Zur Aktualität von Karl Kraus

Donnerstag, 4. August 2022 21:26


Wohnung des darbenden Bürgers

D i e  M u t t e r : Ziagts z’haus die Sandalen aus, man hört sein eigenes Wort nicht !

E i n  K i n d : Mutter, gibt’s heut wieder nix z’ essen ?

D i e  M u t t e r : Du frecher Bub, ich werd dir lehren – (sie will auf ihn losgehen. Es läutet.) Das is der Vater ! Er hat sich angstellt, hoffentlich –

(Man hört das Klappern von Sandalen. Der Vater erscheint in der Tür.)

D i e  K i n d e r : Vater, Brot !

D e r  V a t e r : Kinder, Rußland verhungert !


Die letzten Tage der Menschheit [1919], IV. Akt, 9. Szene

Photo: „Europe Boardman Robinson“,
by Boardman Robinson
[Public domain],
via Wikimedia Commons

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γνῶθι σεαυτόν

Sonntag, 24. Juli 2022 0:04


Was ich nimmer lernen werde
in der Zeit auf dieser Erde –
Skisprung Eistanz Dribbeln Segeln
oder Hummeressensregeln –

– Schornsteinfegen Gipfelstürmen
Schwindelfreiheit auf den Türmen
Hundertfünfzigkiloheben
oder Untermfallschirmschweben –

– Harfe Flöte Violine
immer eine gute Miene
nett zu Menschen wie zu Tieren
Zenbuddhismus ausprobieren –

– Alles was ich nimmer knacke
und nicht mal im Traume packe
wird mit jedem Jahre mehr.
Auch als Neunundfünfziger

Hab ich reichlich Illusionen
will ein Schloß aus Luft bewohnen
doch die Luft wird dünn und dünner
für mich unerwachsnen Spinner.

Letztlich zählt nur was es gibt:
daß Martina mich noch liebt.

Abteilung: Lieder ohne Werte, Selbstbespiegelung | Kommentare (4)

Zeuge der Geschichte (28)

Donnerstag, 21. Juli 2022 22:21


Als ich vom finalen Platzverweis des Fußballhelden Uwe Seeler
erfuhr, wußte ich sofort: Mein HSV ist Geschichte.

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Von den Jammerlappen

Montag, 18. Juli 2022 23:39

Die ursprüngliche Version dieses Blogposts enthielt zwei sachliche Fehler, die jetzt beseitigt sind. Ich danke den Hinweisgebern.
KS, 21.7.22

Was machen Hochstapler, die auf frischer Tat ertappt werden? Sie stapeln noch höher, in der sinistren Hoffnung, daß die Opfer ihres Blendwerks mit den Beschwerden nicht hinterherkommen. Die Verfasser und Unterzeichner des Offenen Schmierlappens gegen KONKRET sind zwar der planvollen Falschspielerei überführt, aber weil sie sich einbilden, die Wahrheit gepachtet zu haben, ficht sie eine Blamage vor aller Augen nicht weiter an. In ihrer Wirklichkeit gibt es nämlich keine handfesten Fakten, sondern bloß Vorstellungen und keine Welt außerhalb ihrer Hirngespinste. 

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Abteilung: Sokolowsky anderswo, Undichte Denker | Kommentare (5)

Pastiorale

Donnerstag, 14. Juli 2022 23:52


Ein Kind und ein Wind, ein Jammer in der Nacht
Ein Mond zwischen den Wipfeln, den Wolken in der Nacht
Ein Wischen und Rauschen, ein Rascheln in der Nacht
Ein Husten und Kratzen, ein Krächzen in der Nacht

Eine Idee in der Nacht
Ein Blödsinn in der Nacht
Eine Angst in der Nacht
Ein Alb in der Nacht

Gute Nacht
Bis morgen

Abteilung: Lieder ohne Werte, Round midnight, Unerhört nichtig | Kommentare (0)

The Web(b) of Cosmos

Mittwoch, 13. Juli 2022 0:13


Fast sieben Monate lang habe ich auf diese Bilder gewartet, ungeduldig wie ein Kind vor der Bescherung, las jeden Tagesbericht über den Fortschritt der Mission, hatte stets Angst vor einer Panne bei dieser wahrhaft monumentalen technischen Herausforderung, war immer wieder begeistert von der Ingeniosität, Präzision und Geschmeidigkeit, mit der sich alles – buchstäblich – entfaltete. Und dann kam der Tag, und ich wußte: Dies war das Warten tausendfach wert. Dies ist endlich mal wieder ein Grund, auf die Menschheit stolz zu sein, auf ihr Potenzial zu höheren Dingen als dem Führen von Kriegen, der Verwüstung der Biosphäre oder dem Schreiben Offener Briefe. Dies ist ein welthistorischer Moment, der den Namen verdient.

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Abteilung: Gute Nachrichten, Round midnight | Kommentare (7)

Von den Schmierlappen

Samstag, 2. Juli 2022 14:55

Offener Brief (Symbolbild)

Ein Autor, der gern austeilt, muß auch einstecken können und sollte sich nicht beklagen, wenn seinen harschen Ansichten barsch widersprochen wird. Natürlich erfahre ich lieber Anerkennung als Ablehnung meiner Texte, und auch mit demnächst 59 Jahren ist meine Eitelkeit groß und sofort angeschrammt, wenn jemand mein Zeugs nicht mag. Am schlimmsten aber trifft mein Ego die Kritik, die zutrifft. Weist ein aufmerksamer Leser, eine kluge Leserin auf einen groben Fehler in der Sache, dem Stil oder der Grammatik hin, beschäftigt mich das tagelang. Und manchmal lerne ich sogar daraus.

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Abteilung: Sokolowsky anderswo, Undichte Denker | Kommentare (18)

Leert eure goldenen Becher zu Grund

Mittwoch, 29. Juni 2022 12:55

„Dunkel“, singt Mahlers „Lied von der Erde“, „ist das Leben“. Und wie dunkel zumal jetzt. Hätten nämlich das Schicksal und der Gott, den es nicht gibt, es gut mit ihm gemeint, wäre der einzigartige Dichter, Tonkünstler, Graphiker und Weltbetrachter Ror Wolf heute 90 Jahre alt geworden, und ich ließe es mir nicht nehmen, ihm – in welchem Rahmen auch immer – zu gratulieren.

Wie arg dieser sehr große Mann, dieses Genie, diese Ausnahmeerscheinung der deutschsprachigen Literatur fehlt, wie sehr ich den Meister und Freund vermisse: Darüber schreibe ich im Juliheft von KONKRET ausführlich. Weit schöner und erheblicher freilich ist der Beitrag des Verlags Schöffling & Co. zum Wolf-Jubiläum.

Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie öffnet in das Herz und die Seele Ror Wolfs einen Blick, der mich bei der Lektüre immer wieder vor Schmerz und Glück seufzen ließ (auch darüber mehr in KONKRET). Ich hänge mich bestimmt nicht aus dem Fenster, wenn ich feststelle: Dies ist die bedeutendste literarische Entdeckung des Jahres, eine Sensation, eine Fundgrube, ein schieres Wunder an Selbstbeobachtung, Lebenserörterung und Sprachkunst.

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Abteilung: Litterarische Lustbarkeiten, Per sempre addio, Sokolowsky anderswo | Kommentare (1)