Man schreit deutsh (16): Traditionspflege

5_RM_1938_back_(c)_NobbiPEs fand in Westdeutschland nie eine echte Abrechnung mit den abermillionen Tätern des Dritten Reichs statt; auch in der DDR nicht. In Bonn machten begeisterte Nazis Karriere bis hinauf zu Bundeskanzler und -präsident – gleich zwei höchste Repräsentanten der BRD waren vormals überzeugte Hitlergrüßer und Endsieger.

Die perverse Normalität, in der sich die Deutschen nur wenige Jahre nach ihren Zerstörungsorgien und Blutmessen wieder einrichten durften, wurde so wenig wie möglich durch Fragen nach dem nationalen Charakter gestört. Der durfte bleiben, was er seit 1871 war: eine einmalige Mischung aus Minderwertigkeitsgefühl und Großkotzigkeit, Geiz und Gehorsam, durchgerührt mit viel Schmierentheatersentimentalität und -humor, Muffigkeit plus Putzfimmel.

Ihre psychotische Stellung zur feindlichen Umwelt durften die Kaisertreuen unwidersprochen an ihre Nazikinder weitergeben; und die wiederum an die eigene Brut. Es ist in Deutschland seit 150 Jahren normal, Fremde zu hassen, sich vor komplexen politischen Erklärungen zu fürchten und eine Regierung, gleich wie schändlich sie die eigenen Untertanen behandelt, hochzuschätzen, sofern sie mit den nichtdeutschen Nachbarn noch schändlicher verfährt. Es hinterläßt bei jedem Kind Spuren, wenn die Eltern fortwährend schimpfen, sobald von der niemals ernsthaft aufgearbeiteten, geschweige denn gesühnten Schuld der Deutschen die Rede war. Und am lautesten schimpften die Alten – wie ihre braven Blagen heute – auf jene Opfer, die sich für das Leid, das Deutsche ihnen angetan hatten, nicht mit Almosen abfinden mochten.

Die Unmenschen wollten von ihren millenaren Untaten nichts hören, sie stöhnten und jammerten, es solle dies alles doch nicht schon wieder aufgewärmt werden, kaum daß sie den Krieg verloren hatten. Sie sangen den Endlos-Refrain des deutschen Nationalisten: „Wir hatten nichts damit zu tun … Irgendwann muß man die Vergangenheit ruhen lassen … Die sollten ganz still sein, die haben selbst Dreck am Stecken … Sollen die Deutschen denn ewig büßen?“ Nein, ewig nicht; aber tausend Jahre Fressehalten hätte die Weltgemeinschaft ihnen 1945 schon verordnen dürfen. Die paar Jahrzehnte deutscher Teilung wendeten jedenfalls nichts zum Besseren. Der häßliche Deutsche ist immer noch da, und er pflegt nun wieder in der Öffentlichkeit, was, so lange man noch unter der Beobachtung der Besatzungsarmeen stand, vorsichtshalber nur im Schützen-, Kegel oder Ortsverein, im Kinder-, Wohn- und Amtszimmer betrieben wurde: die großdeutsche Tradition.

Die aktuelle CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus beispielsweise hält in Treue fest zum „Helden von Tannenberg“, dem zweiten Mann der kaiserlichen Kriegsdiktatur, dem Erzfeind der Weimarer Republik und willigen Steigbügelhalter Hitlers, Paul Hindenburg. Die Linken-Abgeordneten brachten heute einen Antrag ein, diesem dumpfen saupreußischen Scheusal, dem Mörder von Millionen die Ehrenbürgerschaft der Reichshauptstadt abzuerkennen. Der Antrag wurde von Piraten und Grünen unterstützt. Die Sozis, Koalitionspartner der CDU, opportunistisch wie immer, ihre eigene Geschichte zum xten Mal verratend, eierten etwas herum und lehnten schließlich den ebenso vernünftigen wie moralisch gebotenen Antrag ab. Die Online-Ausgabe des Tagesspiegel berichtet:

Der frühere Reichspräsident verdiene die Ehrenbürgerwürde nicht, sagte auch die SPD-Abgeordnete Brigitte Lange. Das treffe aber auf viele andere auch zu. Daher solle die gesamte Liste überprüft werden.

Es wird also in den nächsten zehn bis weeßnich Jahren bestimmt nuscht passieren und der Kriegsverbrecher ein Berliner Ehrenmann bleiben:

Der CDU-Abgeordnete Uwe Lehmann-Brauns betonte, Hindenburgs Rolle bei der Ernennung Hitlers dürfe nicht die einzige Grundlage einer Entscheidung sein. Er habe zuvor jahrzehntelang (!) die Weimarer Republik loyal verteidigt. Der Antrag der Linken verschweige diese politischen Umstände.

Weil es die so nur in der Wahnwelt des Aufgenordeten, quatsch: Abgeordneten Lehmann-Brauns‘ gab. Hindenburg, dieses „Wahrzeichen einer nationalen Beschaffenheit“ (Karl Kraus), machte sich um die Zerstörung der Weimarer Republik schon lange vor seiner Bekanntschaft mit Hitler verdient. Was für ein blutsaufendes, menschenverachtendes Ungeheuer der Nach-wie-vor-Ehrenbürger, das Idol der Berliner Christdemokraten war, könnte man in wenigen Minuten herausfinden. Aber wir leben in Vorkriegszeiten, da braucht es wieder militante Vorbilder. Außerdem hat der Stolzdeutsche es im Wesen, sich die Geschichte zurechtzulügen oder lügen zu lassen; sonst wär‘s auch Essig mit dem Stolz.

Selbst für den unten stehenden Katarakt sadistischer Phantasie, pathischer Rachlust und völkischer Verblendung, den der schlechte Verlierer Hindenburg 1919 in seinem Pamphlet Aus meinem Leben kotzte, wird einer wie Lehmann-Brauns eine demokratische Verklärung finden:

Gegenwärtig hat eine Sturmflut wilder politischer Leidenschaften und tönenden Redensarten unsere ganze frühere staatliche Auffassung unter sich vergraben, anscheinend alle heiligen Überlieferungen vernichtet. Aber diese Flut wird sich wieder verlaufen. Dann wird aus dem ewig bewegten Meere völkischen Lebens jener Felsen wieder auftauchen, an den sich einst die Hoffnung unserer Väter geklammert hat und auf dem fast vor einem halben Jahrhundert durch unsere Kraft des Vaterlandes Zukunft vertrauensvoll begründet wurde: Das deutsche Kaisertum! Ist so erst der nationale Gedanke, das nationale Bewußtsein wiedererstanden, dann werden für uns aus dem großen Kriege, auf den kein Volk mit berechtigerem Stolz (!) und reinerem Gewissen zurückblicken kann als das unsere, so lange es treu war, sowie aus dem bitteren Ernst der jetzigen Tage sittlich wertvolle Früchte reifen. Das Blut all derer, die im Glauben an Deutschlands Größe gefallen sind, ist dann nicht vergeblich geflossen.
In dieser Zuversicht lege ich die Feder aus der Hand und baue fest auf dich – du deutsche Jugend!

Es war kein Redakteur des Tagesspiegel, sondern der Online-Forist „pu_FM“, der auf diese schneidigen Sätze aus der Stahlfeder eines Ehrenwürgers hinwies. Ich wiederhole mich gern: Auch unter Deutschen, sogar unter Berlinern gibt es gründlich zivilisierte, mit dem Kopf statt mit dem Bierarsch denkende, der heimischen Tradition tatsächlich bewußte Menschen.

Die werden jedoch nimmer Ehrenbürger einer deutschen Stadt. Nicht mal zum CDU-Abgeordneten langt es.

Photo: „5_RM_1938_back“ By Deutsches Reich (NobbiP) [Public domain], via Wikimedia Commons

 


Freitag, 13. März 2015 23:59
Abteilung: Man schreit deutsh

2 Kommentare

  1. 1

    Heiliger und so herrlich gerechter Zorn, den Sie da allerdings etwas typisch deutsch schulmeisternd vortragen.
    Ich jedenfalls spreche Sie schon mal von jeglicher Mitschuld an den vergangenen und kommenden Nazi-Verbrechen frei.
    Der ihrer Ansicht nach tief im deutschen Nationalcharakter verankerte Minderwertigkeitskomplex wird unseren Kindern sicherlich erspart bleiben, wenn wir sie nur immer daran erinnern, welche Verantwortung („tausend Jahre Fresse halten“) sie trotz der Gnade der späten Geburt für Angriffskrieg und Holocaust tragen.
    A propos Kinder: Die Zukunft sieht eigentlich gar nicht so übel, also biodeutsch, aus:
    „… ist die jährliche Zahl der Zuwanderer größer als die Zahl der in Deutschland geborenen Kinder. Als Konsequenz schrumpft der Anteil der ansässigen Bevölkerung permanent, während die Anzahl Zuwanderer weiterhin wächst, auch durch ihre positivere Geburtenbilanz. In vielen Großstädten liegt der Migrantenanteil mittlerweile über der 50 %-Schwelle, was aufgrund des neuen Staatsangehörigkeitsrechts von Januar 2000 in der amtlichen Statistik nicht sichtbar wird, da in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern auch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.“ Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Demografischer_Wandel_in_Deutschland.
    Das Traditions-Problem dürfte sich also von selbst lösen …
    Hindenburg die Ehrenbürgerschaft aberkennen? Unbedingt. Endlich kümmert sich die Opposition um die wirklich wichtigen Dinge. Man sehe sich bloß an, wer noch so alles Ehrenbürger in deutschen Städten ist. In z.B. Hamburg sind neben besagtem Hindenburg auch noch NS- Vorbilder und Wegbereiter wie der Ultra-Militarist Blücher und der Obermacho, Junker-Sympathisant und Sozialistengesetz- Bismarck Ehrenbürger. Da harren bundesweit noch viele Ehrenbürgerschaften, Denkmäler und Straßennamen, die es zu schleifen gilt.
    „Wer die Lügen anderer Zeiten mit Verachtung entlarvt, lässt sich immer von denen seiner Zeit täuschen.“ N. Gomez-Davila

    Und Sie sind noch nicht in der AfD? Mit der Einstellung gehören Sie unbedingt da rein. – Sie müssen mich übrigens nicht von einer „Mitschuld“ freisprechen. Die trage ich natürlich nicht. Aber die StGB-Schuld ist etwas grundsätzlich anderes als die moralische, durchaus tradierbare Schuld. Wenn Ihnen das partout nicht einleuchtet, möchte ich Sie bitten, das Kommentieren meiner deutschunfreundlichen Glossen vorläufig zu unterlassen, Sie verschwenden bloß Ihre Zeit. Lesen Sie besser Mark Mazowers „Hitlers Imperium“. Das lehrt eine Demut vor der Geschichte, die Ihnen abgeht, wie ich fürchte. – Ach, den hier von Gomez-Davila kennen Sie doch sicher auch, oder: „Wenn man sagt, jemand ‚gehöre seiner Zeit‘ an, sagt man lediglich, daß er mit der Mehrheit der Trottel in einem bestimmten Moment übereinstimmt.“ – KS

  2. 2

    „Es fand in Westdeutschland nie eine echte Abrechnung mit den abermillionen Tätern des Dritten Reichs statt; auch in der DDR nicht.“
    Wer hätte das denn machen sollen? Die abermillionen Mitläufer? Oder die paar hundert Widerständler?

    Das sind Fragen von jener Art, die mich reizt, Kommentare nicht freizuschalten. Nun, dieses Mal dürfen Sie sich hier noch outen. Gelbe Karte. KS

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