Donnerstag, 2. Mai 2013 14:15
Die Mehrheit stellen in jedem Kollektiv die Arschlöcher.
Hermann L. Gremliza, Konkret 4/2013
Es ist nichts Besonderes, eine Meinung zu haben. Jeder Mensch hat eine, manchmal sogar eine eigene. Leider neigen Menschen dazu, ihre Meinung für etwas Letztgültiges zu halten. Dabei ignorieren sie, daß unter dem Druck der äußeren Umstände nichts sich schneller ändert als die Meinung. Karl Marx hat das als erster erkannt und prägend benannt: „Das Sein bestimmt das Bewußtsein.“ So wandelt sich der Maoist auf der Suche nach einem Auskommen zum Chefredakteur der Welt und der Rechtsanwalt, dem antizionistische linke Meuchelmörder als Mandanten ausbleiben, zum Advokaten judenhassender rechter Totschläger.
—Bevor das Internet Karriere machte, war die Veröffentlichung einer Meinung Wenigen vorbehalten. So schimmerte um den Leitartikler, ganz gleich, ob man ihn verehrte oder verachtete, der Nimbus von Auserwähltheit, erglänzte die Meinung, die er zwischen Frühkonferenz und Druckabgabe aus sich preßte, im Schein von Bedeutung. Intellektuelle Brillanz störte dabei eher; der Leser wird nicht gern überfordert und möchte das Gefühl nicht missen, es sowieso besser zu wissen als der Autor. Je schiefer die Metapher, je trivialer die Reflexion, je opportunistischer die Moral, desto wohler fühlte das Publikum sich mit dem Leitartikel. Der heimliche Traum aller treuen Abonnenten war es von jeher, die Stelle des Vorbeters einzunehmen und die Gemeinde „Ja“ und „amen“ sagen zu hören, wenn sie losplärrten: „Rem publicam hab ich stets im Sinn. Man weiss es ja, dass ich ein codex bin. / Alt und jung ruft mir zum Preise, ich bin Saardams größtes Licht.“ Um sich so „klug und weise“ zu fühlen wie der Bürgermeister in Lortzings „Zar und Zimmermann“, setzte der Leser gelegentlich einen Brief auf; aber was der Durchschnittsdepp ergoß, schaffte es so gut wie nie in die kostbaren Spalten.
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