Aphone Aphorismen (7): Mein ganzes Herz

Montag, 3. Juni 2013 21:29

Das größte Mysterium des Frischverliebtseins ist die Begeisterung für Kitsch gleich welcher Art. Wiewohl die Liebenden, sofern sie halbwegs gebildet sind, die Plumpheit und Effekthascherei der Kitschobjekte durchaus durchschauen, erliegen sie dem Geplärr des Schlagers, den Saccharinfarben des Nippes, den Schmachtblicken der Schmierenschauspieler voll Seligkeit und Wonne. Zieht freilich der Rausch vorbei, bezahlt das Liebespaar fürs blendende Glück mit Schamgefühlen aller Art und gerät in die erste große Krise. Denn nun fragt sich auch, ob das Gefühl füreinander gleichfalls ein Riesenkitsch ist. Das läßt sich nicht ausschließen. Wer aber nie ein Rummelplatz-Souvenir für das Schönste hielt, was ihm je zu Gesicht kam, der hat niemals geliebt.

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Aphone Aphorismen (6): Jedes Los gewinnt

Sonntag, 2. Juni 2013 22:37

Gelegentlich hat es den Anschein, als gäbe es nur mehr zwei Sorten von Kindern: Solche, die in Not verwahrlosen, und jene, die in Liebe überwacht werden. Während die einen keine Regeln mehr lernen außer der obersten der Warenwelt – wer nichts hat, bekommt auch nichts –, ist im Leben der anderen alles geregelt. Keinen Schritt können sie tun, der nicht vorgeplant, kommentiert, photographiert würde. Beim Besuch eines Jahrmarkts im reichsten Bezirk der reichsten Stadt Europas wird das zuckerwattierte Elend der rundum behüteten Kinder offenbar. Am Autoscooter drängeln sich ihre Eltern und Großeltern, um nur ja keinen Juchz- oder Wehblök der goldenen Kälber zu verpassen. Daß der Rummelplatz für Kinder über zehn Jahre ein Reservat sein müßte, wo niemand ihnen reinquatscht, ignorieren die Alten komplett.

Das Taschengeld zweckfrei auf den Kopf hauen für Süßigkeiten, Schießstand, Losbude, Kettenkarussell und natürlich den chaotischen Autoscooter, bis es dem Kind selbst zuviel wird, bis es den Betrug erkennt, der hinter den Sensationen der Kirmes steckt, bis ihm buchstäblich schlecht wird … Es war für den Präpubertierenden einst das größte Glück und die bitterste Desillusionierung. Anfänglich das mühsam zusammengeklaubte Klimpergeld verwaltend wie ein Pfeffersack, zum Schluß wie ein Nabob verjubelnd, von fern den Lärm der Lautsprechermusik und der kreischenden Altersgenossen wie eine Verheißung erlauschend, mittendrin vor Krach komplett den Verstand verlierend und wieder von fern die Geräusche des Jahrmarkts wie Hohnlaute hörend: Das ist nicht die schlechteste Lehre gewesen über die Hohlheit des Konsums und die Kürze erkauften Glücks. Die spätestkapitalistische Bourgeoisie allerdings möchte den Erfolg der Nachkunft mit solcher Vehemenz erzwingen, daß sie der Brut alles, was den Zieleinlauf gefährden könnte, vom Leib hält, besonders das Risiko, am Sinn jenes Erfolgs zu zweifeln.

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Aphone Aphorismen (5): Nichts wie weg

Samstag, 1. Juni 2013 19:48

Menschenleere Wege sind in der Großstadt am Tag so rar, daß der Flaneur sich nicht recht entscheiden mag, ob er sie benutzen möchte. Einerseits lockt die Aussicht, abseits des üblichen Gewimmels zu wandern und sich dabei ein bißchen wie Marco Polo zu fühlen. Die Propaganda des Boulevards hat andererseits eingeschärft, überall Gewalt zu fürchten. Nicht daß man sich von dergleichen bange machen ließe. Eher schreckt die Vorstellung, drauflos zu laufen und auf halber Strecke Artgenossen zu begegnen, die die Illusion eines Abenteuers zerstören. So bleibt dem Einwohner der Metropole, der was erleben will, bloß die Wahl zwischen zwei Arten der Enttäuschung: Der, die ihm seine Skepsis vorab verschafft, und jener, die ihm die Mitbürger etwas später antun werden. Vielleicht wirken Spaziergänger am Sonntag in ihren Jack-Wolfskin-Jacken deshalb noch verdrossener als unter der Woche auf dem Weg zur Arbeit. Eine Zivilisation ohne Zivilisation: die Utopie schlechthin.

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Aphone Aphorismen (4): Worte verlieren

Freitag, 31. Mai 2013 23:21

An den Fluß gehen und eine Flaschenpost hineinwerfen, die man an sich selbst adressiert hat: Das dürfte das Merkmal großer Dichtung sein in einer Zeit, die erstickt unter der Last des Gedruckten und Gebloggten, die vor lauter Ansprache taub ist, die ihre entsetzliche Flüchtigkeit durch die Verschriftlichung noch des dümmsten Mumpitz zu bannen versucht. Versänke die Flaschenpost auf ihrem Weg vom Absender zum Absender, käme die Menschheit vielleicht um ein millenares Meisterstück. Aber welch ein heroischer Untergang das wäre! Zu dichten, ohne je einen Leser zu finden, ist selbstverständlich keine Heldentat, sondern der Normalfall. Aber das Risiko, nie gelesen zu werden, mit großer Geste herausfordern, es der Gefahr vorziehen, vom falschen Publikum belästigt zu werden: Das hat Stil. Und den muß einer schon besitzen, wenn er das Schreiben ernsthaft betreibt.

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Aphone Aphorismen (3): Ozymandias gewidmet

Donnerstag, 30. Mai 2013 23:00

Eventuell besteht das letzte Problem, das der Kunst zu lösen bleibt, darin, einen Müllhaufen schön aussehen zu lassen. Und zwar nicht, indem sie den Unrat so lange arrangiert und ausleuchtet, bis er sich in ein Objet trouvé verwandelt, sondern indem sie ihn nimmt, wie er ist. Keine Romantik, kein Pathos, keine Provokation: Das hatten wir alles schon, und der Erkenntniswert hielt sich in Grenzen. Die Spezies legt höchsten Wert darauf, Spuren im Kosmos zu hinterlassen, dafür hat sie sich Kultur und Kunst angeschafft. Doch wenn die Menschheit irgendwann verschwunden ist, wird nichts von ihr bleiben als die Verwüstung, die sie global betrieben hat, eine Vernichtungsorgie, die zuletzt auch gegen alles sich richten dürfte, was die Schöpfungskraft der Spezies dokumentiert.

Einzig dieses Weltkulturerbe wird Jahrmillionen überstehen: Niemals kann die Ökosphäre der Erde sich erholen von unserem Talent zum Zermalmen und Zerstören. Der Genpool des Planeten für immer kastriert und defekt, die Ozeane stinkende Kloaken, die Kontinente überzogen mit Schutthaufen und radioaktiven Wüsten – ein ordentliches Spektrometer dürfte noch am anderen Ende des Spiralarms offenbaren, welchen Eifer, wieviel Ingenium wir entfesselt haben, um die Erde nach unserem Bilde zuzurichten. Aber von uns wird niemand mehr da sein, um dies gewaltigste Zeugnis menschlichen Strebens zu würdigen. Darum tut eine Kunst not, die sich dem Müll anverwandelt, die heute schon in Schönheit das beispiellos Häßliche zeigt, das die Spezies um Äonen überdauern wird. Aber wer könnte solche Kunst ansehen, ohne dabei allein Müll zu erblicken und sich entsetzt abzuwenden? Und vielleicht ist der Dreck, der rasend, planlos, fern jedes ästhetischen Strebens produzierte Dreck bereits die Kunst, die dabei versagt, ihn darzustellen.

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Aphone Aphorismen (2): Gute Miene

Mittwoch, 29. Mai 2013 23:00

Mannigfach sind des Menschen Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Im weitesten Begriff ist alles, was er tut, kommunikativ konnotiert. Sogar eine Blähung kann ein Kommentar sein (wie umgekehrt viele Kommentare kaum mehr als Blähungen sind). Eine der markantesten, mächtigsten Botschaften ohne Worte sendet das Lächeln. Zugleich eine der mißverständlichsten. Es kann defensiv wirken, entschuldigend, zugleich herablassend, aggressiv. Wie alle mimischen Äußerungen erschließt seine Bedeutung sich allein aus der Situation, und auch die kann man mißdeuten. Für sich genommen, ohne Kenntnis des Kontextes, hat es gar nichts zu sagen, erscheint vielmehr dumm und leer. Hinzutritt die Entwertung des Lächelns durch seine Allgegenwart in Werbung, Politik und Medien.

„Kostet mich ein Lächeln“, sagen wir, um ein Kinkerlitzchen zu beschreiben. Immer schon anfällig für die Korruption durch Hehler und Heiratsschwindler, Dirnen und Demagogen, ist das Lächeln im totalen Kapitalismus vollends heruntergekommen, es hat sich verkehrt zum Zeichen der Einverstandenheit mit dem traurigen Zustand der Welt. Gewinner lächeln, Verlierer nie: Das will uns die Reklame mit ihren Grienvisagen mitteilen. Wer also widerständig sich verhalten will, am blutigen Tisch der Sieger nicht sitzen möchte, der macht nicht mit beim Lächeln um jeden Preis. Buddhisten glauben, es stünde über der Welt, wer über sie lächeln kann. Um so weit zu kommen, muß man freilich das Lächeln erst mal verlernen, weiß der Dialektiker.

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Aphone Aphorismen (1): Schall und Rauch

Dienstag, 28. Mai 2013 23:37

Durch Zwielicht und Regenluft den Katzenstieg passiert. Vor mir ein Hund mit Menschen-
anhang, hinter mir ebenso. In Ahorn und Buche tönt Wettgesang der Amseln. Doch nirgendwo: eine Katze. Ist dergleichen Irreführung mit Namen in dieser Welt der Schwindeletiketten nicht längst die Norm? War je schon jemand im Entsorgungspark sorglos? Wo wurde auch nur ein Mal Energie erneuert, die Entropie widerlegend? Fließt aus den Alpen Milch? Paßt ein Tiger in den Tank? Wer hat eine Augenklappe bei den Piraten? Was wäre, bitteschön, engelhaft an Angela (Merkel)? Sah man irgendwann ein Schiff vertäut am Kay? Was Wunder, daß Katzen prinzipiell nicht auf die Namen hören, die wir ihnen geben.

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Daniel Bahr muß jetzt ganz tapfer sein

Sonntag, 12. Mai 2013 19:28

Busfahren ist nicht nur gut fürs Klima, sondern bisweilen auch lehrreich. Am Freitagabend sitze ich mit meinen Einkaufstüten voller, wie heißt das heutzutage? Nährmittel? – und ziemlich schlaff im Bus nach Hause. Es chauffiert eine Frau um die 40, die einen gewissen ruppigen Charme ausstrahlt, wie ich alter Proletenkultist ihn außerordentlich zu schätzen weiß. Hinter ihr steht eine etwas ältere Frau; eine Kollegin auf dem Weg in den Feierabend, was ich dank meiner übermenschlichen Kombinationsgabe aus einem Nebensatz („die Linie hier möcht‘ ich auch mal haben – so schön ruhig“) entnehme.

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