Leben erzählen?
    Was, zum Teufel, bringt ein Molekül dazu, sich selbst zu kopieren?
    Ach, hätte ich doch damals im Unterricht besser mitgemacht!
    Und ich erzählte D. L., dass die Chemie in der Pop-Wissenschaft des Fernsehens keine Chance hätte, weil man die nicht so schön in Szene setzen könne, wie (Astro-) Physik mit Sternen und Ringplaneten, und auch nicht so wie Biologie mit Löwen, Giraffen und Zebras.
    Und jetzt wünsche ich mir einfach einen Neil deGrasse Tyson der Chemie. Der würde es bringen.

    Es könnte aber auch sein, daß die Chemie mit ihren nicht wenigen auch scheußlichen Anwendungen sich selbst unattraktiv gemacht hat. Es dürfte ziemlich schwierig sein, über Senfgas oder Dioxin so enthusiasmiert zu reden wie über Saturnmonde. – Für den Hinweis auf Zulawski ein großes Dankeschön! KS

  3. 3

    Vielen Dank für diesen wunderschönen Eintrag und die Links. Sehr interessante Persönlichkeit, der ich die Eitelkeit verzeihen kann.
    Allerdings: Wer gefrorenes Wasser in Whiskey fallen läßt, gehört selbst fallengelassen!

    Merci für Ihr Lob! – Was das Eis und den Whiskey betrifft, haben Sie natürlich recht. Ich hab deshalb auch „Whisky“ geschrieben, ohne das e. – Eitel kommt mir DeGrasse Tyson übrigens kein bißchen vor. Sondern seiner selbst so bewußt, wie ein Genie seiner Klasse es sich erlauben darf. KS

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